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2. Die Literatur der Wiener Moderne im Kontext der Literatur der Jahrhundertwende

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Stilvielfalt

Der Begriff ‚Literatur der Jahrhundertwende‘ umfasst gemeinhin die Literatur im Zeitraum zwischen ca. 1885 und 1910 (vgl. Kimmich/Wilke 2011, 9) und subsumiert eine Vielfalt an literarischen Stilen, Strömungen und ästhetischen Programmen. Diese Vielfalt bildet sich prägnant im Modernen Musen-Almanach des Jahres 1893 ab. „Die starke Beteiligung von Begabungen aus allen Kreisen der modernen Kunst“, so schreibt der Herausgeber Otto Julius Bierbaum einleitend, „ergab von selbst ein vollständiges Bild der in verschiedenen Richtungen lebendigen modernen Bewegung in Deutschland.“ (Bierbaum 1893, 3) Tatsächlich zeigt ein Blick in das Buch, dass ganz unterschiedliche Schriftsteller wie Detlev von Liliencron, Arno Holz, Frank Wedekind sowie die Wiener Autoren Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler unter dem Label ‚moderne Literatur‘ versammelt sind (vgl. Fähnders 2010, 90).

Bei allen Problemen, die im Musen-Almanach gedruckten Texte auf einen Nenner zu bringen, lassen sich mindestens zwei Charakteristika dieser ‚modernen Literatur‘ bestimmen: Sie reagiert erstens auf kulturhistorische Veränderungen dieser Jahre – auf das Gefühl einer zunehmenden Komplexität sozialer, politischer und wirtschaftlicher Realitäten infolge des technischwissenschaftlichen Fortschritts; auf die rasante Entwicklung der Großstädte, das Gefühl der fortschreitenden Denaturierung und Entwertung des Individuums sowie den Verlust sozialer Kompetenzen. Das Subjekt steht angesichts der kollektiven Lebensform, so formuliert es der Soziologe Georg Simmel im Jahre 1903, vor dem Problem, seine „Persönlichkeit zur Geltung zu bringen“ (Simmel 2009, 112). Zweitens ging diese Thematisierung einer krisenhaften Welt- und Selbstwahrnehmung mit dem Bestreben von literarischen Innovationen (vgl. Becker/Kiesel 2007, 10) einher, die sich freilich in einem weiten Spektrum zwischen Revolution und Reform in ganz unterschiedlichen Stilen bewegten. Diese Stilvielfalt findet Ausdruck in einem Begriffsreichtum uneinheitlich verwendeter, nur schwer voneinander abgrenzbarer Stil- und Strömungsbezeichnungen wie ‚Ästhetizismus‘, ‚Neuromantik‘, ‚Impressionismus‘, ‚Jugendstil‘, ‚Décadence‘, ‚Symbolismus‘ oder ‚Jung-Wien‘ (vgl. Kap. I.3). Dass diese Kategorien nicht trennscharf sind, zeigt ein Blick auf die Autoren der Wiener Moderne: Insbesondere das Frühwerk von Hugo von Hofmannsthal wurde etwa in der Forschung vielfach mit dem Begriff des Ästhetizismus gefasst (vgl. Streim 1996) oder aber in die „Nähe des französischen Symbolismus gerückt“ (Winko 2003, 243), teilweise wurde den frühen Texten die Zugehörigkeit zur ‚Moderne‘ gänzlich abgesprochen. Arthur Schnitzler – um noch ein weiteres Beispiel zu nennen – wurde sowohl als typischer Vertreter der Décadence wie auch des Impressionismus bezeichnet. Was die Stil- und Strömungsbezeichnungen angeht, lässt sich um die Jahrhundertwende lediglich der Naturalismus „als halbwegs eindeutiger Epochenbegriff […] handhaben“ (Fähnders 2010, 90).

Der Berliner Naturalismus

Um das literarische Territorium um 1900 wenigstens grob zu kartografieren, hilft ein Blick auf die verschiedenen Zentren der Moderne: Im literarischen Feld um 1900 kämpften verschiedene Strömungen und Gruppierungen um die Vorherrschaft ihres jeweiligen Literaturkonzeptes; diese Gruppierungen bildeten sich vor allem in den Großstädten München, Berlin oder Wien heraus. Zentrum des Naturalismus – der bis zur Jahrhundertwende das Gravitationszentrum für literaturpolitische Auseinandersetzungen bildete – war Berlin. In den 1880er Jahren traten dort junge Autoren auf den Plan, die für die Überwindung des poetischen Realismus votierten; sie kündigten nichts Geringeres als eine Revolution der Literatur an. Ihr literaturpolitisches Hauptorgan war die Zeitschrift Freie Bühne, in der einflussreiche Schriftsteller wie Wilhelm Bölsche die Ideen des Naturalismus verbreiteten. Die Programmatik orientierte sich grundsätzlich an naturwissenschaftlichen Methoden. In Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) beschreibt Bölsche das naturalistische Verfahren folgendermaßen: „Der Dichter […] ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet.“ (Bölsche 1976, 7) Obgleich Arno Holz den Begriff des Experiments ablehnt, stattdessen von ‚Beobachtung‘ spricht (vgl. Schiewer 2004, 148), teilt er mit Bölsche das grundsätzliche Bestreben, Literatur zu verwissenschaftlichen. In Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (1891) bringt er sein Kunstverständnis auf die mathematische Gleichung: „Kunst = Natur – x“ (Holz 1973, 171), wobei ‚x‘ gleichermaßen für die „Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung“ (ebd., 174) steht. Diese Neuausrichtung der Literatur auf die künstlerische Vermittlung von Wirklichkeit führte zu innovativen Formen wie der Erfindung des Sekundenstils oder der sogenannten ‚phonographischen Methode‘ – gemeint ist eine möglichst getreue schriftliche Abbildung von Sprache und Geräuschen. Der angestrebte Wirklichkeitsbezug manifestierte sich zudem in einer Darstellung von sozialen Milieus jenseits der Bürgerlichkeit, die der Realismus weithin ausgeblendet hatte.

Der Wiener Antinaturalismus

In den 1880er Jahren bestand auch bei den jungen Autoren Wiens das Bedürfnis nach einer anderen Literatur, weshalb das Wiener Kulturleben stark vom Einfluss des deutschen Naturalismus geprägt war (vgl. Lorenz 2007, 46ff.) Erst um 1890 profilierte sich ‚Jung-Wien‘ verstärkt im Zeichen des Antinaturalismus: Chef-Programmatiker und „rühriger Manager“ war Hermann Bahr, der in zahlreichen Essays (vgl. Kap. IV.1) die Forderung eines „inneren Naturalismus“ stellte (Wunberg 2001, 188): Anstelle einer Darstellung der „Sachenstände“ sollte die Vermittlung der „Seelenstände“ im Zentrum der Literatur stehen (ebd.). Diese „Favorisierung der Innenwelt“ (ebd.) bildete ein entscheidendes Merkmal der Jung-Wiener Literatur. Der Blick verlagerte sich vom „Sozialen zum Individuellen, vom Objekt ins Subjekt, von Umwelt auf Innenwelt“ (ebd.). Allerdings waren die Gegensätze zum Naturalismus nicht so groß wie sie literaturpolitisch inszeniert wurden. Schon Bahrs Begriff vom ‚inneren Naturalismus‘ offenbart Ähnlichkeiten in der Methode. Der „Technik des genauen Hinsehens“ wird lediglich ein anderer Gegenstand beigeordnet: „das eigene Ich“ (ebd., 189). Der möglichst präzisen, quasi wissenschaftlich-mathematischen Erfassung der äußeren Welt entspricht die ebenso von wissenschaftlichem Denken geprägte Methode der Erforschung menschlicher Bewusstseinszustände. Die literarische Beschreibung seelischer Prozesse brachte schließlich innovative Erzähltechniken wie die konsequente Einführung des inneren Monologs oder den stream of consciousness in der deutschsprachigen Literatur hervor.

Jung-Wien und der George-Kreis

Ist für die Texte von Arthur Schnitzler oder Richard Beer-Hofmann eine präzise Abbildung von Bewusstseinsprozessen charakteristisch, neigten andere Autoren Jung-Wiens zum Ästhetizismus, wie er auch im Künstlerkreis um Stefan George vertreten wurde. Im Falle von Hugo von Hofmannsthal gab es sogar einen direkten Kontakt zum George-Kreis, der es dem jungen Dichter ermöglichte, einige seiner frühen Texte in Georges Blätter für die Kunst zu veröffentlichen. Allerdings bestand zwischen den Gruppierungen ‚Jung-Wien‘ und dem George-Kreis ein entscheidender Unterschied, was den jeweiligen Gruppen-Habitus anging. Während der zuletzt genannte Kreis Vertreter einer elitären l’art pour l’art-Poetik war, die ganz auf die Persönlichkeit ‚Stefan George‘ abgestimmt war, gab sich Jung-Wien deutlich liberaler: Wiens Literaten bildeten ein loses Schriftstellerbündnis mit unterschiedlichen Zentren, die sich, anders als der George-Kreis, nicht hermetisch nach außen hin abschotteten, sondern den intellektuellen Austausch suchten (vgl. Kap. III.3).

Einführung in die Literatur der Wiener Moderne

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