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Das Leiden hat einen Namen

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(Erika Müller)

Wie weiter?

Meine Vermutung wurde bestätigt. Es brachte Erleichterung, das Leiden von Dominic mit einem Namen benennen zu können. Gleichzeitig war es jedoch auch ein Schock, zu erfahren, dass unser Kind nicht gesund, sondern sogar unheilbar beeinträchtigt ist. Wir Eltern mussten das erst einmal verdauen. Ratlosigkeit und Trauer vermischten sich miteinander, die Nächte des Nachdenkens waren nach der Diagnosestellung lang und quälend. Irgendwann mussten wir jedoch die Entscheidung treffen, uns neu zu motivieren, um die große Herausforderung, ein Kind mit einer Beeinträchtigung zu haben, anzupacken. Wir wollten uns nicht durch Elend und Resignation demotivieren lassen.

Ich deckte mich kurz nach der Diagnosestellung „frühkindlicher Autismus“ mit Büchern über Autismus ein, um wenigstens rudimentär zu verstehen, was im Kopf von Dominic geschieht. Mein Mann nahm sich dem administrativen Teil an, was bis zum heutigen Zeitpunkt genauso viel Energie abverlangt, wie einen autistischen Menschen zu fördern. Ich danke meinem Mann herzlich für all die Unterstützung, die er mir und der ganzen Familie unermüdlich bietet.

„Autismus Schweiz“ organisiert regelmäßig Tagungen in Zürich. Wir lernten dort betroffene Eltern kennen, dadurch fühlten wir uns nicht mehr so alleine und hilflos. Wir schlossen uns einer Elterngruppe an, die sich sehr intensiv mit Autismus beschäftigte und sich weltweit informierte über neue Erkenntnisse zu diesem Krankheitsbild. Als Eltern waren wir in der Gruppe stets auf der Suche nach Hilfe für unsere Kinder. Beispielsweise war die gluten- und laktosefreie Diät sowie Nahrungsergänzungsmittel ein Thema. Wir haben vieles versucht, bei Dominic konnte ich bei all diesen gut gemeinten Versuchen keine wesentliche Veränderung im Verhalten feststellen.

Im Alter von vier Jahren suchten wir für Dominic einen Platz in einer Behinderteninstitution. Durch den stets stressigen Alltag war ich über diese Entlastung sehr froh. Ich hatte den Eindruck, dass er gerne in diese Institution ging. Der geregelte Tagesablauf vermittelte ihm Orientierung und Sicherheit.

Ich besuchte auch einen Workshop für Gestützte Kommunikation4. Dies bedeutete für mich eine weitere Hoffnung, eine Verbindung mit Dominic aufnehmen zu können. Eine betroffene Mutter aus der Elterngruppe zeigte mir auf, wie ich meinem Sohn möglichst viel Unterstützung geben könnte.

Wie es das Schicksal wieder mal einrichtete, hatten wir im Winter 1999 einen großen Schneefall, dass wir in Grindelwald wegen erhöhter Lawinengefahr eine Woche von der Außenwelt abgeschnitten waren. Dies bedeutete, dass Dominic nicht in die Behinderteninstitution gehen konnte. Er war zu dieser Zeit fünf Jahre alt. Nun wollte ich endlich wissen, ob Dominic nebst Autismus auch eine geistige Beeinträchtigung hatte. Also verkroch ich mich zusammen mit Dominic nahezu eine ganze Woche lang in seinem Zimmer. Ich hatte mir fest vorgenommen, mein Ziel zu erreichen. Dominic sträubte sich anfangs sehr energievoll und lautstark, sich zu mir hinzusetzen, geschweige denn neben mir sitzen zu bleiben. Bereits dieses Vorhaben dauerte Stunden. Ich vermute, dass er meinen festen Willen, mein Ziel zu erreichen, gespürt hat. Irgendwann wurde sein Widerstand gebrochen. Ich kommunizierte ihm meinen Willen die ganze Zeit über, ohne dass ich wusste, ob er meine Worte verstehen konnte. Im ersten Schritt brachte ich ihm das Zeigen auf Dinge bei. Wichtig ist bei autistischen Menschen, dass sie klar vermittelt bekommen, was ihre Aufgabe ist. Es dürfen keinesfalls zwei Aufträge zugleich gegeben werden. Mehrere Anforderungen zur gleichen Zeit lösen große Verwirrungen aus, in Folge wäre eine Kooperation unmöglich.

Für mein Vorhaben hatte ich mir einen Lernschreibkoffer für Kinder gekauft. Die einzelnen Buchstaben des ABC waren auf magnetische Holzklötze geschrieben. Dazu gab es Tafeln mit Magnetstreifen, damit die Buchstabenklötze nicht verrutschten. Auf dem Magnetstreifen waren diverse Namen bereits vorgeschrieben. Zu diesen Namen gehörten Holzklötze mit entsprechend passender Zeichnung. Ich klemmte mir Dominic zwischen die Beine, legte seine Hand in meine geöffnete Hand und zeigte mit ihm zusammen auf einen Holzklotz, auf welchem ein Baum abgebildet war, und sprach ihm das Wort „Baum“ vor. Wir übten immer wieder dasselbe, bis er zu begreifen begann, was ich von ihm wollte, wenn ich „zeig Baum“ sagte.

Als ich merkte, dass er sich gut führen ließ, war der nächste Schritt, meine Führung zurückzunehmen und ihn aus eigener Initiative führen zu lassen. Das heißt, er übernimmt die Führung des Zeigens, ich gebe dabei ganz sanften Rückzug mit dem Arm. Das übten wir so lange, bis diese Bewegung der Eigeninitiative stark genug war. Ich übte mit ihm weitere Zeichnungen. Mir war es wichtig, dass er den Ablauf „Zeigen“ verstand. Ob er die Bedeutung der Namen kannte, wusste ich nicht. Die Stunden vergingen wie im Flug. Dominic verweigerte die Zusammenarbeit immer wieder, und ich brauchte sämtliche Energie der Welt, um nicht zu resignieren.

Im nächsten Schritt sollte Dominic die vorgegebenen Wörter mit Buchstabenklötzen nachschreiben oder wir schrieben den Namen passend zum Bild auf dem Klötzchen. Mit der Zeit merkte ich, dass Dominic nicht geistig behindert ist. Bald schrieb ich ihm Fragen auf über unsere Familie, zum Beispiel: Wie heißt du? Darunter zwei Auswahlantworten: „ich heiße Dominic“ sowie „ich heiße Hans“. Das musste wiederum mühsam geübt werden, bis Dominic begriff, was er tun sollte. Dies waren unsere Anfänge mit der Gestützten Kommunikation. Als wir diese erste Hürde genommen hatten, versuchte ich im nächsten Schritt, mit ihm zu schreiben. Das brauchte nochmals einen ungeheuren Energieschub von mir, damit er auch für diese Arbeit bereit sein konnte.

Es dauerte mehrere Jahre, bis Dominic sich mittels der Gestützten Kommunikation so ausdrücken konnte, wie er es heute tut. Dominic schreibt jetzt mühelos mit mir, seit achtzehn Jahren. Wenn eine neue Person mit ihm schreiben möchte, braucht diejenige Person stets viel Ausdauer und den festen Willen, es mit ihm zu schaffen. Um ganz persönliche Angelegenheiten mit ihm zu besprechen, benötigt es unglaublich viel Zeit, viel Übung und viel starken Willen von der stützenden Person. Ich bin heute überglücklich, die Gestützte Kommunikation kennengelernt zu haben, um dadurch mit Dominic kommunizieren zu können. Es ist so wertvoll für jeden Menschen, sich mitteilen zu können. Die Methode der Mitteilung ist dabei egal, Hauptsache, Kommunikation ist möglich.

Ich bin so wie ich bin

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