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Südfrankreich 04. April 2012: Saint-Jean-Pied-de-Port
ОглавлениеIch fühle mich jetzt schon wie gerädert. Dabei bin ich noch keinen Meter gepilgert. Die alles andere als komfortable, planmäßig etwa vierundzwanzigstündige Busfahrt nach Bayonne im Süden Frankreichs fordert mich und meinen Körper bereits dermaßen heraus. Ich bin todmüde und kann mir nur schwer vorstellen, ab morgen mehrere Dutzend Kilometer Tag für Tag quer durch Spanien gen Westen zu flanieren. Alleine der Gedanke daran, das mit meinem viel zu schweren Gepäck zu tun, nimmt mir einen Teil der noch anhaltenden Vorfreude.
Als ob die Fahrt nicht schon lange und unangenehm genug gewesen wäre, verzögert sie sich zum Ärger aller Fahrgäste um ganze fünf Stunden. Da die Hydraulik des Buses einen Defekt aufwies, musste der Fahrer rechts anhalten und nach kurzer Inspektion telefonisch ein Ersatzteil ordern.
Mitten in der Pampa, nur wenige Kilometer von meinem eigentlichen Zielort entfernt, warten wir nun in den frühen Morgenstunden auf den französischen ADAC. Da wir keinerlei Informationen bekommen, wie lange das denn dauern könnte, gehe ich ähnlich wie bei Klausuren aus vergangenen Schultagen erstmal vom Schlimmsten aus. Vermutlich werden sich die Kollegen nämlich erstmal in aller Ruhe einen Kaffee gönnen und von Gott weiß woher anfahren müssen. Sollten sie aber unerwartet früher eintreffen, freue ich mich darüber umso mehr.
Um die Warterei zu überbrücken, habe ich nun die Qual der Wahl. Zwar ist es im Bus immerhin kuschlig warm, allerdings scheint nahezu jeder Fahrgast stark erkältet zu sein. Während ich hier Gefahr laufe, mich ihrer Riege anzuschließen, droht mir draußen an der immerhin frischen Luft, bei wiederum Minusgraden, der Hintern abzufrieren. Wie ich mich auch entscheide, in beiden Fällen scheint ein grippaler Infekt unausweichlich.
Für einen Augenblick überlege ich, ob ich nicht einfach von hier meine Pilgerreise beginnen soll. Allerdings verdränge ich diesen dummen Gedanken so schnell, wie er gekommen ist und begebe mich schließlich auf die Suche nach Sauerstoff.
Vor dem Bus bildet sich ein kleiner Stehkreis aus jungen Leuten, die ebenfalls vor der abgestandenen und längst aufgebrauchten Luft nach draußen geflohen sind. Ich schließe mich ihnen an und wir kommen ins Gespräch.
Es dauert nicht lange und schon haben wir unsere größte Gemeinsamkeit gefunden, die sich ausgesprochen noch etwas merkwürdig anhört: »Wir sind Pilger.«
Zwar haben wir noch keinen Fuß auf den Jakobsweg gesetzt, ein gemeinsames Ziel teilen wir aber schon jetzt.
Da wir seit mehr als vierundzwanzig Stunden kein Wort mehr gesprochen, geschweige denn mit jemand anderem uns über das Pilgern unterhalten haben, sind wir froh, nach dieser langen Zeit endlich Mitstreiter und Gleichgesinnte gefunden zu haben.
Während wir uns über die traumatische Busodyssee austauschen, stelle ich glücklich fest, dass ich soeben meine allerersten Pilgerbekanntschaften gemacht habe. Jedoch zeigt sich schnell, dass wir uns auf dem Jakobsweg voraussichtlich kein einziges Mal begegnen werden.
Abfahrt in Augsburg
»Steigt ihr auch in Bayonne aus?«, frage ich noch hoffnungsvoll.
Kollektives Kopfschütteln.
»Ich fange in León an. Das sind mindestens nochmal vier Stunden Fahrt von hier.«, stellt einer von ihnen ernüchternd fest.
Es folgen vier weitere Pilger, die erzählen, dass sie lediglich knapp zwei- bis dreihundert Kilometer vor Santiago auf dem Jakobsweg einsteigen werden. Eine von ihnen läuft sogar eine völlig andere Route, weiter nördlich direkt an der Küste entlang.
Offensichtlich bin ich in der Gruppe der Einzige, der sich vier Wochen Zeit genommen hat, um die meines Wissens wohl bekannteste und auch klassische Route des Jakobswegs zu pilgern, den Camino Francés. Von meinem gewählten Startpunkt werde ich knapp achthundert Kilometer zurücklegen müssen, um nach Santiago de Compostela zu gelangen.
Auf einmal kommen in mir starke Zweifel an meinem Vorhaben auf. War ich zu blauäugig, diese Reise ohne jegliche Pilgererfahrung anzutreten? Habe ich das Ganze womöglich total unterschätzt? Ist es übermütig oder gar naiv von mir zu glauben, morgen Früh bei Wind und Wetter die Pyrenäen überqueren zu können?
Vielleicht sollte ich auch einfach im Bus sitzen bleiben und nur etwa ein Drittel der ursprünglich geplanten Strecke laufen. Ich kann ja jederzeit wieder herkommen und dann das nächste Mal eine größere Distanz absolvieren.
Vor der Abreise war ich doch noch so zuversichtlich. Jetzt stell ich plötzlich alles in Frage. Ich wollte eine Herausforderung? Hier habe ich sie! Nach einem ersten Gespräch mit blutigen Pilgeranfängern wie mich selbst, bereits die Flinte ins Korn zu werfen und meine Ziele aus purem Respekt runterzuschrauben, entspricht nicht meinem sportlichen Ehrgeiz. In letzter Sekunde einen Rückzieher von meinem festen Entschluss machen? Mit diesem Gedanken kann und will ich mich nicht anfreunden und so bleibe ich nun dabei. Ich werde in Bayonne aussteigen und von dort mit dem Zug an den Ort fahren, wo schon so viele Menschen vor mir ihre ersten Pilgergehversuche erfolgreich unternommen haben.
Irgendwann tauchen die übermüdeten Mechaniker auf und reparieren unseren Bus im Halbschlaf. Wir vertreten uns noch ein wenig die Füße und als wir zurückkommen, kann die Fahrt endlich weiter gehen.
Nach nicht mal einer Stunde, nehmen wir im Morgengrauen schließlich eine Ausfahrt und halten nur wenige Meter später auf dem Seitenstreifen rechts an. Eine erneute Panne wird das wohl kaum sein. Oder?
Dann höre ich den Busfahrer über die Lautsprecher durchsagen: »Bayonne.«
Ach echt? Hier? Etwas provisorisch diese Haltestelle, aber bitte. Immerhin hat diese abenteuerliche Busfahrt nun ein Ende.
Weil ich im gesamten Bus tatsächlich der Einzige bin, der hier aussteigen möchte, geht auf einmal alles ganz schnell. Mit einem »Buen camino!« von meinen Pilgerkollegen verlasse ich den Bus. Draußen wird mir mein Rucksack vom Fahrer unsanft zugeworfen. Danach schließt er die Türen und fährt ab. Ohne mich. Ich stehe nur da und schaue dem Bus hinterher. Als er wieder auf die Autobahn auffährt, drehe ich mich um und versuche mich zu orientieren. Es scheint nun loszugehen.
Offiziell gesehen bin ich ja bereits ein waschechter Pilger. So steht es zumindest im credencial, meinem Pilgerausweis. Deshalb zähle ich die Busfahrt auch schon irgendwie zu meiner Pilgerreise. In gewisser Weise ist sie mein erstes Highlight. Hoffentlich folgen noch einige positivere Höhepunkte.
Lediglich meinen engsten Freunden habe ich von meinem Projekt erzählt. Das Projekt Jakobsweg. Bei allen Anderen sprach ich geheimnisvoll von einem »einmonatigem Spanienaufenthalt«.
Ähnlich geheimnisvoll läutete ich zudem meinen zeitweiligen social-media-Entzug ein, indem ich mit »Ich bin dann mal weg« einen vorerst letzten Statuseintrag auf Facebook verfasste. Eigentlich war ich davon überzeugt, dass viele den Titel des überaus erfolgreichen Buchs kennen und schlussfolgern würden, dass ich mich auf den Jakobsweg begeben werde. Offensichtlich war es aber nicht offensichtlich genug. Zumindest lautete der erste Kommentar auf meinen Eintrag: »Wohin geht´s?«
Es geht zunächst nach Saint-Jean-Pied-de-Port. Ein an Spanien grenzendes, französisches Städtchen, in dem ich und voraussichtlich viele Andere das Pilgerabenteuer beginnen werden.
Von dort werde ich dann ab morgen frohen Mutes die besagten achthundert Kilometer durch Nordspanien marschieren und dabei gleich vier spanische Regionen kennen lernen: Navarra, La Rioja, Kastilien und León sowie Galicien. Außerdem schlängelt sich der Camino Francés durch viele interessante und mir aus dem Spanischunterricht bekannte Großstädte wie Pamplona, Logroño, Burgos, León und schließlich Santiago de Compostela.
Während ich am Stadtrand von Bayonne das Industriegebiet durchquere, bin ich zunächst etwas überfordert mit der Situation. Der Busfahrer hat mich geradezu irgendwo im Nirgendwo aussteigen lassen. Lange Zeit irre ich einfach nur dumm umher und finde nichts, was mir den Weg zum Bahnhof dieser Stadt weist.
Schließlich spreche ich einen Passanten auf dem Gehweg an. Ich habe Glück, denn er kann mir helfen und immerhin auf Spanisch eine kurze Wegbeschreibung geben. Dazu deutet er mit seinem Finger in die Richtung, in der die estación de tren liegen muss.
Dort angekommen, verpasse ich aufgrund meiner Irrwege leider meinen Zug um wenige Minuten. Der Nächste fährt erst wieder in etwa drei Stunden ab. Also nutze ich die Zeit, kaufe mir ein Ticket, esse bei herrlichem Sonnenschein ein leckeres Sandwich Le Complet und schreibe zum ersten Mal in mein schwarzes Büchlein rein.
Letzteres habe ich in ähnlicher, wenn auch weitaus weniger ausführlicher Form, vergangenes Jahr im November auf der Interrail Europareise mit zwei meiner besten Kumpels getan. Dort führte ich allerdings Buch über total uninteressante Abfahrtszeiten unserer Züge und lediglich vereinzelte Geschehnisse vom Tag. Wir wollten unsere Tour bestmöglich dokumentieren, hatten aber nur selten Zeit und Lust ausführlich über sie zu schreiben. Also haben wir unsere Reise überwiegend mit einem Camcorder in Bild und Ton festgehalten, was uns natürlich schnell auf die Idee gebracht hat, ein Video daraus zu schneiden. Aus dem geplanten Video wurde schließlich ein richtiger Film, der mit einer Länge von über neunzig Minuten bei Familie und Freunden für viel Unterhaltung gesorgt hat. Bewegtbild war das ideale Medium, um unsere Erinnerungen teilen und verewigen zu können.
Für die Pilgerreise habe ich nun völlig andere Beweggründe. Jedoch möchte ich auch hier viele meiner Erfahrungen festhalten, um sie anschließend mit meinen Eltern, meiner Schwester und auch mit Freunden zu teilen.
Ich reise alleine, habe viel Zeit mitgebracht und verspüre fast schon das Bedürfnis, meine Gedanken in Schrift zu verewigen. Wenn ich alt und senil bin, werde ich mich glücklich schätzen, anhand dieser Notizen auf meine Pilgerfahrt zurückblicken zu können. Und auch wenn ich an dieser Stelle bereits in der hoffentlich fernen Zukunft in Nostalgie zu schwelgen wage, so möchte ich es später nicht bereuen müssen, meinen Jakobsweg in keiner Form festgehalten zu haben.
Ich sitze jetzt im Zug und sehe mir die anderen Fahrgäste an, die zweifelsohne aus demselben Grund hier sind wie ich. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es zu dieser Jahreszeit schon so viele Leute auf den Jakobsweg zieht. Unter ihnen gibt es bestimmt einige hartgesottene Pilgerveteranen, aber ich werde in diesem Zug bei Weitem nicht der Einzige sein, der sich zum ersten Mal auf den Jakobsweg begibt. Das macht mir Mut und lässt mich nun endgültig nicht mehr daran zweifeln, dass ich hier definitiv richtig bin. Pyrenäen? Her damit!
Unfreiwillig fange ich an zwischen den Anderen und mir Vergleiche aufzustellen. Zwar ist mein Rucksack noch nicht mal annähernd voll gepackt, aber selbst als Pilgerlaie weiß ich, dass er viel zu schwer und vermutlich auch etwas zu groß ist. Das Volumen umfasst nämlich ganze fünfundsiebzig Liter und lässt sich bei Bedarf sogar nochmal um zehn Liter erweitern. Abgesehen von meinen Wanderschuhen, deutet vermutlich auch meine Kleidung auf alles andere als einen erfahrenen Pilger hin.
Auf den zweiten Blick fallen meine Klamotten aber gar nicht mal so sehr aus dem Raster, der Größenunterschied unserer Backpacks allerdings umso mehr. Ich hatte ihn mir vergangenes Jahr hinsichtlich der einmonatigen Europareise zugelegt und bin damit bestens zurechtgekommen. Je größer der Rucksack, desto mehr nimmt man natürlich mit. Mit Proviant wog er etwa dreiundzwanzig Kilogramm. Kein Problem, wenn man sich fast ausschließlich mit dem Zug fortbewegt. Vierzig Kilometer am Tag zu Fuß gehen möchte ich damit aber nicht.
Für den Jakobsweg setzte ich mir daher zum Ziel, das Gewicht mindestens zu halbieren und nur das Allernötigste einzupacken. In meinem Fall sind das folgende Dinge: eine lange und zwei kurze Hosen, eine Jacke, zwei Funktionsshirts, ein Deutschlandtrikot, eine Mütze, eine Sonnenbrille, drei Paar Socken, vier Unterhosen, Schlafsack, ein kleines Kissen, Zahnputzzeug, Deo, Reiseapotheke, zwei kleine Handtücher, eine 1 ½ Liter Aluminiumflasche, Wanderstöcke, ein zweites Paar Schuhe, Rückflugticket, Personalausweis, etwas Lesestoff, eine Digitalkamera, eine Karte mit Höhenprofil und mein OUTDOOR Reiseführer.
Im aktuellen Zustand wird er mir auf Dauer zu schwer sein. Ich werde mich wohl oder übel schon bald von ein paar dieser bereits recht wenigen Dinge trennen müssen.
Im Zug mir schräg gegenüber sitzt Paulo Coelho, der brasilianische Schriftsteller und Autor des Weltbestsellers Der Alchimist. Natürlich ist er es nicht wirklich, aber er sieht ihm zumindest verdammt ähnlich. Neugierig und interessiert überlege ich aus welchem Land er kommen könnte. Aufgrund seines äußerst lässigen Auftretens vermute ich, dass er die Reise nicht zum ersten Mal macht. Total entspannt isst er genüsslich einen Joghurt und summt dabei irgendwas vor sich hin. Danach checkt er mehrmals sporadisch sein Handy, schaut aus dem Fenster und betrachtet die Landschaft. Als Paulo sich dann bei einem jungen Pärchen wegen einer Kleinigkeit mit »grazie« bedankt, verrät er schließlich seine Herkunft.
Volltreffer! Mein Tipp wäre italienischer Opernsänger gewesen.
Nach etwa einer Stunde und fünfzig gefahrenen Kilometern hält der Zug an. Ich steige aus dem Pilgerexpress aus und sehe wie Einige mit ihrer Kamera vermutlich ein und dasselbe Bild knipsen. Ihr Motiv ist das Schild am Bahnhofsgebäude, auf dem der Name des Orts in großen Druckbuchstaben zu lesen ist.
ST-JEAN-PIED-DE-PORT.
Für einen kurzen Moment überlege ich es ihnen gleichzutun. Allerdings kostet es mich in diesem Moment ernsthaft Überwindung, die Kamera aus dem Rucksack zu fischen, nur um ein Foto zu schießen, das es ohnehin vielfach im Internet gibt. Warum soll ich mir die Mühe machen, noch ein weiteres beizusteuern? Also lasse ich es sein. Hier auf dem Jakobsweg bin ich kein Tourist, sondern Pilger.
Und während ich so darüber nachdenke, ob es sich überhaupt gelohnt hat die Kamera mitzunehmen, schließe ich mich dem Pulk in Richtung Ortskern an. Einige Pilger sehen wirklich sehr routiniert aus und wissen offensichtlich genau wo es lang geht. Ich lasse mich ein wenig zurückfallen und folge ihnen blind.
Direkt vor mir läuft das junge Paar aus dem Zug. Erst jetzt sehe ich, dass sie den Jakobsweg nicht zu zweit, sondern mit ihrem Hund gehen werden. Genau wie die Herrchen, hat auch der kleine Vierbeiner einen eigenen Rucksack, den er tapfer auf dem Rücken trägt.
Es geht bergauf, an diversen Geschäften vorbei und Menschen, die uns einen buen camino wünschen. Auf einmal biegt die Kolonne nach links ab und betritt nacheinander ein Gebäude. Vor dem Eingang angekommen, erkenne ich, dass es sich hierbei um das offizielle Pilgerbüro handelt, in dem es ordentlich zugeht.
Ein Neuankömmling nach dem anderen wird hier mit seinem oder ihrem Anliegen abgefertigt. Alle sind natürlich scharf auf den allerersten Stempel im credencial. Sofern man noch keinen hat, kann man sich auch ohne Weiteres einen neuen Pilgerausweis ausstellen lassen. Neben Informationsblättern für die anstehende Etappe, erhalten Pilger zudem Auskunft über die lokalen Herbergen.
Ich stelle mich in die wartende Schlange und muss aufpassen, dass ich mit meinem großen Rucksack in dem engen Raum nichts umwerfe. Erneut schaue ich mir die Gesichter der Pilger an. Mit meinen zwanzig Jahren bin ich hier das Küken, so viel steht fest. Zu meiner Erleichterung kann ich aber auch einige jüngere Pilger ausmachen, die wohl in dem früheren Zug saßen. Ich frage mich, ob sie als Gruppe angereist sind oder sich hier erst kennen gelernt haben.
Bevor ich mir weitere Gedanken über sie machen kann, wird ein Platz frei und ich setze mich. Total überdreht und euphorisch möchte der Mann von mir auf Spanisch wissen, welche Sprachen ich denn spreche.
»Alemán, ingles y castellano!«, antworte ich ihm nicht weniger euphorisch.
Überglücklich informiert er sich nun wiederum auf Englisch nach meinem Anliegen.
»Ich hätte gerne einen Stempel und ein Bett.« Schon notiert er sich meinen Namen und stempelt den ersten sello in meinen Pilgerausweis. Abschließend drückt er mir noch einen gelben Zettel mit einer Nummer in die Hand. Ich solle der Frau draußen vor der Tür mit der Gruppe folgen. Bevor ich das Pilgerbüro verlasse, schnappe ich mir noch rasch eine große Jakobsmuschel aus dem Körbchen auf seinem Tisch und werfe ein paar Euro in die daneben stehende Spendenkasse. Ich habe mir sagen lassen, dass die concha del peregrino an jedem Rucksack absolute Pflicht sei.
Draußen schließe ich mich der Frau mit der wartenden Gruppe an. Als ich auf mich aufmerksam mache, gibt sie in knappen Worten zu verstehen, dass wir nun vollzählig seien und losgehen können.
Während wir der wortkargen Dame hinterherlaufen, spricht mich eine junge Pilgerin an und möchte wissen, woher ich komme. Ich stelle mich ihr kurz vor und frage sie dann dasselbe. Ihr Name ist Yoo-kyung, sie kommt aus Südkorea und ist mir auf Anhieb äußerst sympathisch. Nicht zuletzt, weil sie mir freundlicherweise auf meine unsichere Nachfrage hin ihren Vornamen buchstabiert.
Da wird mir plötzlich wieder bewusst wie sehr ich mich darauf gefreut habe, in den kommenden Tagen und Wochen Menschen aus aller Welt kennenzulernen und mit ihnen interessante Gespräche zu führen. Für Yoo-kyung ist der Jakobsweg bestimmt nicht nur eine Wanderung durch Spanien. Um den camino gehen zu können, hat sie einen wirklich weiten Weg von zuhause auf sich genommen. Noch kenne ich sie zwar nicht, aber alleine die Tatsache, dass sie hier ist, zeigt ihre Überzeugung und das finde ich bereits äußerst bemerkenswert. Für mich als Europäer dagegen ist die Reise ein Katzensprung. Sollte ich den Jakobsweg wegen irgendetwas abbrechen müssen, kann ich innerhalb weniger Stunden einfach nachhause fliegen. Diese Möglichkeit hat Yoo-kyung nicht.
Lange können wir uns nicht unterhalten, denn da stehen wir schon vor der Herberge, in der wir heute Nacht Quartier beziehen werden. Wir zeigen der Frau unsere Nummer auf dem Zettel und sie weist uns den Weg in die Schlafräume. Dort angekommen, stelle ich glücklich fest, dass die gesamte junge Meute von vorhin im selben Zimmer nächtigt wie ich. Das freut mich, da ich auf diese Weise auch den Rest von ihnen kennenlerne. Wir legen unsere Rucksäcke ab und stellen uns dann nacheinander vor.
Ein junger Kerl, dessen Gesicht und dunkle, lockigen Haare mir irgendwie bekannt vorkommen, macht den Anfang. Er heißt Luis und läuft den Weg mit seiner Freundin Claire. Sie sind sechsundzwanzig Jahre alt und wohnen zusammen in Texas. Bevor sie die nächste Stufe in ihrer langjährigen Beziehung nehmen, wollen sich die beiden mit dem Jakobsweg nochmal gemeinsam vor eine große Herausforderung stellen. Da Luis gebürtig aus Mexiko stammt, sprechen beide neben Englisch, auch fließend Spanisch. Muy bien, denke ich mir und freue mich schon bald meine Kenntnisse meiner bevorzugten Fremdsprache weiter ausbauen zu können.
Danach sind zwei Jungs an der Reihe, die ebenfalls aus Südkorea kommen, aber etwas älter sind als Yoo-kyung. Sie kennen sich untereinander nicht, jeder von ihnen ist alleine angereist. Die Namen der Jungs finde ich nochmals etwas schwieriger auszusprechen, geschweige denn aufzuschreiben. Das werde ich dann bei späterer Gelegenheit nachholen.
Mit ihrer etwas schüchternen Art hält sich Yoo-kyung recht kurz. Nach unserem knappen Gespräch vor wenigen Minuten, erfahre ich nun allerdings noch, dass sie nach dem Jakobsweg noch eine Reise nach Dublin anschließen wird.
Als nächstes stellt sich der wohl äußerlich Auffälligste in der Gruppe vor. Auffällig deshalb, da er neben einem Nasenpiercing, an beiden Ohren auch große Tunnels trägt. Sein Name ist Mark, er kommt gebürtig aus Kolumbien und lebt in den Niederlanden. Er spricht natürlich ebenfalls Spanisch, aber auch fließend Holländisch und Englisch. Auch Mark macht einen sehr sympathischen Eindruck auf mich.
Zuletzt stelle ich mich noch in feinstem Schulenglisch namentlich vor und erzähle, dass ich in den USA geboren und in Deutschland aufgewachsen bin. Da ich nie gerne im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehe, halte auch ich mich recht kurz. Meine Spanischkenntnisse möchte ich dann aber doch nicht unerwähnt lassen: »… pero solo un poquito.«
Wie in einer anonymen Selbsthilfegruppe, heißen mich meine neuen Pilgerfreunde im Einklang willkommen: »Hey, Dominik.«
Zufrieden schauen wir in die Runde und stellen fest, dass wir »multicultural« sind.
Wir bereiten unsere Betten, befestigen die Jakobsmuscheln an unseren Rucksäcken und gehen anschließend gemeinsam zum supermercado etwas Proviant für die morgige, erste Etappe einkaufen. Dabei unterhalten wir uns viel und lernen uns besser kennen. Ich schätze mich äußerst glücklich, von Beginn an in Gesellschaft von sympathischen Mitstreitern zu sein.
Auf dem Weg zurück zur Herberge erzähle ich Luis, dass er mich an irgendeinen Schauspieler erinnern würde: »I just don’t know which one…«
Als ob er das nicht zum ersten Mal gehört hätte, fragt er grinsend: »Are you sure?«
Mark geht es offensichtlich genauso wie mir. Doch dann fällt es ihm ein: »Now I know! You look a lot like Legolas from The Lord of the Rings! You know, the Orlando Bloom character?«
Er hat Recht, an den habe ich auch gedacht. Luis fängt an zu lachen und behauptet, dass es wohl auch schon viele Leute gegeben hätte, die in ihm Justin Timberlake oder Harry Potter sehen würden. »But I’m fine with Legolas«, scherzt er und hat offensichtlich keine Einwände gegen seinen neuen Spitznamen, auf den wir Luis nach nicht mal zwei Stunden seit unserem Kennenlernen taufen.
Bestens gelaunt beschließen wir in ein Restaurant zu gehen und gemeinsam zu Abend zu essen. Also legen wir die Einkaufstüten in unserem Zimmer ab und begeben uns auf die Suche nach einer guten Adresse.
Nachdem wir einige in die engere Auswahl ziehen, entscheiden wir uns letztlich für einen lecker anmutenden Italiener. Auf der Terrasse schieben wir drei Tische zusammen, sodass wir nebeneinander Platz nehmen können. Um gleich mal auf unsere erfolgreiche Ankunft in diesem schönen Örtchen und den morgigen Beginn unserer Pilgerfahrt anzustoßen, bestellen wir Wein und Bier. Die Wahl des Essens fällt nicht ganz so leicht. Einige von uns wagen es bereits das Pilgermenü für zehn Euro zu bestellen. Ich dagegen kann nach längerer Überlegung der Pizza Prosciutto nicht widerstehen.
Es wird der erste Gang des Pilgermenüs serviert. Suppe. Suppe mit irgendetwas nicht genau Identifizierbarem darin. Ob es Fleisch oder Gemüse ist, lässt sich leider weder äußerlich noch geschmacklich so richtig feststellen. Jeder darf mal davon probieren. Der Gesichtsausdruck danach ist bei allen gleich. Das sorgt in der Gruppe für großes Gelächter. Keiner denkt auch nur daran zu reklamieren, dass die Suppe absolut ungenießbar ist. Einer der beiden Südkoreaner isst sie am Ende sogar ganz tapfer auf, sieht aber nicht wirklich glücklich dabei aus.
Anschließend kommt der zweite Gang. Fleisch. Ähnliche Enttäuschung, deutlich mehr als die Hälfte bleibt wieder übrig. Erneut werden Teller einander gereicht. Jeder von uns verzieht das Gesicht und stellt ein weiteres Mal fest, dass dieses Pilgermenü »disgusting« ist. Bis auf den Südkoreaner isst hier keiner auf.
Dann bekomme auch ich endlich meine Pizza und bin froh, dass ich diese bestellt habe. Sie sieht nicht nur appetitlich aus, sondern schmeckt auch ganz gut. Zumindest werde ich davon satt und kann auch noch den Anderen davon abgeben.
Mit dem Nachtisch des Pilgermenüs verhält es sich wie mit den zwei Gängen zuvor. Auch hier trauen sich ein paar Tapfere zu kosten, dieses Mal lässt aber auch der wohl Hartgesottenste unter ihnen sein Dessert nach zwei Bissen stehen. Zwei einfache Kugeln Schokoladeneis hätten es in meinen Augen getan, aber hier hat es der Koch wirklich zu gut mit uns angehenden Pilgern gemeint.
Wenigstens lassen wir uns den Wein und das Bier schmecken. Davon bestellen wir gleich nochmal nach, um auch ja gut schlafen zu können. Trotz der Enttäuschung bei den Pilgermenügerichten, könnte die Stimmung nicht besser sein. Wir können es kaum abwarten, morgen den ersten Fuß auf den Jakobsweg zu setzen.
Mehr angetrunken als gesättigt, werfen wir noch einen kurzen Blick in die Kirche von Saint-Jean und torkeln anschließend zurück zur Herberge.
Das war ein sehr gelungener Abend, nun kann ich die Augen aber kaum mehr offen halten. Schließlich bin ich jetzt seit über vierzig Stunden ohne Schlaf. Irgendwie gelingt es mir noch auf das Stockbett zu klettern, bevor ich total erschöpft eindöse.
heute: ca. 1.480 km (mit dem Bus) | verbleibend: 800 km (zu Fuß)