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10. Februar, Paris

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Lisa Biaggi führt ein sehr geregeltes Leben. Sie verlässt frühmorgens ihre kleine Wohnung in der Rue de Belleville, nimmt an der Station Belleville die Métro, um nach La Défense zu gelangen, wo sie in einem Zentrum für Arbeitsmedizin als Sprechstundenhilfe arbeitet, und unterbricht die Fahrt an der Station Étoile, um an einem international gut sortierten Kiosk – Tourismus verpflichtet – die italienischen Zeitungen vom Vortag zu kaufen. Sie schlägt sie nicht gleich auf, sie nimmt sich Zeit zum Schlendern und lässt die Gedanken schweifen. Heute ist es sonnig und kühl, wie ein Vorgeschmack des Frühlings, sie setzt sich mit dem Gesicht zur Sonne auf eine Caféterrasse ganz am Anfang der Champs-Élysées und bestellt einen Cappuccino und Croissants. Dieser Zwischenstopp ist der beste Moment des Tages. Sie kostet ihn aus. Seit 1980 ist sie politischer Flüchtling in Frankreich, sie hat hier eine feste Arbeit gefunden, die ihr eine relativ komfortable Existenz ermöglicht, kann sich aber nicht dazu durchringen, hier tatsächlich ihr Leben zu leben. Sie ist über vierzig. Sie spürt, wie sich ihr Körper, ihr Gesicht, ihr Geist verhärten beim Warten auf die Rückkehr, aber es hilft nichts, und die Lektüre der Nachrichten aus der Heimat entfacht den Schmerz des Exils jeden Tag neu. Sie betrachtet den immer dichter werdenden Menschenstrom auf dem Gehweg, seufzt, der Cappuccino ist getrunken, die Pause ist zu Ende, sie schlägt den Corriere della Sera auf, beginnt gedankenverloren darin zu blättern. Schock. Im Innenteil Carlos Foto. Carlo, ihr Gefährte, der Mann ihres Lebens. Überschrift: Spektakuläre Flucht ... Mit Herzklopfen und verschwommenem Blick springt sie von Zeile zu Zeile.

In einem Müllwagen ... mit seinem Mithäftling, Filippo Zuliani, einem Kleinkriminellen ... Komplizen unter den Müllfahrern. Nach den beiden Flüchtigen wird gefahndet ... Fotos der beiden Flüchtigen. Der kleine Gauner sieht auch aus wie einer. Worauf hat sich Carlo in dessen Gesellschaft bloß eingelassen? Nicht sehr beruhigend.

Sie faltet die Zeitung zusammen, versucht sich einzureden, dass Carlo es schon schaffen wird, dass er noch nicht tot ist, aber vergeblich, sie sieht ihn tot. Sie sammelt ihre Sachen ein und macht sich auf in Richtung Métro, nach La Défense ins Büro. Zum Weinen ist es zu früh oder zu spät.

Im Vielleuse, Rue de Belleville, spielt Lisa Billard, augenscheinlich ganz ins Spiel vertieft, ihre schmale, hohe Gestalt über das grüne Tuch gebeugt, das Gesicht von ihren halblangen braunen Locken verdeckt, jede Bewegung präzise. Eine Gepflogenheit, die über acht Jahre zurückreicht, in die Zeit ihrer ersten geheimen Missionen in Paris, als Carlo ihr Kontaktmann zur Organisation in Mailand war. Billard beschäftigt Kopf und Hände, wenn man Abend für Abend zu festen Zeiten auf einen Anruf wartet. Lisa kam auf den Geschmack, und nach Carlos Verhaftung, als das Warten sich erübrigt hatte, machte sie weiter. Bei der Handvoll Stammgäste des Bistros gilt sie als gute Spielerin und wird sehr von ihnen geschätzt, passabel spielende Frauen gibt’s nicht so oft. Heute jedoch spielt sie wie früher, um sich das Warten zu verkürzen. Carlo ist wieder frei ... die alten Gewohnheiten aus der Untergrundzeit, warum nicht? Telefonklingeln, das dritte an diesem Abend. Jedes Mal zuckt sie zusammen, wie früher. Der Wirt nimmt ab, sieht sie an, winkt ihr zu, diesmal ist es für sie, sie eilt zu der alten Telefonkabine, verschließbar, diskret, ganz hinten im Raum, wie früher.

»Lisa, ich bin’s.«

Obwohl es sie sehr aufwühlt, zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder persönlich seine Stimme zu hören, ist ihr zum Lachen zumute, wer sonst sollte es denn sein? Ein seit sieben Jahren auf Eis liegendes telefonisches Stelldichein ...

»Ich weiß.«

»Ich wusste, ich würde dich erreichen. Ich liebe dich.«

»Ich habe Angst, Carlo.«

»Ganz ruhig. Ich habe wenig Zeit. Hör mir gut zu. Die Führungsspitze unserer Organisation hat erklärt, dass sie den bewaffneten Kampf einstellt und ihre Niederlage anerkennt.«

»Ich weiß, ich lese immer noch Zeitung.«

»Sie hat das Richtige getan, ich bin einverstanden, auch wenn ich gern gefragt worden wäre. Aber dadurch ändert sich die Lage. Ich habe den Kampf sieben Jahre lang im Knast fortgesetzt. Ich habe nicht aufgegeben, ich habe alle Weisungen befolgt. Doch jetzt legen wir die Waffen nieder, es ergibt keinen Sinn mehr, im Knast zu bleiben. Für den Heldentod habe ich nichts übrig.«

»Das heißt?«

»Das heißt, ich gehe fort.«

»Einfach so?«

»Ja, einfach so. Du erinnerst dich? Damals nannten wir das ›Politik der Ziele‹. Hält man ein Ziel für richtig und notwendig, nimmt man es in Angriff, man verwirklicht es, man wartet nicht, bis man darauf angesetzt wird. Ich habe mir meine Freiheit genommen.«

»Das ist idiotisch, jetzt, wo die Roten Brigaden angekündigt haben, dass sie die Waffen niederlegen, wird man euch in den kommenden Monaten freilassen. Und wir können vielleicht in die Heimat zurück.«

»Niemals. Du redest, als würdest du sie nicht kennen. Sie hassen uns, weil wir ihre erbärmlichen Machenschaften haben auffliegen lassen, und weil wir ihnen Angst gemacht haben, richtig Angst. Sie haben entdeckt, dass sie womöglich sterblich sind. Jetzt, wo sie gewonnen haben, werden sie uns dafür bezahlen lassen, sie rächen sich und werden sich weiterhin rächen, es wird niemals eine Amnestie geben, sie lassen uns bis in alle Ewigkeit im Knast oder im Exil vergammeln.«

»Das kann nicht sein, Carlo, es gibt noch Demokraten in diesem Land ...«

»Du bist naiv. Kennst du den Berg von Sondergesetzen, wie viele von uns sitzen im Knast? Fünftausend? Mehr? Du hast doch das neue Aussteiger-Gesetz gelesen? Erst die Reumütigen, jetzt die Aussteiger, du wirst sehen, was für verheerende Folgen das hat, wir werden an der Wurzel verfaulen. Wir werden in alle Richtungen auseinandergesprengt, sie werden alles daransetzen, uns zu vernichten, einen nach dem andern. Unsere Politiker, Pseudo-Demokraten inbegriffen, sind unfähige und rachgierige Versager.«

»Nehmen wir an, es wäre so. Erhöht das deine Chancen, davonzukommen?«

»Zumindest werde ich es versucht haben. Den Gefallen, im Gefängnis zu verrecken, tue ich ihnen nicht. Ich bereue nicht, ich steige nicht aus, ich leugne nichts, und die, die es tun, widern mich an. Denen aber, die gewonnen haben, sage ich, ihr könnt mich mal, ich beschaffe mir mit kleinstmöglichem Risiko Geld und Papiere und haue ab, ich werde anderswo leben, wo ich frei atmen kann.«

»Seit sie dich vor einem halben Jahr zu den gewöhnlichen Strafgefangenen verlegt haben, habe ich Angst. Ich fand das nicht normal. Ich habe Angst, dass das eine Falle ist. Und jetzt noch dieser Mithäftling ...«

»Keine Paranoia, Lisa.«

»Was jetzt, bin ich naiv oder paranoid?«

»Beides. Mach dir keine Sorgen. Mein Mithäftling und ich haben uns schon getrennt.«

»Und die Komplizen, von denen in den Zeitungen die Rede ist?«

»Die Müllfahrer. Das sind keine Politischen, sondern kleine Ganoven. Sie wurden bezahlt, sie sind untergetaucht und sie wissen nichts. Meine beiden derzeitigen Begleiter sind auch keine Politischen, und ich traue ihnen. Lisa, gib mir Zeit, dieses Geld und diese Papiere zu beschaffen, alles ist geplant und organisiert, das wird nicht schwierig, ich werde mich nicht in Gefahr begeben, und danach verschwinde ich ins Ausland. Von dort rufe ich dich an, und du kommst zu mir. Mein nächster Anruf wird der Beginn unseres neuen Lebens sein. Ich liebe dich, Lisa ...«

»Hör auf. Sei still. Das verkrafte ich nicht. Ich erwarte deinen nächsten Anruf.«

Sie legt auf. Die Angst ist unvermindert stark. Die Müllmänner sind keine Politischen, sind sie deshalb schon vertrauenswürdig? Kein Risiko, das glaubt sie nicht. Der Tod lauert überall. Sie lehnt sich gegen die Scheibe der Telefonkabine, atmet tief durch.

Ausbruch

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