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Navarra 05. April 2012: Roncesvalles

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An diesem Morgen wache ich total verwirrt auf. Ich habe keine Ahnung, wo ich hier bin und woher das Tröten, Piepsen und die Musik kommt? Leicht panisch versuche ich die Uhrzeit von meiner Armbanduhr abzulesen. Das helle Display blendet mich und ich brauche ein paar Sekunden bis ich die Ziffern erkennen kann. 05:00. Das kann nicht sein. Steht die nicht noch auf Winterzeit? Also ist es sechs Uhr morgens. Aber was zur Hölle ist hier los? Wo bin ich?

Mit einem Mal wird es verdammt hell. Im ersten Moment sehe ich nur verschwommen. Dann gelingt es mir ein paar silhouettenhafte Gestalten auszumachen, die merkwürdig gähnende Geräusche von sich geben. Ich versuche zu verstehen, was hier vor sich geht.

Plötzlich wird mir alles klar. Wo ich hier bin, was hier los ist und wer diese Leute sind. Ich liege hier im Schlafsaal einer Herberge in Saint-Jean-Pied-de-Port, werde heute meine Reise auf dem Jakobsweg beginnen und diese vermeintlich fremden Menschen sind meine ersten Pilgerfreunde.

Nach dieser Erkenntnis macht jemand das Licht wieder aus. Erleichtert lasse ich mich in mein Kissen plumpsen. Ich bin noch viel zu müde, um jetzt die Pyrenäen zu überqueren. Lasst mich schlafen!

Viel mehr Schlaf wird mir nicht gewährt, denn nur eine halbe Stunde später höre ich erneut diverse Wecker im Raum Lärm machen. Dieses Mal stehen aber auch ihre Besitzer auf. Ein weiteres Mal wird der Schalter für die grelle Deckenlampe betätigt. Alles andere als hellwach, quäle ich mich dann auch irgendwie aus dem Bett, ziehe meine Schuhe an und schwanke im Halbschlaf zum comedor, der Essstube, wo es hoffentlich ein anständiges Frühstück gibt. Ich habe Hunger und da ich keinen Kaffee trinke, wünsche ich mir leckere, warme Semmeln mit Eiern, Käse, Schinken und Nutella, um Energie für die erste Etappe zu tanken. Es gibt ja Brunch-, Lunch- und Dinner-Typen. Ich bin auf jeden Fall mehr so der Breakfast-Typ. Zudem sagt man ja auch, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit am Tag ist.

Leider ist der Begriff Mahlzeit mit dem, was uns hier aufgetischt wird, völlig überbewertet. Das vermeintliche Frühstück entpuppt sich lediglich als zwei Scheiben labberiges Toastbrot mit Butter und längst abgelaufener Marmelade. Dazu gibt es eine Tasse Tee oder wahlweise Kaffee. Alles nicht allzu lecker, aber der Hunger treibt es rein.

Nach dem enttäuschenden Frühstück weicht der Hunger und macht Platz für die aufkommende Nervosität. Gleich ist es soweit und es geht los mit unserer allerersten Etappe auf dem Jakobsweg.

Zurück im Zimmer stehen einige Pilger bereits in den Startlöchern. Also packe auch ich schnell meinen Rucksack, schmiere meine Füße zur Prophylaxe mit einer Antiblasencreme ein und ziehe mir meine Wanderboots an. In weiser Voraussicht, dass es auf knapp eintausendfünfhundert Meter geht, trage ich heute den Zwiebellook. Mein Reiseführer behauptet, dass dieser auf der Etappe total angesagt sei. Zudem hält er mich nicht nur warm, sondern macht meinen Rucksack auch ein paar Gramm leichter. Praktisch.

Yoo-kyung, ihre zwei Landsmänner, deren Namen ich nach wie vor nicht richtig kenne, und Mark sind bereit. Ich habe meinen Backpack auch schon auf dem Buckel. Luis und Claire lassen es etwas ruhiger angehen. Wir sollen schonmal ohne sie loslaufen. Da wir ohnehin dasselbe Tagesziel haben, verabschieden wir die beiden hoch motiviert mit: »Buen camino! See you in Roncesvalles.«

Gleich als wir die Herberge verlassen, stellt uns der Jakobsweg bereits vor eine erste Entscheidung. Es gibt zwei mögliche Routen, um zu unserem heutigen Etappenziel Roncesvalles zu gelangen. Von der Distanz und dem Höhenprofil unterscheiden sie sich nur geringfügig. Jedoch verläuft der eine Weg überwiegend an der Landstraße entlang und der andere direkt über die Pyrenäen.

Ein Blick in meinen Wanderführer verrät uns, dass dieser ausdrücklich vor dem Weg über den Pass warnt. Übereifrige Pilgeranfänger sollen sich angeblich hierbei schon für lange Zeit die Füße ruiniert haben. Außerdem wird behauptet, dass dieser Weg bei schlechtem Wetter sehr unangenehm werden könne und mit nicht zu vernachlässigenden Gefahren verbunden sei. Solle man vorhaben den gesamten Pass an einem Stück zu bewältigen, so empfehle es sich sehr früh aufzubrechen und dies nur dann zu tun, falls man schon etwas Wandererfahrung mitbringt. Im Zweifelsfall solle man es aber lieber nicht darauf ankommen lassen und daher eine Übernachtung in Huntto oder Orisson einplanen.

Aufgrund der Tatsache, dass Mark, Yoo-kyung und ich nicht gerade Wandererfahrene sind, die Risiken scheuen und es außerdem ziemlich neblig ist, beschließen wir die sicherere, aber bestimmt auch weniger schöne Alternativroute an der Landstraße zu nehmen. Die zwei Südkoreaner, wie ich erfahre, waren beide beim Militär und sind damit zweifelsohne anspruchsvollere Wanderungen gewohnt. Um am ersten Tag aber nicht gleich in die Vollen zu gehen, entscheiden auch sie sich uns anzuschließen.

Der alternative Weg nach Roncesvalles ist leider nicht besonders gut ausgeschildert und so haben wir gewisse Anfangsschwierigkeiten, überhaupt die Startlinie zu finden. Aber damit sind wir nicht die Einzigen. Zwei Spanierinnen, die gestern ebenfalls in unserem Zimmer genächtigt haben, sehen ähnlich ratlos aus wie wir. Zum Glück gibt es in Saint-Jean-Pied-de-Port selbst zu dieser frühen Stunde schon Passanten, die uns den Weg weisen können. Uns wird sofort geholfen und ein buen camino mit auf den Weg gegeben.

Kaum haben wir den Ort verlassen, fängt es an zu regnen. Es schüttet zwar nicht, aber der Regen ist doch so stark, dass man sich zuhause selbst mit Regenschirm irgendwo unterstellen würde. Um uns schonmal daran zu gewöhnen und uns für die kommende Zeit als Pilger etwas abzuhärten, ziehen wir lediglich die Kapuze über den Kopf und stülpen das Regencover über unseren Rucksack. Als Pilger gibt es wahrscheinlich gar kein schlechtes Wetter, sondern eben nur schlechte Ausrüstung.

Trotz Mistwetter sind wir allerbester Laune und haben am Pilgern bereits ordentlich Spaß. Da sich die zwei Spanierinnen aber mit Englisch sichtlich schwer tun, springt Mark als multilinguales Talent kurzerhand als Dolmetscher für die drei Südkoreaner ein.

Nach einer Weile macht sich dann etwas Ernüchterung breit, da der Straßenverlauf uns zwingt hintereinander zu gehen. Auf diese Weise legen wir Kilometer für Kilometer am Rand der Landstraße zurück. So fällt es leider schwer eine Konversation lange aufrecht zu halten. Eigentlich ist es nur in den Ortschaften möglich, nebeneinander zu gehen und sich normal zu unterhalten. Doch bestehen die meist nur aus wenigen Häuschen und sind damit recht zügig durchquert. Danach geht der Gänsemarsch von vorne los.

Aufgrund der serpentinenartigen Strecke, ist es zudem teilweise recht schwer, anrasende Autos und Lastkraftwagen vor unserer Pilgerschar zu warnen. Oft kommt es vor, dass die Fahrer nur sehr knapp an uns vorbeirollen. Einige fangen an zu hupen und wie wild mit ihren Armen zu gestikulieren. Wir sind nicht ganz sicher, ob sie uns vor der Gefahr warnen oder uns damit einen buen camino kommunizieren wollen. Aber wir winken einfach freundlich lächelnd zurück.

Eigentlich, so dachten wir, sind wir ja auf dem sichereren Weg nach Roncesvalles. Nur fühlt es sich leider so gar nicht danach an. Auf der vermeintlich weniger gefährlichen Landstraße ist es für meine Begriffe schon nicht ohne. Aber was soll’s, umkehren macht jetzt auch keinen Sinn mehr. Dafür sind wir dann doch schon zu weit gelaufen. Außerdem gibt es auch eindeutig nette Autofahrer, die extra für uns vom Gas gehen und uns mit einem sympathischen Winken begrüßen. Auch die Leute in den Ortschaften sowie die uns überholenden Radfahrer rufen uns »Buen camino!« zu.

Ich habe aufgehört zu zählen, aber ich persönlich freue mich über jede einzelne Person, die uns einen »Guten Weg« wünscht. Diesen Brauch sollte man mal im Alltag implementieren. Man fühlt sich dadurch nicht nur willkommen, sondern es steigert auch die Motivation. Es ist, als hätte man einen Coach, der einen unentwegt vom Spielfeldrand aus anfeuert. Aber auch Mitspieler, beziehungsweise Pilgerkollegen, rufen sich diese zwei aufmunternden Worte bei jeder Begegnung zu.

Ein großes Grenzschild am Straßenrand informiert uns schließlich darüber, dass wir nun Frankreich verlassen und Spanien betreten. Schon seit geraumer Zeit ist Spanien mit Abstand mein europäisches Lieblingsland. Ich mag die Sprache, die Menschen, ihre Kultur und bin zudem großer Fan von Rafael Nadal.

Mein erster Besuch in Spanien fand im Zuge eines privat organisierten Schüleraustausches statt. In den Sommerferien flog ich für mehrere Wochen zu meinem damaligen Austauschpartner Francesc und seiner Familie, die in einer wunderschönen Strandstadt nahe Valencia wohnten. Ein Jahr später unternahm ich einen weiteren Schüleraustausch. Dieses Mal ging es mit meinem Spanischkurs für eine Woche nach Elorrio ins Baskenland, wo ich meine Gastschwester Maite kennenlernte. Beide Austauschpartner habe ich in den darauffolgenden Jahren erneut besucht. Damit konnte ich nicht nur mein Vokabular unwahrscheinlich vergrößern, sondern, viel wichtiger, mir auch ein wertvolles Sprachgefühl aneignen, das mir wiederum im Unterricht zugute kam. Tatsächlich spreche ich mittlerweile besser Spanisch als Englisch.

Wenn ich von der Abifahrt nach Lloret de Mar und dem Partyurlaub mit meinen Jungs auf Ibiza mal absehe, ist mein letzter Spanienaufenthalt nun etwas mehr als zwei Jahre her. Zu Weihnachten 2009 besuchte ich mit meinen Eltern meine Schwester in Andalusien, der südlichsten Region Spaniens. In Estepona, in der Nähe von Marbella, absolvierte sie während ihres Bachelorstudiums ein Semester lang ihr Auslandspraktikum in einem Luxus-Strandresort. Obwohl sich in dieser Woche leider kaum die Gelegenheit ergab, Spanisch zu sprechen, war es dennoch schön eine weitere Gegend Spaniens kennengelernt zu haben.

Nun hat mich Spanien also wieder. Mehr als einen Monat werde ich mich hier aufhalten. In dieser langen und voraussichtlich sehr intensiven Zeit, werde ich aber hoffentlich nicht nur Spanisch lernen, sondern auch etwas über mich selbst.

Als der Regen irgendwann nochmals zunimmt, beschließen wir eine Pause einzulegen und eine Kleinigkeit zu essen, um uns für den Rest der Etappe zu stärken. Wir stellen uns unter einem Garagendach unter und packen die gestrig gekauften Lebensmittel aus. Jeder darf sich von jedem etwas nehmen. Wir teilen alles, was unsere Rucksäcke so hergeben: Brot, Wurst, Käse, Äpfel, Süßigkeiten und… Blasenpflaster.

Ich hatte es befürchtet, aber zumindest gehofft, dass Letzteres heute noch nicht zum Einsatz kommen würde. Beim Gehen habe ich es noch nicht bemerkt, allerdings spüre ich jetzt, wie sich an meinem linken Fuß klammheimlich und schon leicht schmerzhaft das anbahnt, worüber ich im Vorfeld fast ausschließlich Horrorgeschichten gehört und gelesen habe. Es ist noch nichtmal eine Etappe geschafft und schon zeichnet sich ab, dass ich große Schwierigkeiten mit meinen offensichtlich sehr empfindlichen Füßen haben werde. Na, das kann ja heiter werden.

Dass die Füße auf dem Jakobsweg sehr in Mitleidenschaft gezogen werden, war mir natürlich bewusst. Aber sich schon am ersten Tag, trotz vorbeugender Maßnahmen, eine Blase am Fuß zu laufen, ist wirklich ärgerlich. Zumal ich schließlich auf die ausdrückliche Warnung der Verkäuferin gehört und mir zu meinen Wanderschuhen auch spezielle Wandersocken gekauft habe. Ich dachte eigentlich, dass ich damit für die anstehende Belastung bestmöglich gewappnet bin. Aber vielleicht hätte ich auch noch den zweiten Rat der guten Dame im Geschäft befolgen sollen. Denn nun bereue ich es enorm, meine nagelneuen Schuhe zuvor nicht besser eingelaufen zu haben. In meinen Vorbereitungen habe ich mehr Wert auf körperliche Fitness gelegt, als auf meine Schuhe. Ich war wesentlich öfter joggen, anstatt mit meinen neuen Tretern durch die Gegend zu flanieren.

Als ich damit unter den Füßen dann doch mal von zuhause über die angrenzenden Felder gelaufen bin, habe ich dort zufällig zwei meiner Kumpels getroffen. Unweigerlich ging ihre Aufmerksamkeit direkt zu den noch hochglanzpolierten Schuhen. Da sie es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, erzählte ich ihnen, dass ich im kommenden Monat auf den Jakobsweg gehen würde und dazu meine Schuhe noch etwas einlaufen müsse. »Etwas« hat nun aber ganz offensichtlich nicht ausgereicht.

Jammern hilft nicht, ich muss mich des Problems annehmen. Etwas nervös ziehe ich den linken Schuh und die Socke aus, um meinen Fuß zu begutachten. Außer der geröteten Druckstelle, kann ich zum Glück nichts schlimmes feststellen. Noch nicht. Damit das auch so bleibt, pappe ich mir vorsorglich ein Blasenpflaster an die Stelle und ziehe den Schuh dann wieder an.

Der Regen hat mittlerweile ein wenig nachgelassen und stellenweise zeigt sich sogar für wenige Augenblicke die Sonne. Nachdem wir den Ort verlassen, in dem wir pausiert haben, gelangen wir wenig später endlich an einen pilgerfreundlichen Weg und müssen nicht weiter der Straße folgen. So oder zumindest so ähnlich haben wir uns den Jakobsweg vorgestellt. Hier brauchen wir nun keine Gefahren mehr durch hupende Autos zu befürchten. Da der Trampelpfad sehr eng ist, müssen wir zwar auch hier hintereinander laufen, aber das nehmen wir aufgrund der schönen Kulisse gerne in Kauf. Links und rechts Natur pur. Die vielen Bäume, ein kleiner Bach und die herrlich frische Luft bilden eine willkommene Abwechslung zur monotonen Landstraße.

Leider führt uns dieser nette Weg aber nicht direkt zu unserem Etappenziel, sondern schickt uns nach einer Weile zurück auf den unsympathischen Asphalt. Dort machen die Autos weiterhin Lärm und ihre Fahrer betätigen die Lichthupe, sobald sie Pilger sehen. Ein bisschen enttäuscht sind wir schon, aber es war schließlich unsere Entscheidung nicht den konventionellen, sondern den alternativen und vermutlich weniger schönen Weg nach Roncesvalles zu nehmen. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als weiterzulaufen und sich vor den Autofahrern in Acht zu nehmen.

Es geht stetig bergauf und von Minute zu Minute wird der Weg anstrengender. Obwohl die Temperatur nur knapp über Null Grad beträgt, fange ich so langsam an richtig zu schwitzen. Dass Pilgern kein Spaziergang über die Felder ist, wird mir spätestens jetzt bewusst. Der Rucksack folgt den Gesetzen der Schwerkraft und zieht mich unangenehm gen Boden. Immer und immer wieder justiere ich die Bändchen am Rucksack nach, um mir damit eine komfortablere Körperhaltung zu schaffen. Allerdings mag mir das nicht richtig gelingen und so muss ich unbeholfen mit einer etwas unnatürlichen, vorgebeugten Körperhaltung gehen, um nicht wie eine Pappfigur im Wind nach hinten umzukippen.

Die zwei südkoreanischen Ex-Militär haben offenbar kein Problem mit der Steigung, denn sie laufen ihr gewohntes Tempo ohne jegliche Ermüdungserscheinungen weiter. Als wir uns bei einer kleinen Verschnaufpause auf einer kleinen Grünfläche neben der Straße einen Apfel gönnen, trennen die beiden sich schließlich von uns für heute. So fit wie die sind, war das nur eine Frage der Zeit.

Da der Weg nun um einiges kräftezehrender ist als zu Beginn, haben wir unsere Gespräche fast komplett eingestellt. Eine der beiden Spanierinnen versucht es dann aber doch nochmal mit Smalltalk und fragt mich, wie ich denn gestern Nacht geschlafen habe. Weil ich eigentlich kaum Puste zum Sprechen habe, hole ich tief Luft und antworte ihr auf Spanisch äußerst knapp: »Nervioso… pero… bien.« Trotz der Aufregung habe ich verhältnismäßig ganz gut geschlafen. »Y tú?«, stelle ich ihr die Gegenfrage.

Sie fängt an zu kichern und sagt, dass sie selbst nicht schlafen konnte und daher ein Buch gelesen habe. Mitten in der Nacht hätte sie dann angeblich beobachtet, wie ich mich mehr als nur einmal im Bett aufgerichtet und verwirrt durch den Raum geblickt haben soll.

Ich vergewissere mich bei ihr, ob das wirklich ich gewesen bin. Denn heute Morgen war ich zwar ein wenig neben der Spur, aber geschlafen habe ich wie ein Stein.

Sie nickt.

Komisch. Offensichtlich habe ich mich nicht erst nach dem Aufwachen, sondern schon während dem Schlafen gefragt, wo ich hier eigentlich bin. Naja, ungewohnte Umgebung, ungewohnte Geräusche, unruhiger Schlaf. Hoffentlich wird das nicht zum Dauerzustand.

Etliche Höhenkilometer später werden wir erneut positiv überrascht. Die Wegweiser führen uns ein weiteres Mal abseits der Straße auf einen hübschen Fuß- beziehungsweise Radweg. Es geht nach wie vor steil bergauf und insbesondere Mark, der sich in den letzten Stunden immer mal wieder eine Zigarette angezündet hat, tut sich hierbei sichtlich schwer. Leider hat er auch nichts mehr zu trinken. Ich biete ihm meine Flasche an und sage, er könne sie austrinken. Aus schlechtem Gewissen lässt er mir aber doch noch etwas drin.

Als der Abstand zwischen ihm und dem Rest der Gruppe nach einer Zeit immer größer wird, beschließen wir zu pausieren und auf ihn zu warten. Irgendwann kommt er angeschlürft und steht merklich kurz vor dem K.O. Er schimpft über seine Hose, die sich aufgrund des Regenwetters mit Wasser voll gesogen habe und damit nun bleischwer geworden sei. Zudem möchte er seine Isomatte los werden, die für ihn nur unnötiger Ballast darstelle. Er lehnt sie an einen Wegweiser und hofft einem anderen Pilger damit eine Freude machen zu können. Die Spanierinnen halten das aber für keine gute Idee und schlagen vor, die Isomatte für ihn nach Roncesvalles abwechselnd zu tragen. Mark ist zwar davon überzeugt, dass er sie auf dem Jakobsweg zu keinem Zeitpunkt mehr brauchen wird, aber willigt ein. Um ihn für den Rest der Etappe zu Kräften kommen zu lassen, reiche ich ihm den letzten Schluck aus meiner Trinkflasche. Für unsere Unterstützung bedankt er sich mehr als nur einmal.

Während Mark seine Zigarettenschachtel auspackt und anfängt zu rauchen, teilt er uns schließlich folgendes mit: »Guys, you can go. Don’t worry about me. I’m going to make it.«

Er klingt sehr entschlossen und sich seiner Sache sicher. Allerdings reagieren wir etwas zögerlich auf seinen Entschluss und befürchten, dass er womöglich lediglich ein schlechtes Gewissen hat, uns aufzuhalten. Obwohl wir ihn vom Gegenteil versuchen zu überzeugen, schüttelt er nur vehement den Kopf. Dann vergewissert er unserer Gruppe ein weiteres Mal ausdrücklich, dass er mit Musik im Ohr und diversen Pausen den Anstieg nach Roncesvalles heute noch schaffen werde. Damit gibt er uns nun endgültig zu verstehen, dass wir nicht mehr auf ihn warten sollen. Also laufen Yoo-kyung, die zwei Spanierinnen und ich ohne ihn weiter.

Nach einem schier nicht enden wollenden, steinigen Pfad bergauf, gelangen wir irgendwann auf eine scheinbar still gelegte Straße. In der nebligen Ferne können wir ein Kreuz erkennen. Weil mich jeder weitere Anstieg heute matt gesetzt hätte, bin ich froh, dass wir nun für heute die nötigen Höhenmeter geschafft haben.

Aufgrund fehlender Wegweiser sind wir für einen kurzen Augenblick etwas desorientiert, bis wir schließlich vor uns andere Pilger sehen können. Wir gehen ihnen nach und werden auf der Suche nach Pfeilen und Jakobsmuscheln wieder fündig.

Nun ist es wirklich nicht mehr weit bis nach Roncesvalles. Yoo-kyung war bisher, wie auch ihre zwei Landsmänner, sehr ruhig und hat kaum geredet, aber so kurz vor dem heutigen Etappenziel kommt sie aus sich heraus. Sie freut sich sogar derart, dass sie schon fast den Tränen nahe ist. Auch die Spanierinnen fangen an zu jubeln: »Por fin llegamos!« Endlich sind wir da!

Als wir die ersten Gebäude von Roncesvalles sehen können, vernehmen wir bei zunehmend nebliger Sicht ein Hogwarts anmutendes Schloss. Nur kurze Zeit später stehen wir davor und es stellt sich heraus, dass das vermeintliche Schloss eine Abtei und zugleich unsere Schlafstätte heute Nacht ist. Wir betreten die Herberge und zahlen bei zwei netten holländischen Hospitaleros am Empfang zehn Euro für die Übernachtung. Laut meinem Reiseführer, ist das die mit Abstand teuerste kirchliche beziehungsweise öffentliche Pilgerherberge Spaniens. In unserem Zustand wären wir aber bestimmt gewillt, auch noch mehr für eine warme Dusche und ein Bett hinzublättern. Denn das ist alles, wonach wir uns jetzt sehnen.

Zuvor werden wir aber zu einem Raum gewiesen, in dem bereits mehrere Dutzend Pilger ihre Wanderboots zum Trocknen und Ausstinken in einem Regal abgestellt haben. Ich gehe sicher, dass dort keine allzu ähnlichen Schuhe stehen und stelle meine dazu.

Als wir vier den Raum verlassen, treffen wir auf die zwei Südkoreaner, die schon wesentlich früher angekommen sind und bereits geduscht haben. Beide sind wohlauf und freuen sich uns zu sehen. Sie informieren sich nach Mark und wir erzählen ihnen, dass er darauf bestand, die restliche Strecke alleine zu gehen.

Die letzten zwei Betten im ersten Stock haben die zwei Spanierinnen bekommen. Yoo-kyung und ich sind somit die ersten Pilger im zweiten Stock. Was das bedeutet, wird uns erst bewusst, als wir direkt neben der Rezeption vor der nach oben führenden Steintreppe stehen.

»Bitte lass das für heute wirklich die allerletzten Höhenmeter sein!«, seufze ich verzweifelt vor mich hin.

Eigentlich ja kein Problem für uns Jungspunds, aber nach dem heutigen Tag sehr wohl eine Herausforderung. Einen Aufzug gibt es offensichtlich nicht. Das hätte mich in diesem Gebäude ehrlich gesagt auch gewundert. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere unverschämt schweren Rucksäcken in den zweiten Stock zu hieven.

Wie gerne würden wir uns jetzt einfach nur ins Bett fallen lassen und bis morgen Früh durchschlafen. Allerdings sind wir vom Regen und den Anstrengungen des heutigen Tages nass bis auf die Haut. Noch nie in meinem Leben war das Bedürfnis nach einer warmen Dusche so groß wie heute. Daher lasse ich es mir nicht nehmen ganze dreißig Minuten unter dem wohltuend warmen Wasser zu stehen. Da der Duschhahn nach etwa dreißig Sekunden immer wieder automatisch ausgeht, muss ich zwar mindestens sechzig Mal auf den Knopf drücken, aber das ist mir in diesem Moment völlig egal.

Als ich wie neugeboren vor dem Spiegel stehe, bekomme ich die Spuren zu sehen, die mein Rucksack hinterlassen hat. Rote Striemen zieren meine schmerzenden Schultern. Zudem hat sich die Druckstelle an meinem Fuß trotz des Pflasters nochmals verschlimmbessert und ich werde höllisch aufpassen müssen, dass das nicht weiter ausartet. Ich bin unglaublich stolz auf die Leistung, die mein Körper heute erbracht hat. Aber ich führe mir auch vor Augen, dass das gerade mal die erste Etappe war und noch mindestens dreißig weitere folgen werden.

Ich brauche eine Weile bis ich über den langen Flur humpelnd wieder an meinem Bett angelangt bin. Dort fällt mir auf, dass ich meinen Rucksack und damit sämtliche Wertsachen unbeaufsichtigt zurückgelassen habe. Ich überprüfe den Inhalt und bin erleichtert, dass nichts fehlt. Jeder Mensch hätte sich theoretisch daran vergehen und so tun können, als sei es sein eigener Rucksack. Grundsätzlich glaube ich immer an das Gute im Menschen. Warum also nicht auch im Pilger? Meine Wertsachen werde ich dennoch von nun an besser bei mir tragen.

Yoo-kyung und ich hängen unsere durchnässten Klamotten auf der Heizung zum Trocknen auf.

»Mark!«, ruft sie plötzlich.

Total erschöpft, aber überglücklich uns wiederzusehen, trottet er auf uns zu. Ohne viel Worte zu verlieren, zeigen wir ihm wo die Duschen sind und schlagen vor anschließend gemeinsam irgendwo zu Abend essen zu gehen. Mark nickt uns müde zu und so verabreden wir uns für neunzehn Uhr vor den Schlafkabinen.

Weil Roncesvalles eine überschaubare Auswahl an Restaurants und Gaststätten hat, dauert es nicht lange, sich einen Überblick vom Angebot zu verschaffen. Wir entscheiden uns schließlich für eine kleinere Bar, in der bereits einige Leute sitzen und es zudem lecker riecht. Der Karte können wir entnehmen, dass es das Pilgermenü erst zu späterer Uhrzeit gibt. Das soll uns aber nach dem gestrigen Reinfall nur recht sein und greifen daher ohnehin lieber zu Nudeln mit Tomatensoße. Dazu trinken wir ein leckeres Bier und führen eine amüsante Unterhaltung mit einem italienischen Pilger, der ebenfalls bei uns am Tisch sitzt.

Wir verlassen die Bar als es anfängt dunkel zu werden. Auf dem Weg zurück zur Herberge, begegnen wir überraschend Luis und Claire. Die beiden haben von der Alternativroute nichts gewusst und sind den Weg über den Pass gelaufen. Sie sind gerade erst in Roncesvalles angekommen und, ähnlich wie nach unserer Ankunft, schöpfen sie nun aus den allerletzten Energiereserven. Wir können uns nur allzu gut vorstellen wie anstrengend ihre Etappe gewesen sein muss. Daher wollen wir die beiden nicht länger von ihrer wohlverdienten Dusche und einem leckeren Abendessen abhalten. Um ihnen bei der Suche nach etwas Essbarem zu helfen, empfehlen wir die Bar, aus der wir gerade kommen. Sie bedanken sich und wir wünschen uns bereits eine gute Nacht, da wir uns heute voraussichtlich nicht mehr sehen werden.

In der Herberge begutachten wir die zum Trocknen aufgehängte Wäsche und hegen starke Zweifel daran, ob sie bis morgen Früh ausreichend trocknen wird. Daher beschließen wir nach unserer ersten Etappe bereits einen Waschtag einzulegen. Im Keller der Abtei gibt es zum Glück nicht nur eine Waschmaschine, sondern auch einen Trockner. Gegen eine Gebühr in Höhe von acht Euro müssen Mark, Yoo-kyung und ich lediglich unsere Wäsche in einen Korb legen. Danach kümmern sich freiwillige Mitarbeiter der Herberge um den Rest.

»What a service!«, staunen wir nicht schlecht und wollen gerade den Keller über die Treppe verlassen, als wir erneut positiv überrascht werden. Dieses Gebäude verfügt sehr wohl über einen Fahrstuhl. Hellauf davon begeistert, dass wir uns nun das erneute Treppensteigen sparen können, befördert uns der ziemlich unscheinbare Lift in kürzester Zeit einige Höhenmeter nach oben.

Im Erdgeschoss sehen wir uns die weiteren Räumlichkeiten der Abtei an. Neben einem Aufenthaltsraum mit Bänken und Tischen, gibt es hier auch eine gut ausgestattete Küche, sowie einige Getränke- und Snackautomaten. Um ein weiteres Mal auf unsere erste und erfolgreiche Etappe anzustoßen, spendiert Yoo-kyung jedem von uns eine Dose Bier. Damit setzen wir uns an einen der Tische, nehmen einen großen Schluck und stellen nach einem Blick auf das Etikett der Dose lachend fest, das Yoo-kyung unbeabsichtigt zum alkoholfreien Bier gegriffen hat.

Während wir auf unsere Wäsche warten, gehen wir nochmal in den Raum mit den Automaten und sehen uns nach etwas Proviant für die morgige Etappe um. Auf dieselbe Idee kommen auch zwei deutsche Pilgerinnen, deren offensichtlicher Partnerlook nicht zu übersehen ist. Ich unterhalte mich kurz mit ihnen und erfahre, dass sie aus Düsseldorf kommen und bereits vor zwei Tagen mit dem Jakobsweg begonnen haben. Genau wie Luis und Claire, sind auch sie die Route über den Pass gelaufen. Allerdings haben die beiden auf den Wanderführer gehört und in Orisson einen Zwischenstopp eingelegt, bevor sie heute Morgen dann die verbleibenden neunzehn Kilometer nach Roncesvalles bewältigt haben.

Gegen einundzwanzig Uhr, holen Yoo-kyung, Mark und ich schließlich unsere Wäsche im Keller der Herberge ab. Auf dem Weg zurück treffen wir auf die Spanierinnen, die Mark seine Isomatte vorbeibringen wollen. Er schmunzelt und bedankt sich nochmal herzlich für ihre Hilfe. Da er aber dringend das Gewicht seines Rucksacks reduzieren müsse, bleibe er bei seinem Entschluss, fortan auf die Isomatte zu verzichten.

Auf einem Tisch im ersten Stock befindet sich ein Sammelsurium an T-Shirts, Hosen, Jacken, Wanderführern, Zeitschriften, Kissen, Unterwäsche, Wanderstöcken und sonstiger Pilgerkrimskrams. Mark legt die Isomatte und seine frisch gewaschene, sauganfällige Hose dazu und ist glücklich seinen Rucksack nun ein paar Gramm leichter gemacht zu haben. Und wer weiß, vielleicht konnte er tatsächlich damit einem anderen Pilger einen Gefallen tun.

Jetzt wollen auch Yoo-kyung und ich das Gewicht unserer Backpacks optimieren. Wir entleeren deren gesamten Inhalt auf unseren Betten und prüfen anschließend bei jedem Gepäckstück, ob es einen wirklichen Mehrwert hat oder nur unnötiger Ballast ist. Da sich bei einigen Dingen erst noch herausstellen muss, ob sie tatsächlich von Nutzen sind oder nicht, kann ich mich zunächst lediglich von einer Zeitschrift und einem meiner beiden Baumwollhandtücher trennen. Yoo-kyung dagegen fällt es weitaus schwerer der von Pilger angelegten Sammlung etwas beizusteuern. Das ist in ihrem Fall aber zu verkraften, da sie bereits top vorbereitet war und wirklich nur das allernötigste dabei hat. Ihr Rucksack wiegt weniger als acht Kilogramm.

Punkt zehn Uhr erlischt das Licht. Es gibt keinen Lichtschalter in den einzelnen Schlafkabinen. Entweder du hast Glück und liegst mit der Taschenlampe bereits im Bett. Oder du hast Pech und stolperst irgendwo durch die Dunkelheit.

Ich habe Glück gehabt. Gute Nacht!

heute: 26 km | verbleibend: 774 km

Ultreya auf dem Camino

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