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2 Grundlegende Bildung als Ziel im NMG-Unterricht
ОглавлениеBildung ist eine pädagogische Aufgabe, die gerichtet ist «auf das geistige Werden junger Menschen, auf die Entwicklung der Vernunft, auf Selbstfindungsprozesse und den Aufbau von Selbstständigkeit sowie auf mögliche Lebensperspektiven, auf verständige Teilhabe an der Kultur und Zuwachs an Entfaltungsmöglichkeiten»[10]. Hans Werner Heymann konkretisiert den Bildungsbegriff mittels eines Aufgabenkatalogs, der als Grundlage für die Verortung der spezifischen Leistung eines Schulfaches zur grundlegenden Bildung zu verstehen ist. Als Aufgaben im Sinne einer Allgemeinbildung nennt Heymann: Lebensvorbereitung, Stiftung kultureller Kohärenz, Weltorientierung, Anleitung zum kritischen Vernunftgebrauch, Entfaltung von Verantwortungsbereitschaft, Einübung in Verständigung und Kooperation und Stärkung des Schüler-Ichs.[11] Nicht jedes Schulfach wird jede Teilaufgabe gleichwertig erfüllen können, jedes Fach sollte sich aber darüber Rechenschaft abgeben, zu welcher dieser Teilaufgaben es einen Beitrag leisten kann (siehe Tab. 3).
Tabelle 3 Beitrag des Fachbereichs NMG zu den Aufgaben von Bildung (nach Heymann 1997) | ||
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Teilaufgaben von Bildung nach Heymann | Leitfragen | Mögliche Beiträge NMG |
Lebensvorbereitung Die Lernenden eignen sich Qualifikationen an, die für eine vernünftige Bewältigung alltäglicher Situationen des Berufs- und Privatlebens in unserer Gesellschaft hilfreich oder unverzichtbar sind. | Welche elementaren Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten vermittelt das Fach? | Verschiedene Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen (die Welt wahrnehmen, sich die Welt erschliessen und sich darin orientieren, in der Welt handeln)[12] |
Stiftung kultureller Kohärenz Die Lernenden verstehen und erleben sich als Teil der Kultur, in der sie leben, und anerkennen andere Kulturen als gleichberechtigte Daseinsformen. | Welche zentralen kulturellen Errungenschaften thematisiert das Fach? Welche Bezüge bestehen zwischen «Fachkultur» und «Gesamtkultur»? | Verschiedene Beiträge der einzelnen fachlichen Perspektiven in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt.[13] Vielperspektivität als Zugang zu komplexen und perspektivenübergreifenden gesellschaftlichen Fragen und Problemen |
Weltorientierung [14] Die Lernenden setzen sich mit «epochaltypischen Schlüsselproblemen»[15] auseinander, die also zeitspezifisch und exemplarisch sind. | Welche Schlüsselprobleme unserer Welt werden thematisiert? Geht es im Unterricht um gesellschaftlich relevante bzw. kontroverse Themen? Werden Sinnzusammenhänge erkennbar? | «Sich in der Welt orientieren»:[16] Beiträge der einzelnen Kompetenzbereiche zu «epochaltypischen Schlüsselproblemen» wie die Umweltfrage, das rapide Bevölkerungswachstum, Chancen und Gefahren des naturwissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Fortschritts usw. |
Anleitung zum kritischen Vernunftgebrauch Die Lernenden können selbst denken und sich von Bevormundung emanzipieren. | Welche Gelegenheit bietet das Fach zum kritischen Vernunftgebrauch? | «Die Welt wahrnehmen»:[17] Kritische Auseinandersetzung mit kontroversen und komplexen gesellschaftlichen Fragen; Prinzip des Perspektivenwechsels als Grundlage für Verstehensprozesse |
Entfaltung von Verantwortungsbereitschaft Die Lernenden setzen ihre Kompetenzen verantwortungsbewusst ein zugunsten eines befriedigenden gesellschaftlichen Miteinanders. | Bietet die Art, wie mit Sachthemen und miteinander umgegangen wird, einen Rahmen für die Entfaltung von Verantwortungsbereitschaft? | «In der Welt handeln»:[18] Verstehen (Wissen und Können ermöglichen, um sich in der Welt engagieren zu können). |
Einübung in Verständigung und Kooperation Die Lernenden arbeiten zusammen in einer Atmosphäre der Toleranz, der Kompromissfähigkeit, des Interessenausgleichs, der Partizipation, der Einsicht in fremde Standpunkte. | Welche Gelegenheiten bietet das Fach zu Verständigung und Kooperation? Gibt es fachspezifische Besonderheiten, die diese fördern oder behindern? | Die Auseinandersetzung mit komplexen gesellschaftlichen Fragen und Problemen unserer Zeit erfordert die Förderung von «Eigenständigkeit, Dialogfähigkeit und Zusammenarbeit mit Blick auf ein kompetentes und zukunftsorientiertes Handeln in der Welt».[19] |
Stärkung des Schülerinnen-Ichs Die Lernenden entwickeln sich zu selbstbewussten, verantwortlichen, kritischen, sozialen, bewusst handelnden, kreativen und sinnlichen Persönlichkeiten. | Fördert das Fach die einzelnen Aspekte der Persönlichkeit? | NMG-spezifische Lernumgebungen, die z. B. befähigen, «zunehmend eigenständig und kooperativ Sachen nachzugehen, Vorhaben zu planen und darzustellen».[20] |
Sucht man nun nach dem spezifischen Beitrag des Fachbereichs NMG zu den Teilaufgaben von Bildung, ist dieser auf den ersten Blick vor allem im Bereich der «Weltorientierung» zu sehen, wo es um die vielperspektivische Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen unserer Zeit geht. Eine Möglichkeit, den Unterricht in NMG auf grundlegende und relevante Themen zu beziehen, ist die Ausrichtung auf Wolfgang Klafkis «epochaltypische Schlüsselprobleme». Klafki identifiziert sechs solcher Schlüsselprobleme: die Frage von Krieg und Frieden, die Umweltfrage oder die ökologische Frage, den rapiden Wachstum der Weltbevölkerung, die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, die Gefahren und die Chancen der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien, die Subjektivität des Einzelnen und das Phänomen der Ich-du-Beziehungen.[21] Heute sind diese Schlüsselfragen durchaus noch aktuell oder haben sich gar verschärft. Diverse Autoren und Autorinnen listen inzwischen noch weitere akute Bedrohungen auf, wie etwa ungebremste Globalisierung, nicht nachhaltige Energienutzung, Pandemien, Datenschutz, Terrorismus, Wirtschafts- und Finanzkrisen, Migration.[22] Vielperspektivische Schlüsselfragen solcher Art bilden eine besondere Herausforderung für den Unterricht in NMG. Einerseits muss der Bezug zur kindlichen Lebenswelt durch die Wahl eines geeigneten Unterrichtsthemas (z. B. in Form einer geeigneten Fragestellung) gewährleistet sein und andererseits müssen vielfältige inhaltliche Angebote und methodische Zugänge den Kindern ein vernetztes Verstehen des Problems ermöglichen. Dieser Anspruch kann zum Beispiel durch den Ansatz des «Philosophierens mit Kindern» eingelöst werden.[23]
Der Bildungsauftrag von NMG geht jedoch weit über die Teilaufgabe «Weltorientierung» hinaus, wie im Lehrplan zum Fachbereich NMG formuliert:
Im Zentrum von Natur, Mensch, Gesellschaft steht die Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit der Welt. Um sich in der Welt orientieren, diese verstehen, sie aktiv mitgestalten und in ihr verantwortungsvoll handeln zu können, erwerben und vertiefen sie grundlegendes Wissen und Können. Sie erweitern ihre Erfahrungen und entwickeln neue Interessen.[24]
Die Auseinandersetzung mit der Welt in all ihren Facetten soll die Kinder dazu befähigen, «zukünftigen Herausforderungen zu begegnen sowie Erfahrungen, Strategien und Ressourcen nachhaltig zu nutzen und ihr Handeln zu verantworten»[25]. Folgt man dieser Definition von NMG, lassen sich für alle Teilaufgaben von Heymann spezifische Beiträge finden (siehe Tab. 3). Was für den Fachbereich als Ganzes gilt, gilt für die Formulierung und Wahl des Unterrichtsthemas im Einzelnen. Ein Unterrichtsthema kann sich mithilfe von Heymanns Teilaufgaben von Bildung daraufhin überprüfen lassen, inwiefern es bildungsrelevant ist, das heisst einen Beitrag zur Allgemeinbildung beisteuert.
Wie man von einem Stichwort über die Identifizierung von Bildungsinhalten zu einem Unterrichtsthema in Form einer Fragestellung gelangt, wird in Kapitel 4 aufgegriffen und vertieft. Im folgenden Kapitel wird es darum gehen, einen Überblick zu geben über unterschiedliche Arten, wie fachliche Perspektiven von NMG «in Kontakt» kommen bzw. zusammenspielen können.