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Hirnstürme

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So sass ich tags darauf wieder in meinem Büro, ging meiner gewöhnlichen Arbeit nach, allerdings unkonzentriert und Spass machte es mir auch nicht mehr. Das Erlebte liess mich nicht los. Ich spürte, dass ich etwas bewegen wollte, am liebsten die Welt verändern würde, aber nicht wusste, wie.

Ich rief die beiden Schweizer an, deren Adressen mir Herr Hugo gefaxt hatte. Ein Herr, in der Müllbranche tätig, war zwar sehr freundlich, nahm sich Zeit, aber auch bei ihm wurde ich den Eindruck einer gewissen Arroganz nicht los. Oder war es vielmehr, dass auch diese Auskunft ernüchternd war? „Machen Sie sich ja keine Illusionen!“

Ein Herr aus einer Gerüstebaufirma, der bereitwillig mit mir ein fast halbstündiges Telefonat führte, klang hoffnungsvoller. Zumindest, was er so erzählte ... Aber ich kam nicht vom Fleck, hatte einfach nirgends etwas, das man in der Umgangssprache als „Fleisch am Knochen“ bezeichnen würde. Ich schrieb Herr Hugo zurück, dass die Bilanz der Auskünfte fast überall gleich war: Geschäfte in Bosnien aufzubauen sei äusserst schwierig.

Die Telefonate mit Emina gestalteten sich immer schwieriger. Ich spürte, dass die gesamte Familie depressiv wurde. Ich wollte vor allem Emina aus dieser Stimmung herausreissen, denn sie war die Stütze der Familie. Ich rief beim DEZA an und fragte Herr Hugo nach Möglichkeiten, damit Emina Englisch lernen könnte. Er freute sich über meinen Anruf. Er werde etwas zusammenstellen und mir faxen. Wiederum eine Stunde später, ein Fax mit allen Angaben und Adressen ... und einige Tage später rief er an und erkundigte sich nach dem Stand meiner Bemühungen. Ich war wirklich mehr als überrascht, dass sich überhaupt jemand dafür interessierte, was aus meinen Bemühungen geworden war.

Herr Hugo hatte mir anlässlich unseres Besuches in Sarajevo erzählt, dass er im November Urlaub habe und in die Schweiz fahre, um seine Rückkehr, die auf Ende Jahr geplant war, vorzubereiten. Er würde dann vorbeikommen. Nahm ich damals als leere Versprechungen. Nun erzählte er mir, dass er bald Urlaub habe. „Ach ja, Sie wollten ja vorbeikommen?“ „Wann soll ich kommen?“ Ich war irritiert und nannte ihn einen kleinen Bluffer! „Nein, ich meine es ernst, wann soll ich kommen?“ Nun ja, wenn er schon kommen wolle … ähm, ich würde schon gerne mal mit ihm reden, denn ich hätte an eine Form der Zusammenarbeit im weitesten Sinn mit ihm gedacht, ob er sich so etwas vorstellen könnte? Stille. „Ähm, ja, wir können darüber reden.“ Er würde also kommen, ob der 16. November ok sei. Das war ok. „Abgemacht, um 11Uhr. Wir gehen danach zusammen essen.“

Ich klärte Kosten und Methodik der Englischkurse bei den verschiedenen Instituten in Sarajevo ab. Emina versicherte mir, ja natürlich würde sie Englisch lernen. Was ich für einen Plan hätte? „Keinen, Emina, aber du musst etwas tun. Es gefällt mir nicht, wie ich dich im Moment erlebe.“ Sie solle sich bei zwei Schulen erkundigen, die ich favorisierte, und mir dann mitteilen, für welche sie sich entschieden habe. Kurskosten würde ich übernehmen. Für einen Grundkurs von vier Monaten waren das 300 Mark. Nicht viel für meine Begriffe, für ihre natürlich ein Vermögen!

Obwohl ich hart mit Pülverchen gegen eine drohende Grippe kämpfte, kam Herr Hugo am 16. wie vereinbart. Diesmal in Jeans, ich erkannte ihn zuerst gar nicht. Nicht wegen den Jeans, sondern aufgrund meiner Vorstellung, dass Leute, die bei einer Staatseinrichtung arbeiteten, immer mit Anzug herumspazierten, wie man es am Fernsehen halt so sah. Ich hatte inzwischen im Internet auch einen Hugo gefunden, der anscheinend recht angriffige Zeitungsartikel schrieb. Ich fragte ihn, ob er mit ihm verwandt sei. Nein, er sei eben genau dieser ... Wir plauderten ein wenig über das, was in der Zwischenzeit so lief und bald kam Christine auf einen Sprung vorbei.

Wenig später fuhren Hugo und ich mit meinem Kleinwagen zum Essen. Das war wichtig für mich, weil ich auf keinen Fall den Eindruck entstehen lassen wollte, ich sei ein Snob. Beim Essen versuchte ich mühsam zu erklären, was ich spürte, obwohl ich es selbst nicht genau wusste, geschweige denn in Worte fassen konnte. Ich sagte, dass ich das Gefühl hätte, dass ich mit ihm zusammenarbeiten könnte, was Bosnien anbelangte. Natürlich hätte ich keine Ahnung wie, aber ich würde jemanden brauchen, der erstens die Gegend dort kenne und zweitens vertrauenswürdig sei. Herr Hugo sagte nicht viel, eigentlich fast gar nichts, hörte nur zu. Ich sagte ihm, dass ich es nicht genau formulieren könne, und dann gab ich es auf und fragte, ob er nachvollziehen könne, was ich meine. Ja, könne er. Wir gingen ab diesem Zeitpunkt zum „Du“ über, das erleichterte die Sache.

Dieser Mensch brachte mich aus dem Konzept, denn bisher kannte ich nur Journalisten, die selbstherrlich, eingebildet, redselig und von sonst so einigen Negativeigenschaften geprägt waren, und nun sass mir da einer gegenüber, der diesem Bild so gar nicht entsprach. Hugo erzählte ein wenig von sich, von seinen zwei Kindern. Auf der Rückfahrt beichtete er mir, dass er die Grippe hätte, diesen Termin aber unbedingt habe wahrnehmen wollen. Ich musste lachen. Innerlich wusste ich aber, dass wir noch andere Dinge gemeinsam hatten als die Grippe und dass wir ein ganz prima Team abgeben würden.

Wir vereinbarten, dass wir eine Art Brainstorming veranstalten würden und sich jeder seine Gedanken machen solle. Wir tauschten unsere E-Mail-Adressen und verabschiedeten uns. Im Büro angekommen, schrieb ich mein erstes Mail an ihn. Schriftlich konnte ich schon immer ausdrücken, was ich mündlich nicht formulieren konnte. Wo meine Gedanken lagen, was mir wichtig war. Ich forderte ihn auf: „Komm, lass uns was tun!“

Am nächsten Tag bekam ich bereits Antwort, in einer fast dichterischen Art. Er sprach von: „Ja, lass uns den Acker bestellen ...“, von „aussäen“, usw. Für mich begann eine völlig neue Zeit der Kommunikation, in der ich sehr viel lernen sollte.

Hugo flog nach ein paar Tagen wieder nach Sarajevo. Wir mailten uns anfangs sporadisch, dann fast täglich, tauschten Ideen aus und lernten uns besser kennen. Wir kreierten ganze Listen mit allen möglichen und unmöglichen Vorhaben, die man in Bosnien realisieren könnte, verwarfen sie wieder und fügten Neues hinzu.

Göttergatte passte das irgendwie nicht, das spürte ich. Er konnte nicht nachvollziehen, was in mir vorging, und ich konnte es ihm nicht erklären. Es war ja auch sehr schwierig. Da war man mit einer Frau verheiratet und plötzlich kamen ganz andere, unbekannte Seiten zum Ausdruck. Das musste zuerst verarbeitet werden.

Ich bekam unerwartet „moralische Schützenhilfe“ von unserer Dorfjournalistin. Eine resolute, äusserst selbstsichere Person mit einem Gang wie ein Bauer. Emina war ja auch bei ihr „Putzfrau“ gewesen und selbst der rauen Dorfschreiberin ging der brüske – aber nicht unerwartete – Weggang der ganzen Familie sehr ans Herz. Sie hatte gewusst, dass Christine und ich nach Sarajevo reisten, und uns gesagt, dass wir uns unbedingt nach unserer Rückkehr melden und erzählen sollten. Das taten wir auch.

Bald sassen wir zu dritt am Tisch. Wir erzählten, gerade so, wie es bei uns ankam, die Eindrücke, die Ängste, die Gefühle – einfach alles. Die Dorfjournalistin notierte, stellte Fragen und machte ein Foto, auf das ich gar nicht vorbereitet war.

Drei Tage später erschienen wir, Christine und ich, mit Konterfei und langem Bericht im „Tagblatt“. Von da an wurden Christine und ich bei jeder Gelegenheit von unseren Dorfbewohnern und anderen Bekannten, die den Artikel gelesen hatten, angesprochen. Wir sollten erzählen! Taten wir auch, sogar gerne.

Ich lernte an mir eine Seite kennen, die ich bis anhin nicht gekannt hatte. Zum Ersten hatte ich plötzlich Verständnis für die Schwächeren unserer Gesellschaft, zweitens bekam ich eine andere Einstellung zur Wirtschaft. Wir führten unsere Mitarbeiter bis anhin bereits unkonventioneller als andere Firmen dies taten, aber nun kam noch eine Komponente mehr dazu. Der Begriff „humanitär“ bekam für mich einen ganz neuen Sinn.

Emina fand immer wieder einen neuen Grund, nicht in einen Englischkurs zu gehen. Einmal war es die Stiefmutter, die bei ihnen lebte, und dass das Haus mit der Dame nicht allein gelassen werden konnte, ohne dass alle Zimmer und Schränke abgeschlossen waren. Ein anderes Mal war es der Schulplan der Kinder, der ihre Anwesenheit immer und zu 100% erforderte, und vieles andere mehr. Unschwer herauszuspüren, sie wollte nicht! Also insistierte ich nicht weiter.

Was mich aber noch immer nachdenklich machte, war die depressive Stimmung der gesamten Familie, die bei jedem Gespräch schlimmer wurde. Ihre Erwartungshaltung setzte mich unmerklich unter Druck, endlich Arbeit für sie zu finden. In Bosnien herrschte 60% Arbeitslosigkeit!

Irgendwann kamen Hugo und ich zum Schluss, dass wir telefonieren sollten, da der Umfang der Mails sonst zu gross würde. Das Telefon dauerte über zwei Stunden! Dann sinnierten wir in Mails wieder weiter, bis wir glaubten, dass ein erneuter Besuch an Ort und Stelle in Sarajevo sinnvoll wäre. Hugo durfte in seiner Funktion Tage kompensieren, aber nicht im Namen des Staates Schweiz auftreten. Dieser Umstand kam mir sehr entgegen.

Ich buchte den Flug auf den 9. Dezember 1998. Göttergatte akzeptierte zwar, dass ich erneut nach Sarajevo reiste, sah aber Sinn und Zweck nicht ein und ich hatte keine passende Erklärung dafür. Er beobachtete mich schon seit geraumer Zeit etwas argwöhnisch und spottete mich bei unseren Mitarbeitern mit den Worten „Sie ist nun unter die Humanitären gegangen“ aus. Es tat mir weh, zu sehen, dass hier etwas auseinanderdriftete. Einer unserer Mitarbeiter, dem ich von Bosnien erzählte – nein, es sprudelt nur so aus mir heraus –, schaute Göttergatte an und fragte: „Was ist denn daran so schlecht?“ Ich war froh um sein Verständnis.

Salamura - Eine abenteuerliche Pilzsuche im Balkan

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