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II. Forschungsbericht 1. Topografie und Soziologie der Wiener Moderne

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Moderne-Forschung

Mit dem Begriff ‚Moderne‘ wird in der Literaturwissenschaft gemeinhin diejenige kunstästhetische Epoche bezeichnet, die sich als Reaktion auf die zunehmende Komplexität sozialer, politischer und wirtschaftlicher Realitäten um die Jahrhundertwende formierte (vgl. Kap. I.3). Diese Epoche ‚Moderne‘ ist keineswegs homogen; vielmehr gibt es eine Vielzahl verschiedener Moderne-Konzepte, was sich in besonderer Weise in den vielen konkurrierenden Literaturströmungen um 1900 zeigt: Die Literatur reagierte höchst unterschiedlich auf die kulturell-technische Modernisierung der Jahrhundertwende, sie umfasst ein Spektrum, so Sabina Becker und Helmuth Kiesel, das sich „zwischen den Polen Provokation und Institution“ spannt: „Provokation spezifiziert als Abweichung von der ästhetischen Norm, Institution verstanden als Rekurs auf Tradition und Traditionen […]. Die Literatur der Moderne changiert jedenfalls im Spannungsfeld einer provokanten Ästhetik […] auf der einen und literarischen Konventionen auf der anderen Seite; sie oszilliert zwischen Literaturrevolution und Tradition.“ (Becker/Kiesel 2007, 10) Ein Kennzeichen der literarischen Moderne ist somit ihre thematische und formal-ästhetische Diversität, die nicht nur für die Moderne als Makrostruktur, sondern auch für einzelne Strömungen wie die Wiener Moderne gilt: Die Forschung hat immer wieder auf „das Geflecht widersprüchlicher Tendenzen“ (Lorenz 2007, 5 sowie Brix 1990) hingewiesen, das die Literatur der Wiener Jahrhundertwende charakterisiert. Wie die literarische Moderne insgesamt, reicht auch die Wiener Moderne – so Dagmar Lorenz – von der avantgardistischen Innovationsleistung eines Arthur Schnitzlers bis hin zur konservativen Heimatliteratur Peter Roseggers (vgl. Lorenz 2007, 5).

Ordnungsprinzip Topografie

Um die komplexe Struktur kultureller Milieus in ihren Wechselwirkungen und Widersprüchlichkeiten zu erfassen, hat die Moderne-Forschung die Formationsprozesse verschiedener Strömungen detailliert zu erfassen versucht, wobei ein wesentliches Ordnungsprinzip die kultursoziologische Beschreibung der ‚geistigen Zentren‘ der Moderne darstellte (vgl. Haupt/Würffel 2008b). Dem Handbuch Fin de Siècle (Haupt/Würffel 2008a) beispielsweise liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Moderne anhand ihrer urbanen Zentren Paris, Wien, Berlin, München, London, Prag und Petersburg erfassen lasse. Diese Fokussierung auf die Topografie der Moderne erlaubt eine genauso geistesgeschichtliche wie historisch-politische und (literatur-)soziologische Erläuterung von lokalspezifischen Voraussetzungen, die die Genese literarischer Strömungen bedingen. Überdies lassen sich aus dieser Perspektive Wechselwirkungen zwischen den europäischen Zentren der Moderne in den Blick nehmen. Der Band trägt insgesamt der Tatsache Rechnung, dass die Moderne ein transnationales, europäisches Phänomen darstellt (vgl. auch Frick/Mölk 2003).

Voraussetzungen und internationale Beziehungen

Dieser grundlegenden Einsicht folgen viele Forschungsarbeiten, die sich mit den kulturell-intellektuellen Voraussetzungen für die Genese der Wiener Moderne einerseits und den internationalen Verstrebungen der Strömung andererseits beschäftigt haben (z.B. Brix/Janik 1993). So legen die Sammelbände Die Wiener Jahrhundertwende (Nautz/Vahrenkamp 1996) und Europäische Jahrhundertwende. Wissenschaften, Literatur und Kunst um 1900 (Mölk 1999) die innovativen Prozesse in Philosophie und Wissenschaft, Sprache und Literatur, Kunst und Architektur, Musik sowie Gesellschaft und Politik und außerdem die Vernetzungen zwischen diesen Feldern dar.

Mit den vielfältigen Formen transdisziplinärer Austauschprozesse beschäftigt sich auch Edward Timms (Timms 1996 und 2013), der detailliert die schöpferischen Interaktionen der verschiedenen Wiener Kreise rekonstruiert hat. Timms zeigt dadurch, wie sich unter den spezifischen politischhistorischen Bedingungen eine multimediale Kunstszene etabliert hat, deren Wahrnehmung als innovative Strömung der Moderne sich erst im Nachhinein eingestellt hat. Mit den für die Strömung der Wiener Moderne prägenden Einflüssen und (teilweise konfliktreichen) Beziehungen zu anderen Kunstzentren der Moderne beschäftigt sich Helga Mitterbauer, die kulturelle Transfers sowie interkulturelle Wechselwirkungen zwischen Paris und Wien um 1900 aufzeigt (Mitterbauer/Scherke 2005 sowie Mitterbauer 2006, 155–173). Um die literarischen Einflüsse Frankreichs auf die Autoren Jung-Wiens geht es auch in der Monografie Wiener Moderne im Dialog mit Frankreich (Arend 2010), in der verdeutlicht wird, wie sich die Wiener Autoren produktiv mit literarischen Konzepten französischer Autoren auseinandergesetzt haben. Die Beziehung der Wiener zur Berliner Moderne reflektiert die umfangreiche Monografie Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik (Sprengel/Streim 1998). Die Autoren zeigen, wie intensiv, produktiv und konfrontativ die kulturellen Beziehungen zwischen beiden Metropolen waren. In solchen Forschungsarbeiten kommt eine Haupttendenz der aktuellen Forschungsdiskussion zum Ausdruck, die Wien prinzipiell als „Bezugspunkt einer zentraleuropäischen Moderne“ (Lorenz 2007, Vorwort) begreift.

In diesem Zusammenhang sind auch die Gesamtdarstellungen zu erwähnen, welche die Wiener Moderne im Kontext der anderen bedeutsamen – und ‚modernen‘ – Strömungen dieser Zeit betrachten. Neben der von Dorothee Kimmich und Tobias Wilke vorgelegten Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende (Kimmich/Wilke 2011) ist hier auch Philip Ajouris Monografie zur Literatur um 1900 (Ajouri 2009) und insbesondere Walter Fähnders umfassende Auseinandersetzung mit Avantgarde und Moderne 1890–1933 (Fähnders 2010) zu nennen. Die Autoren zeigen jeweils – mit unterschiedlichen Schwerpunkten – die Stellung der Literatur der Wiener Moderne in der Zeit des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert auf.

Wien als Moderne-Zentrum

Für den geistes-, kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext speziell in Wien ist Carl E. Schorskes Monografie Wien: Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle (Schorske 1982) einschlägig. Er verknüpft in seiner Darstellung die Bereiche Literatur, Architektur, Politik, Bildende Künste und Wissenschaft. Auf die enge Verzahnung dieser Bereiche gehen auch die Beiträge im Band Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne (Berner/Brix/Mantl 1986) ein. Für die Bedeutung dieser zahlreichen Einflüsse – die zum ‚kreativen Milieu‘ in Wien (vgl. Janik 1986) beitrugen – hinsichtlich der Entstehung von ‚Jung-Wien‘ ist die Monografie von Jens Rieckmann mit dem Titel Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle (Rieckmann 1985) aussagekräftig. Seine ausführliche Darstellung über die Rolle Hermann Bahrs, die Genese von Jung-Wien um 1890, das Zeitschriftenwesen und die literarischen Erzeugnisse der zentralen Autoren vermittelt ein Bild von der Dynamik im Umfeld der literarischen Produktion dieser Zeit. Schließlich finden sich auch im Standardwerk Wiener Moderne (Lorenz 2007) umfassende Auseinandersetzungen mit den kulturellen Hintergründen. Einen Überblick über die vielfältigen kulturellen Formen der Wiener Moderne, insbesondere der Bildenden Künste, bietet der reich bebilderte, von Christian Brandstätter herausgegebene Sammelband Wien 1900. Kunst und Kultur, in dem Wien als Fokus der europäischen Moderne (Brandstätter 2005a) verstanden wird. Die darin enthaltenen Beiträge beleuchten die Wiener Moderne als gesamtkulturelles Phänomen.

Einführung in die Literatur der Wiener Moderne

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