Читать книгу Salamura - Eine abenteuerliche Pilzsuche im Balkan - Donna Paula - Страница 5
Sarajevo zum Ersten ...
ОглавлениеEmina rief hin und wieder an, wir riefen jeweils gleich zurück, wegen den Telefonkosten. Sie wohnten bei einem Onkel und einer Tante in Sarajevo. Das Haus hatte drei Zimmer. In einem wohnte die ganze vierköpfige Familie, im zweiten der Onkel und die Tante und im dritten Mirsads Stiefmutter! In der ersten Zeit taten Christine und ich nichts anderes als Adisa bei Laune zu halten. Wir hatten Angst, dass sie sich etwas antun könnte, weil sie mit dem neuen Leben nicht fertig wurde. Die Lehrer waren Staatsangestellte und plagten Adisa mit Bemerkungen wie: „Was hast du bloss, du warst doch in der schönen Schweiz, ihr seid reich, wir mussten hier ausharren, während ihr ein paradiesisches Leben führtet.“ Adisa konnte noch so oft sagen, dass das nicht stimmte, niemand hörte ihr zu oder glaubte ihr. Emina ging es einigermassen gut. Sie konnte sich besser in die neue Situation hineinschicken. Zudem hatten sie noch Geld aus der Schweiz, das sie mit nach Bosnien genommen hatte. Beim zuständigen Büro in Sarajevo, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, bekamen sie noch Rückkehrgeld. Die Existenz war so wenigstens für ein Jahr gesichert. Mirsad erzählte mir, dass es fast aussichtslos sei, Arbeit zu finden. „Na ja, jetzt warte mal. Ihr seid ja noch keinen Monat da.“ Emina fragte mich jedes Mal am Telefon: „Wann kommst du und Christine?“ Irgendwann konnten wir sie nicht mehr vertrösten.
Christine und ich setzten uns zusammen und suchten ein Datum: 16.10. – 19.10.98. Ich buchte die Flüge. Meine Bekannte, die Reisefachfrau, fragte mich belustigt: „Was, du fliegst? Ich dachte, du hättest solche Angst?“ Hatte ich auch, aber ich hatte Emina fest versprochen, dass ich kommen würde.
Dann hörten wir in den Nachrichten, dass Milosevic im Kosovo mit den Albanern Krieg anzettelte. Unsere Umgebung reagierte dementsprechend und nannte uns weiss der Kuckuck was, weil wir ins „Kriegsgebiet“ reisen wollten. Aber nicht doch: Der Kosovo war anderswo, das war nicht Bosnien. Ich war ein schöner Angeber. Vor einem Jahr hatte ich selbst nicht gewusst, wo die verschiedenen Landesgrenzen des ehemaligen Jugoslawiens begannen und wo sie aufhörten.
Ich rief eine Bundesstelle in Bern an und fragte nach den Gefahren bei einer Reise nach Sarajevo. Die konnten mir jedoch nicht viel sagen und empfahlen mir, mich auf der Schweizer Botschaft in Sarajevo zu erkundigen. Dies tat ich dann auch und eine Frau mit einem sympathischen Berner Dialekt versicherte mir, dass ich überhaupt keine Bedenken zu haben brauche. Sie würde sich hier in Sarajevo auf jeden Fall sicherer fühlen als in Zürich. Ich sagte ihr, dass ich auch Geschäftsfrau sei, im KMU-Bereich. Ob es in Bosnien für Kleinbetriebe wie unsere Firma Möglichkeiten geben würde, Arbeitsplätze zu schaffen? Sie stellte mich zum Herrn Botschafter durch. Ein Fribourger, freundlich und sehr hilfsbereit. Wann ich denn komme? Ich sagte es ihm. „Dann machen wir doch gleich ein paar Termine ab. Montag, das reicht noch gut vor ihrem Heimflug.“ Er erzählte mir von Projekten, die das DEZA dort unten machte. „Was ist das DEZA?“ „Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit.“ Ich seufzte, die Abkürzungen dieser ganzen Behörden waren mir ein Buch mit sieben Siegeln. Aber der Botschafter lachte nur, sagte, dass das normal sei und sie das manchmal vergassen im Gespräch mit „Ausserbeamten“. Tage später rief eine Dame an. Sagte, dass sie beauftragt worden war, etwas zusammenzustellen. Ich würde es per Fax bekommen. Ich solle ihr mitteilen, ob das so in Ordnung sei. Das Fax kam umgehend. Ich war mir bei den Verwaltungen ein so speditives Tempo nicht gewohnt. Ausser sie wollten etwas von dir. Auf dem Fax stand, dass wir uns am Montag, dem 19. Oktober 1998, um 8 Uhr bei einem Herrn Hugo melden sollten. Die Adresse lag bei.
Christine und ich fuhren am 16. Oktober auf den Flughafen Zürich. Wir wussten, dass wir beide in unseren Koffern mehr als die erlaubten 20 kg mitführten. Wir mussten uns geradezu wehren gegen die ganze Dorfbevölkerung, dass sie uns nicht ihr ganzes Hab und Gut mitgeben wollten. Am Schluss hatten wir jeweils am Telefon nur noch gesagt, gebt uns Geld mit, das können sie bestimmt gebrauchen. Es kam Geld, eine ganze Menge sogar, von Leuten, denen ich das nie zugetraut hätte, von solchen, die selbst nicht viel hatten.
Beim Check-in steuerte ich auf einen Schalter zu, der mit einem Mann besetzt war, setzte mein schönstes Lächeln auf, das ich besass, und stellte den Koffer auf die Waage. 24 kg! Bei Christine ebenso. „Wohin fliegen sie, aha, nach Sarajevo?“ „Ja. Hören Sie, das ist alles nicht für uns. Wir wissen, dass es zu schwer ist.“ Wir zeigten auf unser Handgepäck, das wirklich nur das Nötigste für uns beinhaltete und erklärten ihm kurz unseren Reisegrund. Der Herr schaute uns an und sagte: „Also, alles zusammen 60 kg, aber nicht mehr! Ich drücke beide Augen zu.“ Er bekam von uns beiden den nettesten und dankbarsten Blick geschenkt, den er wahrscheinlich je bekommen hatte. Wir gaben zusätzlich eines unserer Handgepäcke auf und entschlossen uns, einen Rucksack zu kaufen und den mit Käse, Cervelats, Spaghetti und Schokolade zu füllen. Als Handgepäck! Gesagt, getan. Der Rucksack hing schwer von unseren Schultern, wurde aber akzeptiert.
Wir sassen im Flieger. Mein Herz klopfte wie wild. Wir starteten. Christine redete unaufhörlich auf mich ein, erzählte mir irgendetwas, nur damit ich meine Flugangst vergass. Kaum bekamen wir etwas zu trinken, bestellte Christine zwei Gläser Champagner. Wenn schon, denn schon. Keine Wolke war am Himmel, fast den ganzen Flug lang. Im Anflug auf Sarajevo erkannten wir einen grossen Friedhof auf einem ehemaligen Fussballfeld, dann unzählige zerbombte Häuser, fast alle ohne Dach, einige davon nur noch Ruinen. Wir landeten und bekamen kurz darauf den Flughafen zu sehen. Die Hälfte des Gebäudes war beschädigt oder gar nicht mehr da. Wir durften aussteigen. Zu Fuss ging’s zum Terminal. Wir mussten vom Flugzeug bis zum Gebäude durch ein Spalier von Soldaten mit Maschinengewehren marschieren. Mit ernster Miene wurde uns klar gemacht, wo wir durchgehen durften. Jeder Meter Abweichung wurde sofort mit harten bosnischen Worten korrigiert. Im Terminal hingen Kabel von den Decken. Die Klimaschächte waren offen. Am Zoll wurde jeder Pass kontrolliert, das hiess: Namen in den PC eingegeben, nochmals eingetippt, bös angeschaut, Stempel in den Pass geschmettert und mit unbeweglicher Mine gerufen: „Nächster!“
Baggage-Claim: ein Loch, das mal ein Fenster gewesen war, ein schäbiges Rollband und von draussen wurden die Gepäckstücke sorgfältig aufs Transportband gelegt. Runter mit dem Zeug. Am Zoll: Durchleuchten des Handgepäcks, Pass nochmals vorweisen und dann durften wir endlich gehen.
Draussen in der improvisierten Ankunftshalle wartete eine riesige Menschenmenge auf die Ankommenden. Sofort eilte Mirsad herbei und half uns, die Koffer zu tragen. Emina war auch da und überglücklich, uns zu sehen. Schnell raus und ein Taxi suchen. Mirsad handelte mit dem Fahrer den Preis aus, der lud unsere Koffer in den Kofferraum, brachte ihn aber nicht zu. Mit einem Gummiseil ging’s schliesslich auch.
Wir verliessen das Flughafenareal und fuhren Richtung Nevestina 11, am andern Ende der Stadt. Es war beklemmend, schockierend für mich. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, was ein Krieg anrichten konnte. Die schönsten Gebäude einfach zerbombt. Das Zeitungsgebäude, ein halber Trümmerhaufen und doch wurde dort schon wieder produziert, allerdings im Keller, wie ich später erfuhr. Das ehemals schmucke, olympische Dorf war auch kein schöner Anblick. Zwei Hochhäuser, eines komplett ohne Fenster, das andere teilweise ohne, aber bereits in den unteren Stockwerken wieder belegt. Schweigend fuhren wir bergauf durch die Stadt. Die letzten paar Meter drehten dem Taxi auf der Schotterstrasse die Räder durch. Steigung mindestens 20 %. Wir befürchteten schon, dass die Koffer aus dem Auto fallen würden, da hielt der Fahrer an. Wir waren da.
Der Ausblick war wunderschön. Serlans Häuschen erinnerte mich an ein Rustico im Tessin. Fehlten nur noch die Palmen ... Sie wohnten im Moment alleine hier. Nur die Stiefmutter lebte ebenfalls noch da, war zurzeit aber abwesend. Emina und Mirsad hatten das Haus für 20‘000.-- Deutschmark (DEM) von ihrem pensionierten Onkel gekauft, weil der ein zweites Haus in der Stadt hatte und das tägliche Hinaufsteigen zu anstrengend für ihn wurde.
Sie hatten das Haus sehr schön hergerichtet. Das Erdgeschoss bestand ursprünglich nur aus einem Zimmer und einer Küche, die man aber nur durchs Freie erreichen konnte. Dazwischen ging eine Treppe ins Obergeschoss, wo sich weitere zwei Zimmer plus ein Bad befanden. Mirsad hatte vor die Küche und das Zimmer einen weiteren Raum angebaut, der nun das Wohnzimmer war. Ebenso hatte er Platz für ein WC mit Dusche gefunden. Voller Stolz zeigte uns Mirsad, was er alles selbst gemacht hatte. Im Untergeschoss alles frisch gefliest mit weissen Kacheln. Er lachte und zeigte mir das Handwerkerbuch, das ich ihm geschickt hatte. Er hätte alles Wissen aus diesem Buch. Das Haus sah schön aus. Sehr gemütlich. Und wir packten nun unsere Koffer aus. Für Emina und ihre Familie war es beinahe wie Weihnachten.
Und dann mussten wir natürlich essen! Emina hatte gekocht, es hätte für eine ganze Armee gereicht. Es schmeckte alles herrlich. Mirsad holte sogar einen Rotwein hervor.
Nach dem Essen stellten wir die beiden Mottenschränke auf, die in unserem Gepäck Platz gefunden hatten und für das hohe Gewicht verantwortlich waren. Christine war „leicht“ beschwipst und das Zusammenstellen dieser Dinger bereitete uns von der Konzentration her ein wenig Mühe. Aber schliesslich standen die beiden blauen Schränke mehr oder weniger gerade und wurden gleich von Emina mit dem restlichen Inhalt, den wir aus den Koffern zauberten, gefüllt. Adisa flüsterte uns zwischendurch strahlend zu, dass sie ihre Eltern schon lange nicht mehr so fröhlich gesehen hätte.
Wir hatten zu viel Rotwein getrunken, es war dunkel und wir trauten uns nicht mehr raus. Nicht wegen Sarajevo, eher wegen dem leichten Schwanken gewisser Personen. Um zwei Uhr morgens gingen wir alle schlafen. Emina und Mirsad überliessen uns ihr Ehebett.
Christine stöhnte, als sie sich aufs Bett legte, es drehe sich alles ... dafür schliefen wir ausgezeichnet.
Samstagmorgen! Wir erwachten mit dem Duft von frischem Kaffee in der Nase. Ganz leise war Emina aufgestanden und wir durften uns im Pyjama an den Frühstückstisch setzen, ein Zeichen mehr, dass wir uns wohlfühlten. Es hätte an diesem Tag keinen Kaffee gebraucht, um uns aufzuwecken, nein. Ein Blick in die Küche liess Christine und mich zusammenfahren. Emina und Mirsad hatten auf einer Matratze auf dem kalten Fussboden geschlafen, nur damit wir es schön warm hatten. Unser Protest wurde von Emina aber mit einer resoluten Handbewegung unter den Tisch gekehrt. Chancenlos. Wir wollten uns dafür etwas einfallen lassen.
Nach dem ausgiebigen Frühstück ging’s zu Fuss in die Stadt. Es war ein wunderschöner, warmer Herbsttag. Der Strasse entlang, die Anhöhe hinunter kamen wir am einzigen Freibad von Sarajevo vorbei. Renovationsbedürftig, aber anscheinend badeten die Leute dort trotzdem, wie Adisa erzählte. Wir erreichten den berühmten Altstadtplatz mit seinen Tauben. Praktisch die gesamte Altstadt wurde wieder aufgebaut. Die Bazare wirkten einladend mit ihren Auslagen. Die türkische Präsenz war in den meisten Waren unverkennbar. Wir schlenderten durch die Altstadt, tranken bosnischen Kaffee in den wunderschönen Strassenrestaurants. Mir machten vor allem die Stühle Eindruck. Meist aus Rattan- oder Peddigrohrgeflecht und alle mit Kissen! Am späteren Nachmittag kaufte Emina Pitarollen ein. Christine und ich kauften den Kuchen. Wir hatten schon beim Hinuntergehen, gleich zu Beginn der Altstadt, eine Konditorei gesehen. Uns lief das Wasser im Mund zusammen. Eine ganze Schachtel voll Tortenstücke hatten wir eingekauft. Die reichten für die nächsten zwei Tage! Nach dem Abendessen gingen wir mit Adisa spazieren. Sie weinte und fand alles schrecklich in Bosnien, selbst die Lehrer. Für gute Noten musste sie nur einen Blumenstrauss oder Schokolade bringen ... Selbst da wurde schon Bestechung gelehrt. Wir versuchten, Adisa so gut es ging zu trösten. Denn zurück in die Schweiz konnte sie nicht, wir sagten ihr das auch, damit nicht falsche Hoffnungen an unseren Besuch geknüpft wurden. Wir sagten ihr aber auch, dass ganz viele Leute aus unserem Dorf an sie denken würden und sie beginnen solle, ein Tagebuch zu schreiben. Dort ihren Gefühlen, Ängsten und auch Freuden Ausdruck geben könnte. In einer Papeterie hatten wir ihr und Jasmin Schreibzeug, Hefte, Couverts und Schreibblöcke gekauft. Sauteuer, aber das interessierte uns nicht. Auf der Post noch einen Bogen Briefmarken, Reichweite Schweiz.
Diesmal gingen wir früher und mit weniger Alkohol im Blut zu Bett.
Sonntagmorgen. Ebenso strahlender Sonnenschein wie gestern. Heute wollten wir das Eisstadion aus der Olympiazeit besichtigen. Alles zu Fuss. Wieder durch die Altstadt, dann gingen wir rechts Richtung Vogosca. Ein Mehrfamilienhaus hatte in der Wand ein Loch so gross wie zwei Türen, mitten an der Aussenwand zum Wohnzimmer. Leute wohnten trotzdem drin, der Schaden wurde mit Brettern notdürftig behoben. Wir kamen an der amerikanischen SFOR vorbei und erblickten dann das Stadion. Obwohl von den Franzosen und Holländern wieder aufgebaut, sah man den enormen Schaden. Das ganze Stadion war im Krieg in Brand gesetzt worden. Und gleich dahinter entdeckten wir das Fussballstadion. Dieses sah wieder wie neu aus. Die bosnische Fussball-Nationalmannschaft war der ganze Stolz von Jasmin. Zwei Stunden waren wir nun schon zu Fuss unterwegs. Christine und ich wollten einen Blick hinter die Anhöhe werfen und erklommen diese mit ein paar Schritten eine Grasböschung hinauf. Vorsichtig, denn man hatte uns gesagt, dass man Strassen und Wege nicht verlassen dürfe, wegen den Minen. Der Anblick liess uns erschauern! Soweit das Auge reichte, nichts als Friedhof, Friedhof, Friedhof.
Mit bedrückter Stimmung gingen wir langsam wieder stadteinwärts, denn wir hatten uns um 17 Uhr mit der Dame, die temporär die Frau auf der Schweizerbotschaft vertrat, verabredet. Wir warteten in einem Restaurant gleich neben der Badi auf sie, von dort hatten wir die ganze Strasse im Blick. Ich erkannte sie schon von Weitem aufgrund ihrer Beschreibung. Begrüssung und Vorstellung aller Anwesenden. Emina fragte, ob sie nicht zu einem Kaffee in ihre Wohnung kommen wolle. Ja, gern. Kaffee sei gut. Emina brachte natürlich gleich ein Nachtessen auf den Tisch. Katharina, so hiess die Dame, war mir sehr sympathisch und wir verstanden uns auf Anhieb bestens. Sie werde nur einen Monat als Ferienvertretung für Frau Botschaftssekretärin hier bleiben. Sonst lebte sie nämlich in Paris und hatte dort einen Freund. Sie meinte, dass es ihr ganz gut tue, mal „die andere Seite“ des Lebens zu sehen. Katharina, Christine und ich halfen Emina beim Abwasch. So richtige Frauenrunde. Wir lachten viel. Der Abend kam, Katharina verabschiedete sich, wir begleiteten sie bis zur katholischen Kirche. (Erstaunlich wie nah katholische Basiliken, orthodoxe Kirchen und Moscheen hier beieinander waren.) Auf dem Rückweg hatte Adisa wieder ihre Krise ... Wir gingen früh ins Bett, denn am nächsten Morgen mussten wir spätestens um halb sieben aus den Federn.
Montag, 8 Uhr. Termin bei der DEZA! Ausgerechnet jetzt bekam ich Dünnpfiff! Kunststück, hatte so viel Cassis-Sirup mit normalem Leitungswasser getrunken. Jetzt hatte ich die Quittung. Oder war es am Ende schon die Flugangst, weil wir heute wieder zurückfliegen würden? Schnell gehen konnte ich nicht, wir brauchten mehr als eine halbe Stunde, waren aber pünktlich um 8 Uhr vor der Josipa Stadlera. Leute kamen, schauten uns komisch an und gingen dann rein. Als sich nichts rührte, gingen wir auch rein. Eine dunkelhaarige Schönheit führte uns in den ersten Stock. Dort wurden wir von Herr Hugo begrüsst. Wem es um Himmelswillen eingefallen sei, den Termin soooo früh zu fixieren? Aber Hallo, mit solcher Arroganz war man bei mir gerade richtig gelandet. „Sicher nicht wir, das hat die Botschaft so festgesetzt.“ Herr Hugo musterte uns und fuhr mit den Worten fort: „Aha, eine ganze Delegation?“ Ja, da müsste er halt noch Stühle suchen. Schlussendlich holte er seinen Bürostuhl mit Rollen, schob ihn mit lautem Geratter aus seinem Heiligtum und setzte sich mit Block und Schreiber hin. Ich merkte, dass er nur so arrogant tat, aber eigentlich genau so nervös war wie wir. Dieser Umstand belustigte mich. Ich erklärte ihm kurz, warum wir in Bosnien waren und dass der Besuch bei ihm dazu dienen sollte, Informationen zu erhalten, welche Möglichkeiten KMUs in Bosnien hätten, um Arbeitsplätze zu schaffen oder wo man investieren könnte. Herr Hugo sagte, dass wir uns keine Illusionen machen sollten. Schmerzlich, aber klar zeigte er die Fakten auf. Es schien unmöglich. Ein wenig deprimierend war das schon.
Hugo hatte beim Landwirtschaftsminister Faruk einen Termin vereinbart. Bevor wir losfuhren, musste ich unbedingt wieder die Toilette aufsuchen und hoffte inbrünstig, dass die nächste halbe Stunde nach mir niemand rein musste, der mich kannte ... Mit einem Wagen der DEZA fuhren wir zum Ministerium. Ein Jeep, vorne der Fahrer und auf dem Beifahrersitz Herr Hugo, der sich noch schnell einen „Bändel“ umbinden musste, wie er sagte (er meinte damit seine Krawatte), hinten wir alle zu viert! Schönes Gestapel. Der Termin bei Faruk war schwach, nicht nur weil ich dort zuerst wieder auf die Toilette musste. Der Minister erzählte mit sichtlichem Stolz, dass er in Deutschland, und dort sogar Mitglied der Greenpeace gewesen sei (erzählt man doch niemandem, der mit wirtschaftlichen Interessen kommt, schon gar nicht einem möglichen Investor). Er erzählte viel, aber nichts Konkretes. Wir fragten ihn, wieso die Hügel ringsum überall so vertikale braune Streifen hätten. Man erklärte uns, dass während des Krieges so ziemlich alles abgeholzt wurde, teils weil die Leute Brennholz brauchten, teils weil oben am Horizont gleich die Grenze zur Republik Srbska begann, dem serbischen Teil Bosniens. Dort sei die Frontlinie gewesen und die Bäume seien abgeholzt worden, damit sich die Bewohner von Sarajevo nicht darin verstecken konnten ... Wir bekamen einen Prospekt in die Hand gedrückt: Fondation irgendetwas in Bosnien. Mir war das zu wenig und ich fragte ihn gerade heraus, was er mit 10‘000.—DEM machen würde, wenn er diese zur Verfügung hätte. Er rang nach einer Antwort und meinte schliesslich, oh, man könne ein Stück Land pachten und Kühe halten, oder Hühner, und ich hätte viele Möglichkeiten, es sei fast alles möglich hier, ich könne sogar einen bosnischen Pass haben. Der Pfennig fiel bei Hugo und mir fast gleichzeitig. Wenige Minuten später war das Gespräch dann zu Ende.
Kaum draussen auf dem Gang, musste ich schon wieder „für Mädchen“. Hugo grinste verständnisvoll, anscheinend nichts Neues hier. Auf der Rückfahrt ins DEZA riss er sich die Krawatte vom Hals und schimpfte über diese kroatische Erfindung. Ob ich wisse, dass das Wort Krawatte vom Wort Kroate abstamme? Nein, wusste ich nicht, war auch nicht mein dringendstes Problem. Wieder am Sitzungstisch kamen wir ins Gespräch über unsere Firma, Wohnort und wo wir aufgewachsen seien. Und siehe da, beide waren wir aus der gleichen Stadt! Und hatten uns noch nie im Leben gesehen. Er bedauerte, dass wir schon wieder zurück mussten, versprach aber, mir Adressen zu faxen, die mir vielleicht nützlich sein konnten. Bevor wir gingen, wollten Christine und ich uns noch von Katharina verabschieden. Hugo war überrascht, dass wir uns kannten und per Du waren.
Zurück bei Emina wurde es langsam Zeit, zu packen. Christine ging mit Jasmin noch einmal den Berg hoch in ihren „Stammladen“. Bepackt mit Fleisch und allen möglichen Sachen kamen sie zurück. Ein kleiner Beitrag von uns an die Gastfreundschaft der Familie Serlan. Wieder gedrückte Stimmung auf der Fahrt zum Flughafen, diesmal wegen Abschiedsgefühlen. In der Abflughalle tranken wir einen Kaffee und dann ging’s durch den Zoll. Bevor wir zum Flugzeug marschieren konnten, wurden wir aufgefordert, unser Gepäck, das in einer Reihe am Boden vor dem Flugzeug stand, zu identifizieren. Taten wir auch und die leeren Koffer wurden eingeladen. Natürlich hatte einer der Fluggäste vergessen, dies zu tun. Der Spanier wurde aufgerufen, seinen Koffer, der da ganz alleine und verlassen auf dem Flugfeld stand, zu inspizieren. Ja, es war seiner. Endlich konnten wir los. Dachten wir zumindest. Eine Durchsage des Kapitäns verriet uns, dass sie ein technisches Problem hätten, wir uns einen Moment gedulden sollten. Ich nahm mich zusammen. Christine schien dies nichts auszumachen. Zehn Minuten später erneute Durchsage, sie seien in Kontakt mit Zürich, um die Störung zu beheben, sie müssten aber leider das System herunterfahren und zu diesem Zweck die Motoren abstellen. Die Stewardess sah mir an, dass ich bleich wurde und brachte mir ein Glas Orangensaft. Christine verlangte auch eins. Das hätte ihr nun gerade noch gefehlt. Gleich könnten wir Emina anrufen, dass wir nochmals eine Nacht kommen würden. Nach 40 Minuten meinten die Piloten, alles sei in Ordnung, wir könnten nun starten. Wir fuhren aufs Rollfeld, dann an den Anfang der Piste. Der Jumbolino begann zu starten, brach aber das ganze Manöver mit einem starken Bremsen wieder ab. Es sei ein neues technisches Problem aufgetreten. Zurück an den Standplatz, alles aussteigen, zurück ins Gate. Warten. Ich konnte wenigstens die Toilette aufsuchen. Oh, kein Papier! Eine bis auf die Augen verhüllte, schwarz gekleidete Araberin, die ihr Augenverdeck vor dem Spiegel neu ordnete, lächelte mich an und gab mir wortlos ein Papiertaschentuch. Ich war ihr ebenso wortlos dankbar.
Eine halbe Stunde später durften wir wieder einsteigen. Für mich war es ein Müssen! Ich sagte Christine, dass ich nicht gedenke, in dieses Flugzeug zu steigen und trottete doch automatisch mit, weil sie mich wortlos am Arm packte. Absitzen, anschnallen, mir war schlecht. Zum Start und diesmal klappte es, wir gingen in die Luft. Hemmungslos heulte ich an Christines Schulter, die ganze Anspannung des missglückten Starts und von allem, das wir gesehen hatten, löste sich schlagartig. Wir hatten nur noch den Wunsch, nach Hause zu kommen.
Zuhause brachte ich nichts raus, musste alles zuerst mal verarbeiten. Christine ging’s genauso. Und dann kam mein Göttergatte mit einem Fax vom DEZA mit den versprochenen Angaben. Das hatte ich noch nie erlebt. Es gab also doch Ämter, die speditiv arbeiten konnten...