Читать книгу Das kulinarische Erbe der Alpen - Enzyklopädie der alpinen Delikatessen - Dominik Flammer - Страница 5
ОглавлениеSieben Jahre in den Alpen
Von Hundsärschen und Hasenöhrchen, von Schafsmäulern und Saubürzeln
Viele verdrängte, vergessene und verschollen geglaubte Delikatessen sind in dieser Enzyklopädie zu entdecken, aber auch viele weitverbreitete, wundervolle und wegweisende Produkte und Speisen. Als Fortsetzung unserer beiden Bücher über das kulinarische Erbe der Alpen wollen wir diese Fundgrube, für die wir sieben Jahre lang den ganzen Alpenraum bereist haben, mit allen teilen, die wir für die Geschichte unserer Ernährung und den mit ihr verbundenen Reichtum begeistern können. Als handlicher Führer soll diese Enzyklopädie vor allem aber all jenen innovativen und leidenschaftlichen Produzenten eine nachhaltige Plattform bieten, in deren Händen die Zukunft unserer Ernährungsvielfalt liegt.
Eine Vielfalt, deren Ursprung zwar weit in der Vergangenheit zu suchen ist, deren Verbreitung und Weiterentwicklung aber in erster Linie dem Aufstieg der Naturwissenschaften, technischen Errungenschaften und der Revolutionierung der Landwirtschaft zu verdanken ist. Denn die Geschichte der grossen Mehrheit der in diesem Buch beschriebenen Produkte beginnt erst in der Neuzeit. So wie aus den Kartoffelknollen aus der Neuen Welt in den Tälern der Alpen neue Sorten entstanden sind, so haben Gärtnerinnen, Bauern, Züchter und Tüftler auch aus den einheimischen Gewächsen durch sorgfältige Selektion und mit viel Geduld neue Gemüse entwickelt, neue Obstsorten herangezogen und Tiere zu neuen Rassen eingekreuzt. Müller, Bäcker und Konditoren haben über Jahrhunderte die Herstellungsprozesse der Brote und Gebäcke weiterentwickelt, Hirten und Käser die Verarbeitung der Milch perfektioniert, Viehzüchter und Metzger die Veredelung des Fleisches vorangetrieben und Köchinnen und Gastronomen die Kombination der Zutaten immer und immer wieder neu ausgetestet. Was sie alle hoffentlich auch in Zukunft weiterhin tun werden. Neue Sorten wird es auch künftig geben, so wie neue Tierrassen, neue Geschmackskombinationen und neue Speisen. Doch bei aller Freude am Fortschritt darf man nicht vergessen, dass dies nur möglich sein wird, wenn wir alles daran setzen, die alte Vielfalt auch zu erhalten. Oder vereinfacht gesagt: Ohne alte Apfelsorten entsteht kein neuer Apfel.
Das ist auch der Grund, weshalb wir in diesem Buch einerseits essbare Wildpflanzen beschreiben, die der Mensch schon vor Tausenden von Jahren genutzt hat. Oder Getreide und Gemüse, die schon seit Menschengedenken angebaut werden. Aber anderseits auch Früchte, Würste, Käsesorten oder Gebäcke, die selbst unsere Grosseltern noch nicht gekannt haben, da sie erst in den letzten Jahrzehnten entstanden sind oder entwickelt wurden. Denn hätte der Bauer wirklich immer nur das gefressen, was er kannte, würden wir heute noch fade Hafersuppe schlürfen und an besseren Tagen vielleicht an zähem, talgigem Rindfleisch aus dem Rauchfang nagen. Und dennoch halten wir es im Grundsatz mit dem Bauernsprichwort: Erst wenn wir kennen, was wir essen, können wir es auch geniessen.
Deshalb sind in diesem Buch all die Produkte drin, die der Bauer früher kannte, aber auch all jene, die er kennen und schätzen gelernt hat. Und selbstverständlich auch jene, von denen er – aus was für Gründen auch immer – irgendwann nichts mehr wissen wollte. Wie etwa vom Knoblauchhederich, der wohl ältesten einheimischen Gewürzpflanze des Alpenraums. Ein Kraut, das noch im 19. Jahrhundert auf vielen Höfen angebaut wurde, das man heute aber fast ausschliesslich wildwachsend findet. Ein würziges Kohlgewächs, das erst in den vergangenen Jahren wiederentdeckt wurde und mittlerweile wieder vielseitig verwendet wird. Ebenso wie all die in der Erde schlummernden und essbaren Wurzeln und Knollen, die nach der Ankunft der Kartoffel ab dem 18. und 19. Jahrhundert vom Acker und aus der Küche verschwunden sind: die Kerbelrübe wie auch die Schinkenwurz, die wiederentdeckte Topinambur ebenso wie der als Erdkastanie bezeichnete Knollenkümmel oder der früher als Schweinerübe bekannte Sumpfziest.
Noch deutlicher zeigt sich aber die Vielfalt des Alpenraums bei jenen Lebensmitteln, auf die der Bauer nie verzichten konnte. Wie etwa beim Obst. Kaum eine Gegend, in der in den vergangenen zwei bis drei Jahrhunderten nicht eigenständige, charaktervolle Birnen- oder Apfelsorten herangezüchtet wurden – oder die als Zufallssämlinge entstanden sind. Früchte, die als Most-, Dörr- oder Brennobst heute wieder sortenrein vermarktet werden und die das Angebot an regionalen Delikatessen mehr als bereichert haben. Dazu gehören etwa die kleinen, eingelegten Poires à Botzi aus dem Schweizer Kanton Freiburg, die Hirsch(t)birnen aus der Steiermark, die Palabirne aus dem Südtirol, die Innerschweizer Theilersbirne oder die Poire Sarteau, eine traditionelle Marmeladenbirne aus den Alpes-de-Haute-Provence. Und bei den Äpfeln stehen etwa der österreichische Brünnerling, der Schweizer Sauergrauech, der Lavantaler Bananenapfel oder der Tiroler Spitzlederer für die neu entdeckte Obstvielfalt. Jede dieser Früchte erzählt wieder eine andere Geschichte.
Weit grösser ist das Angebot an Früchten und Sorten, als wir mit diesem Werk aufzeigen können. Ausgewählt haben wir deshalb viele von jenen, die für innovative Produzenten spannend sind und die ihnen in der sich weiter globalisierenden Landwirtschaft eine Zukunft bieten. Weil sie sich als Nischenprodukte auch in einer leistungsorientierten Agrarwirtschaft behaupten können.
Eine üppige Vielfalt bietet diese Enzyklopädie auch bei den wiederentdeckten Getreiden, ihren regionalen Varietäten und den wiederentdeckten Traditionszerealien: Linthmais ist dabei und Tauernroggen, Schwarzhafer oder Nackthirse, aber auch Emmer, Einkorn oder Dinkel. Und dass diese ursprünglichen Musgetreide oft mit Gemüse zusammen kombiniert wurden, das im Alpenraum schon immer eine zentrale Rolle in der Ernährung gespielt hat, zeigen auch die unzähligen Sorten an Weisskohl, Rüben, Kartoffeln oder Zwiebeln bis hin zu den stark aus dem norditalienischen Raum beeinflussten Salatpflanzen. Oder kennen Sie den Radicchio rosa di Gorizia, den wildwachsenden Radic di Mont aus dem Friaul oder den von italienischen Immigranten gezüchteteten Batavia rouge grenobloise aus den französischen Westalpen? Oder aus der gleichen Gegend die ausgezeichnete Marmeladenzwiebel «Jaune de Savoie», der nur die Höri-Bülle von der deutschen Halbinsel Höri am Bodensee das Wasser reichen kann? Umfangreich sind heute die Standardwerke allein über Früchte und Gemüse, die beispielsweise von Organisationen wie der österreichischen Arche Noah oder den schweizerischen Vereinigungen Pro Specie Rara und Fructus sowie den zahlreichen Convivien der Slow-Food-Bewegung publiziert worden sind. Wer sich allein mit Früchten oder mit Gemüse und ihrer unglaublichen Vielfalt beschäftigen will, dem seien die umfangreichen Bücher wie das «Lexikon der alten Gemüsesorten» (AT-Verlag 2014), «Früchte, Beeren, Nüsse – Die Vielfalt der Sorten» (Haupt-Verlag 2011) oder «Handbuch Bio-Gemüse, Sortenvielfalt für den eigenen Garten» (Löwenzahn-Studienverlag 2010) wärmstens empfohlen.
Gewürze, Hülsenfrüchte und Honige, wenig bekannte Getränke wie der «Ghürotne» (eine Mischung aus saurem und süssem Most), süsse Senfe aus Bayern oder dem Schweizer Kanton Freiburg oder unzählige weitverbreitete und traditionellerweise im ganzen Alpenraum mit Anis gewürzte Produkte ergänzen die alpine und voralpine Vielfalt an urtümlichen Produkten ebenso wie seltene und regionaltypische Pflanzenöle. Wie etwa L’Olio del Garda, ein seit der Römerzeit bekanntes Olivenöl, das aus den Früchten der weltweit am nördlichsten gelegenen Olivenbäume gepresst wird. Oder das Graumohnöl aus dem österreichischen Weinviertel und das vor allem im Bio-Landbau wiederentdeckte Leindotteröl.
Umfangreich ist das Angebot auch bei den verarbeiteten Produkten, auch wenn wir uns in einigen Produktegruppen etwas zurückgehalten haben. Bei den Gerichten haben wir nur einige Handvoll übernommen und nur dann, wenn sie für die Vielfalt der im gesamten Alpenraum vorhandenen Grundzutaten stehen. Umso wichtiger ist uns eine repräsentative Auswahl spezieller und regionaltypischer Brote. Doch wollten wir alle regionalen Brote, Süssgebäcke oder Mehlspeisen des Alpenraums in all ihren noch so geringen Unterschieden beschreiben, würde dies selbst diesen enzyklopädischen Rahmen sprengen. Das bezeugt auf eindrückliche Weise etwa das allein für die Schweiz erstellte und frei zugängliche Internetarchiv über das kulinarische Erbe der Schweiz (www.kulinarischeserbe.ch). In mehrjähriger Forschungsarbeit und mit millionenschwerer Unterstützung hat ein Historikerteam für mehrsprachige Leser ein schwergewichtig umfangreiches Brot- und Guetsliarchiv erarbeitet, in dem all die Gebäcktraditionen gut die Hälfte der darin beschriebenen Produkte ausmachen.
Viel Platz nimmt in unserer Enzyklopädie insbesondere der Käse ein. Die Produktegruppe also, die wie keine andere vom starken Austausch an Viehrassen und Herstellungstechniken sowie von der ewigen Wanderschaft der Hirten, Nomaden und Landarbeiter im Alpenraum erzählt. Etwa von den ungezählten weichen und harten Käsen aus der Milch des weitverbreiteten und aus der Gegend des Innerschweizer Klosters Einsiedeln stammenden Braunviehs, das von Slowenien bis Bayern die Alpwirtschaft lange dominiert hat und heute noch von grosser Bedeutung ist. Erzählt wird von Käsen, die mit Safran gewürzt und mit Leinöl gepflegt werden, von solchen, die man mit Kümmel oder Kräutern einreibt, und von anderen, denen blauer, weisser oder grauer Schimmel ihren eigenständigen Charakter verleiht. Sie heissen Bettelmatt, Belper Knolle oder Bagòss di Bagolino, Beaufort d’alpage oder Bergfichte, Bleu du Queyras oder Büscion, um nur einen Teil all jener in diesem Buch beschriebenen Käse aufzuzählen, die allein unter dem Buchstaben B beschrieben werden.
Auch finden sich in diesem Buch die unzähligen und regional sehr unterschiedlichen Trivialnamen, die einzelne Produkte im Alpenraum über Jahrhunderte erhalten haben. Namen, die viel erzählen über die Form der Produkte, ihre Geschichte und selbst darüber, dass man ihrer gelegentlich auch überdrüssig war. Wo beispielsweise noch «Hundsärsche» gegessen werden und wo «Saubürzel» oder wo «Hasenöhrchen» und wo «Schafsmäuler», darauf verweisen die Seitenzahlen im umfangreichen Produkteverzeichnis hinten in diesem Buch ab Seite 315.
Wir sind überzeugt davon, dass die Wiederentdeckung von zig Tausenden von traditionellen und oft regional sehr unterschiedlichen Produkten und Sorten noch längst nicht abgeschlossen ist. Auch ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Auf unserer siebenjährigen Reise durch den Alpenraum haben wir Woche für Woche, wenn nicht Tag für Tag immer wieder spannende Delikatessen entdeckt, von denen jede einzelne ihre Spuren in den Koch- und Ernährungstraditionen ihrer Region hinterlassen haben. Die Gärten, Äcker, Wiesen und Wälder sowie die Vorratskammern des Alpen- und Voralpenraums bergen Schätze in sich, die erst im Ansatz gehoben worden sind. Dieses Buch soll dazu beitragen, diese Preziosen und ihre Produzenten wiederzuentdecken, so dass unser kulinarisches Erbe nicht nur in Archiven und in Erzählungen weiterlebt. Sondern auf unseren Märkten, in unseren Küchen und an unseren Tischen. Und vor allem in unseren Sinnen.
Dominik Flammer & Sylvan Müller
Vitznau und Kriens, im Oktober 2014