Читать книгу Ausbruch - Dominique Manotti - Страница 9
4. März, Bologna
ОглавлениеEr läuft. Die Tage verrinnen, einer nach dem anderen, ohne Zwischenfälle, alle gleich, die Zeit hat kein Maß mehr. Nach zwei oder drei Wochen taucht eine wuchtige Kirche in Filippos Blickfeld auf, einsam liegt sie zwischen Bäumen auf einem Bergkamm. Er wagt sich bis auf den Vorplatz. Vor ihm fällt der Berg steil ab zu einer bis zum Horizont reichenden Ebene. Zu seinen Füßen, ganz nah, Bologna, mit seinen Türmen, seinen Campaniles, seinem von den neueren Stadtvierteln umschlossenen Altstadtkern aus braunem Stein und rosaroten Ziegeln, lebendiges buntes Treiben, das bis zu ihm heraufschallt. Er verharrt reglos. Durch das viele Laufen hat er schließlich sein Ziel erreicht, den Norden. Bittere Erinnerung an das Verlassenwerden, das ihn genau da hat landen lassen, wo er jetzt ist: auf einem Grat zwischen zwei Welten. Fest steht: Er ist verloren. Angst: »Du musst dich verstecken, bis sich die Lage beruhigt.« Woher weiß er, wann die Lage sich beruhigt hat? Sich verstecken, immerzu? Vor der Kirche beginnt ein Säulengang, halb Weg, halb Treppe, der fast schnurgerade zur Stadt hinunterführt. Die unzähligen gelb und rot gefärbten lichtdurchfluteten Arkaden künden von dem Glück, wieder auf menschliche Gesellschaft zu stoßen, auf belebte Straßen, auf Leute, die sich begegnen, drängeln, vielleicht miteinander reden. Überraschungen, Entdeckungen, Missgeschicke, die tausend Mosaiksteinchen des ständig pulsierenden urbanen Lebens, das Ende der Einsamkeit, dort, ganz nah, ein paar hundert Meter entfernt. Die Verlockung ist zu groß. Ohne länger zu überlegen, beginnt Filippo den Abstieg, fängt an zu rennen, stürmt den Hang hinab, springt von Stufe zu Stufe, mag kommen, was will.
Nachdem er in einem öffentlichen Bad, beim Frisör und beim Barbier gewesen ist, kauft sich Filippo eine Zeitung und setzt sich auf eine Caféterrasse, um sie bei einem Espresso durchzublättern. Nicht, dass Barbierbesuche oder Zeitunglesen zu seinen Gewohnheiten zählen, aber diese Handlungen scheinen ihm angemessene Rituale zur Feier seiner Rückkehr ins Stadtleben. Er faltet die Zeitung auseinander, wirft achtlos einen Blick darauf und bleibt an der Titelschlagzeile hängen.
Überschrift: GEHT DER ROTE TERROR WIEDER LOS? Unterzeile: »Ehemaliger Anführer der Roten Brigaden bei missglücktem Bankraub in Mailand getötet.«
Kumpels von Carlo vielleicht? Der Artikelvorspann springt ihm ins Gesicht:
Carlo Fedeli, einer der dienstältesten Aktivisten der Roten Brigaden, der vor drei Wochen aus dem Gefängnis geflohen war, wurde gestern vor der Mailänder Filiale der Banca di Sardegna e Piemonte in der Via Del Battifolle 10 bei einem versuchten Raubüberfall getötet ...
Sein Blick verschwimmt, er krümmt sich auf seinem Stuhl, atmet stoßweise, Tränen steigen ihm in die Augen. Das Gefühl, im Stich gelassen, verraten worden zu sein, war so stark, dass er die Erinnerung an Carlo komplett verbannt hatte. Jetzt kehrt sie mit Macht zurück. »Versteck dich ... Pass auf dich auf.« Du hast mich nicht im Stich gelassen, du bist in den Krieg gezogen und hast versucht mich zu schützen. Ich aber dachte, du lässt mich fallen, ich habe dir nicht vertraut, der Verräter bin ich, ich schäme mich.
Als er wieder ruhig atmen kann, liest er weiter.
Gestern, am Freitag, dem 3. März, hält gegen 15 Uhr ein Geldtransporter vor der Filiale der Banca di Sardegna e Piemonte in der Mailänder Via Del Battifolle. Zwei Mann bewaffneter Geleitschutz, Massimo Gasparini und Fredo Albrizio, steigen aus und betreten die Bank, in der sie sich maximal zwei Minuten aufhalten dürfen. Sie sind Profis. Die Zeitpläne ihrer Touren wechseln täglich, um die Gefahr von Überfällen auszuschließen. Doch diesmal wurden sie erwartet.
Kaum haben sie die Bank betreten, halten zwei Lieferwagen in Parkbuchten links und rechts der Filiale und versperren so die Sicht auf ein breites Stück Gehweg. Die beiden Wachmänner kommen heraus, einer trägt zwei Säcke, der andere hat die Hand am Holster. In dem Augenblick steigt Carlo Fedeli mit gezogener Waffe aus dem rechten Lieferwagen und brüllt dem bewaffneten Wachmann zu, er soll die Hände hochnehmen, während zwei Komplizen aus dem anderen Lieferwagen springen, um die Säcke in ihre Gewalt zu bringen. Genau in diesem Moment kommen zufällig zwei Carabinieri aus den Kundenräumen, wo einer der beiden, ein Stammkunde dieser Filiale, soeben Schecks auf sein Konto eingezahlt hat. Dann geht alles sehr schnell. Die beiden Carabinieri greifen zu ihren Waffen, Carlo Fedeli dreht sich um, richtet die Waffe auf sie, ein Schuss fällt, abgegeben von einem der Geldtransportbegleiter oder einem von Fedelis Komplizen. Carabiniere Lucio Renzi sieht sich bedroht, schießt und trifft Carlo Fedeli, der auf der Stelle tot ist. Seine beiden Komplizen begreifen, dass das Unternehmen gescheitert ist, feuern ihrerseits ein paar Salven ab, um ihre Flucht zu sichern, und töten Carabiniere Giorgio Barbieri, 28 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier kleiner Kinder von 1 und 3 Jahren, sowie einen der Geldtransportfahrer, Nino Gasparini, ebenfalls verheiratet und Vater einer fünfjährigen Tochter. Dann verschwinden sie, vermutlich auf ein oder zwei Motorrädern. Die beiden Lieferwagen waren gestohlen. Sie werden derzeit von Kriminaltechnikern untersucht, bislang ohne Ergebnis.
Die Polizei hat die flüchtigen Komplizen noch nicht identifiziert, verfolgt aber eine heiße Spur.
Erste Reaktion, idiotisch: Und wenn es gar nicht wahr ist? Er setzt eine unbeteiligte Miene auf, steht auf und kauft am nahe gelegenen Kiosk zwei weitere Tageszeitungen. Kehrt zu seinem Tisch zurück, faltet sie auseinander. Doch, da ist die Meldung, identisch. Auf einer der Titelseiten prangt sogar ein großes Foto von drei mit Planen zugedeckten Leichen, einem blutverschmierten Gehweg.
Es ist also wahr. Muss wahr sein. Jetzt darf er im Schmerz versinken, den Blick starr auf das Foto geheftet. Ein paar Tränen. Erinnerungen. Die langen Gespräche, die Freundschaft, ja Bewunderung für diesen Mann, der so gut reden konnte. Durch das viele Zuhören dachte ich schließlich, die Geschichte, die er erzählte, wäre irgendwie ein bisschen auch meine Geschichte. Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts, wie ein Loch in meinem Leben.
Dann, Schock, Carlos Sätze, die sich jäh und glasklar zurückmelden: »Ich denke, man wird viel über meine Flucht reden. Und man wird nach dir fahnden, weil du mit mir geflohen bist. Du musst dich eine Zeitlang verstecken, bis sich die Lage beruhigt.« Für einen Moment hatte Schweigen geherrscht, dann hatte Carlo gefragt: »Verstehst du, was ich dir sage?« Natürlich nicht, in dem Augenblick hatte er es nicht verstanden, und er fühlt sich schuldig. Jetzt wiegen diese Worte tonnenschwer. »Man wird viel über meine Flucht reden.« Warum seine Flucht? Es war auch meine, oder etwa nicht? Ich muss unbedingt Presseberichte über unsere Flucht auftreiben. Wo kriegt man die her? Filippo faltet seine Zeitungen zusammen, steckt sie in den Rucksack, bezahlt seinen Kaffee und macht sich auf die Suche nach einer öffentlichen Bibliothek.
In der Stadtbibliothek ist die inländische Tagespresse des gesamten zurückliegenden Monats frei zugänglich. Es sind kaum Leute da. Filippo findet schnell die Zeitungen von der Woche ihrer Flucht, erinnert sich aber vor Aufregung nicht an das genaue Datum. Er schnappt sich die komplette Woche und setzt sich mit dem Rücken zum Raum an einen Einzelplatz.
Rasch stößt er auf die Titelseite der Stampa, Schlagzeile: »Flucht eines ›Gründervaters‹ der Roten Brigaden.« Darunter zwei Fotos: eins von Carlo und eins von ihm. Neuerlicher Schock. Ein Bild von ihm, Filippo, vorn auf einer Zeitung. Das ist doch aberwitzig. Er schließt die Augen, fährt mit der Hand über das Foto, betrachtet es erneut, es ist immer noch da, er muss sich damit abfinden. Er liest die Bildunterschrift: »Filippo Zuliani, verurteilter Straftäter und Mithäftling von Carlo Fedeli, wichtigster Komplize bei einem von langer Hand geplanten Ausbruch.«
Komplize bei einem von langer Hand geplanten Ausbruch. Diesmal packt ihn Panik. Die Polizei fahndet nach den Komplizen des Bankraubs, nach den Polizistenmördern, und sie verfolgen eine heiße Spur. Die heiße Spur bist du. Wichtigster Komplize bei einem von langer Hand geplanten Ausbruch, und kannst nicht beweisen, dass du zur Zeit des Überfalls allein durchs Gebirge gewandert bist. Kannst nicht beweisen, dass du nicht auf diesem Gehweg vor dieser Bank in Mailand warst, wo du noch nie gewesen bist. Seine Geschichte ist ein bisschen auch meine Geschichte. Nein, sie ist nicht ein bisschen deine Geschichte, du steckst bis zum Hals mit drin. Wenn die Bullen dich schnappen, bist du erledigt. Und hier in der Zeitung ist dein Foto. Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Wie dumm von dir, zum Barbier zu gehen. Wie kommt es, dass du noch nicht erkannt worden bist? Irrsinniger Drang zu fliehen. Kämpf dagegen an. Verhalte dich unauffällig. Die Zeitungen müssen zurückgeräumt werden. Schweißausbruch, feuchte Hände. Stocksteif legt er die Zeitungen zurück an ihren Platz, kontrolliert, ob sie richtig einsortiert sind, steuert auf den Ausgang zu. Nichts geschieht. Er geht hinaus. Niemand spricht ihn an.
Er läuft durch irgendwelche Straßen, setzt sich auf eine Bank, um sich wieder zu fangen. Zwei Tote. Man wird mir zwei Tote anhängen. Zwei Tote, einer davon ein Carabiniere. Das steh ich niemals durch. Nicht ich, nicht zwei Tote, das ist vollkommen aberwitzig. Dazu hab ich gar nicht das Zeug. Einziger Ausweg, abhauen, verschwinden. »Falls es dir in Italien zu heiß wird, geh nach Frankreich. Lisa Biaggi in Paris. Geh zu ihr, sag, dass ich dich schicke, sie wird dir helfen.« Die hatte er ganz vergessen. Er greift in den Rucksack, wühlt hektisch darin herum, da ist er ja, ganz unten, der Umschlag mit Lisas Adresse. Das ist die Rettung.