Читать книгу Salamura - Eine abenteuerliche Pilzsuche im Balkan - Donna Paula - Страница 7
Sarajevo zum Zweiten
ОглавлениеAlso flog ich am 9.12.98 wieder Richtung Sarajevo, allein – und mir war hundeelend. Keinen Bissen brachte ich runter, zudem schmatzte der dicke Engländer neben mir so richtig unappetitlich drauflos. Die Hostess spürte, dass etwas mit mir nicht stimmte, vielleicht sah ich so kreideweiss aus, ich wusste es nicht, hatte ja keinen Spiegel dabei. Sie bat mich, nach vorne in die Business-Class zu kommen, brachte mir zwei Kissen und einen Champagner, ich solle mich quer auf die Dreierreihe legen. Nur ein einziger Passagier sass hier, aber ganz zuvorderst, so dass er mich nicht sah. Gottseidank, denn ich schämte mich fürchterlich ob meiner Flugangst. Ich durfte liegenbleiben bis kurz vor dem Aufsetzen des Flugzeuges in Sarajevo. Als Erste durfte ich auch das Flugzeug verlassen und an der frischen, kalten Luft ging’s mir schlagartig besser.
Dasselbe Prozedere am Zoll und bei der Gepäckentgegennahme wie beim ersten Mal. Noch mehr Menschen warteten auf die Ankömmlinge. Ich sah Hugo ganz hinten freudestrahlend winken. Wir begrüssten uns, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen. „He, ich bin da!“ Hugo schaute etwas belustigt auf mein Gepäck. Natürlich hatte ich wieder alle möglichen Habseligkeiten für Emina eingepackt und die ganzen erlaubten 20 kg ausgenutzt. Im Handgepäck waren meine Kleider. Hugo war erleichtert, wahrscheinlich dachte er schon, da kommt so eine aufgedonnerte Tussi …
Wir fuhren ins Hotel „Saraj“. Hugo hatte dort ein Zimmer gebucht, es sei zurzeit das beste Hotel in der Stadt, die meisten Internationalen würden hier absteigen. Zudem war es nur wenige Gehminuten von Emina entfernt.
Emina wollte ich diesmal nicht zur Last fallen, da ich wusste, dass sie keine Heizung hatten. Das heisst, eine Heizung hatte es schon im Haus, aber die Gemeinde hatte noch keine Gaszuleitung gebaut. Es gab halt andere Prioritäten. Die ganze Familie schlief im Wohnzimmer, weil hier zwei elektrische Öfen die notwendige Wärme für gerade mal einen Raum abgaben. Die Folgen der Nichtbeheizung des Hauses waren jedoch fatal, wie ich anderntags feststellen konnte. Die oberen Räume waren grau vor Feuchtigkeit, die Teppiche stanken wegen der Nässe. Im Erdgeschoss drückte die Feuchte – nein, feucht konnte man das nicht mehr nennen, eher tropfnass – durch die Aussenwand des Hauses, die teilweise am Hang in der Erde steckte. Emina und Mirsad hatten die Schränke von den Mauern weggeschoben und mit Holzklötzchen unterstellt, ebenso das Ehebett. Viel nützte es nicht, die Kleider und alles andere in den Kästen war so nicht zum Anziehen und musste zuerst in der Küche getrocknet werden. Mirsad hatte nicht daran gedacht, das Haus richtig zu isolieren, er hatte kein Geld dafür gehabt.
Im Hotel machten wir ein „Briefing“, wie es Hugo nannte. Ich kannte den Ausdruck nur vom Fliegen her, liess mir aber nicht anmerken, dass ich von diesen ganzen Ausdrücken, die anscheinend beim Staat verwendet wurden, nur wenig Ahnung hatte. Hugo hatte für die Zeit meines Aufenthalts minutiös ein ganzes Programm auf die Beine gestellt, inklusive Einplanung meiner Privatzeit. War er sich gewohnt, schliesslich kamen ja „Kleti und Plethi“ aus der Schweiz und von überall her zu Besuch. Bundesräte, Minister, Departementschefs, da musste ein Protokoll her. Nun ja, gar so wichtig fühlte ich mich nicht, aber dass Hugo für mich die Vorarbeiten gleich gewichtete, das schmeichelte mir natürlich.
Nein, ich brauchte keine Pause, um mich frisch zu machen, wozu denn, sah ich so „unfrisch“ aus? Der Flug war ja vorbei. Ich versuchte ein paar Mal vom Hotelzimmer aus zu Hause anzurufen. Keine Chance, die Hotelleitungen waren immer besetzt. In der Zwischenzeit studierte Hugo unsere Firmen-Unterlagen, die ich mitgenommen hatte. Beruhigend, dass im Gegenzug er nicht wusste, was unsere Ausdrücke bedeuteten.
Wir gingen zum Abendessen in die Stadt. Ein wunderschönes Kellergewölbe, hergerichtet zu einem edlen Restaurant, die Speisekarte verlockend. Knoblauchsuppe und danach ... eben! Den Rest des Essens bekam ich nicht mehr mit, weil mir, als aufgetragen war, wieder übel wurde. Nein, der Blutdruck war es nicht um diese Zeit, aber ich zitterte am ganzen Körper. Ich überlegte krampfhaft, wie ich das überstehen sollte. Hugo merkte, dass ich seinen letzten Satz gar nicht mehr aufgenommen hatte, ich musste raus! Sagte ihm, ich müsse mal für Mädchen. Musste ich nicht, aber an die frische Luft musste ich! Was war bloss mit mir los? Warum hatte ich das Gefühl, mich nicht mehr im Griff zu haben? Wieder drinnen am Platz war ich Hugo dankbar, dass wir ohne Nachspeise den Raum möglichst schnell verlassen konnten. Es war saukalt und ich fror, aber wir gingen trotzdem mindestens dreimal die Altstadt rauf und wieder runter. Ich redete ununterbrochen, erzählte ihm fast mein ganzes Leben. Hin und wieder setzten wir uns wieder in ein Café, um uns aufzuwärmen, dann musste ich jeweils wieder raus. So ging’s weiter bis alle Restaurants geschlossen waren. Wir redeten und redeten, d.h. ich redete, Hugo hörte einfach zu, aber ich spürte ein solches Vertrauen und Verständnis, als würden wir uns schon Jahre kennen. Endlich ging ich schlafen. Unruhig, ständig erwachte ich.
Was ich damals spürte, obwohl ich nicht wusste, was es war, das mich so nervös machte, was sich sogar auf die Gesundheit niederschlug, war nichts anders als eine tiefe Ahnung, dass sich mein Leben in Zukunft nicht mehr so abspielen würde wie in den vergangenen Jahren.
Am nächsten Morgen konnte ich kaum aufstehen, diesmal war es der Kreislauf. Wir hatten uns im „Saraj“ zum Frühstück verabredet. Hugo winkte schon, als ich hereinkam. Chic in dunkelblauem Anzug, war er bereits am Buffet und lud sich Eier und Würstchen auf seinen Teller. Ich konnte nicht hinsehen, wie er genüsslich alles in seinen Bauch verfrachtete. Auch nach dem ersten Kaffee war mir nicht besser, die braune Brühe schmeckte ja auch wirklich scheusslich. Ich kriegte mich nicht hoch, musste wieder liegen gehen. Hugo hockte vis-à-vis auf dem Sofa. Ich hätte Zeit, wir hatten ja erst um 11 Uhr den Termin bei der verantwortlichen Dame für ausländische Investitionen. Ich ärgerte mich über mich selbst. Was für einen himmeltraurigen Eindruck ich hier hinterliess! Ich kam mir vor wie in einem billigen Hollywood-Streifen, bei dem die Frauen ständig in Ohnmacht fielen. Mir war aber wirklich so! Telefon mit der Fussreflexzonen-Lady aus der Schweiz. Effortil sei etwas für den Kreislauf. Hugo versuchte einen Arzt der Gelbmützen, der Schweizer Armee-Einheit vor Ort, zu organisieren. Keiner war da.
Also nahm ich mich zusammen und fuhr mit Hugo zum Ministerium. Davor warteten wir noch auf Daniel, bosnischer Dolmetscher mit deutschen Vorfahren. Hugo kannte ihn von irgendwo her. Er kam pünktlich, meldete uns an und wir durften in den ersten Stock. Ich bemerkte die Seitenblicke von Hugo, die da fragten, ob ich wohl gleich umfallen würde? Nein, tat ich nicht. Aber bei der Frau Cecura redete Hugo an meiner Stelle, dafür war ich ihm sehr dankbar. Er stellte unsere Firma vor, meine Absichten, meine Motivation, warum ich hier war und so weiter. Dann fragte ich ein paar Kleinigkeiten über Buchhaltungsregeln in Bosnien und Ausbildungsmöglichkeiten für solche. Im Hinterkopf hatte ich natürlich den Gedanken, ob Emina so etwas vielleicht konnte? Nach einer Stunde waren wir mit wenig aussagekräftigen Informationen wieder draussen. Die Leute hier konnten nicht sagen, an was es wo fehlte, sie zählten einfach alles auf, was im Krieg kaputt gegangen war, ohne darüber nachzudenken, ob der Markt noch danach verlangte?
Vor dem Gebäude erklärte mir Hugo, dass man bei Anwesenheit eines Dolmetschers nicht den Dolmetscher beim Sprechen ansehe, sondern die Person, an die man sich wendet. Er war sich das natürlich gewohnt, für mich aber war es Neuland.
Daniel suchte mit mir eine Apotheke auf, um etwas zu finden für meinen turbulenten Kreislauf. Tatsächlich, die hatten Effortil. Eigentlich wollte Hugo Mittagessen gehen, ins Bella Italia, hinhören, was ein Italiener in Bosnien für Beweggründe hatte, ein Restaurant zu führen. Daraus wurde nun wegen meines Unbehagens nichts und wir fuhren langsam Richtung Vogosca, einem Vorort von Sarajevo.
Dort hatten wir um 13.30 Uhr einen Termin bei Herrn Müller, Direktor der hiesig, grössten hier ansässigen Autoproduktionsfirma. Da wir genügend Zeit hatten, kaufte ich in einem Lebensmittelladen ein Paket Zwieback, das wir zuhinterst in einem Gestell fanden. Zwar war das Datum abgelaufen, aber der Inhalt war noch geniessbar, auf jeden Fall bewegte sich nichts „Lebendiges“ im Paket. Etwas anderes traute ich meinem Magen nicht zu. Ständig attackierten mich Anfälle von Übelkeit. Gegenüber befand sich ein einladendes Kaffee. Dort war es warm und für die restliche Wartezeit konnte man es aushalten.
Wir meldeten uns pünktlich beim Portier des Betriebes. Man schickte uns ins Gebäude. Für eine Autofabrik war es aussergewöhnlich ruhig. Wir hörten eine Stimme hinter den Wänden, aber wir wussten nicht, wo wir hinein mussten. Schliesslich klopften wir an eine beliebige Tür und ein junger Typ kam raus, der Vorzimmerherr von Müller. Nach kurzer Wartezeit begrüsste uns Müller. Ein grosses Büro, einfach, aber modern eingerichtet. Wir durften am grossen Sitzungstisch Platz nehmen. Erwartungsvoll schaute mich Müller an. Ja dann mal. Ich begann zu erzählen, warum ich hier sei, meine Motivation, einfach alles – wie schon am Vormittag. Müller hörte zu und sagte dann: „Ich sage ihnen eins, machen Sie sich ja keine Illusionen“. Er erklärte uns, wie das Ganze hier ablief, dass Bosnien eigentlich in den Händen von vierzehn serbischen Familien sei. Dass es wohl Möglichkeiten gebe, in Bosnien etwas zu tun, aber dass es nicht einfach sei. Ja, das wussten wir. Irgendwie mussten wir dem Müller sympathisch sein, denn er begann fast lausbubenhaft zu erzählen. Dass er bis 1993 hier war. Dann, als der Krieg sein Hierbleiben verunmöglichte, wegging und 1995 den Herrn Vorstandsvorsitzenden in Westeuropa überreden konnte, mit wenig Geld in Bosnien und Herzegowina, kurz BiH, die Autobranche wieder zum Laufen zu bringen. Er empfand sich damals, ein paar Jahre über fünfzig, als zu jung, um in Pension zu gehen...
Es machte ihm sichtlich Spass, uns zu erzählen, wie er das alleine mit dem Vorstands-Boss ausgemacht hatte, ohne den gesamten Vorstand zu fragen. Das Geld, das er für den Wiederaufbau brauchte, hätten die schon alleine für Reisespesen ausgegeben, meinte er.
Er erzählte uns auch, dass scheinbar Unmögliches möglich war. Er hätte auf einer kroatischen Insel, in einem Dorf direkt am Meer, ein schmales Haus gemietet. Alle vier Zimmer übereinander. Im Laufe der Zeit hätte er die Dorfbevölkerung kennengelernt, auch den Bürgermeister. Dieser hätte ihn mal gefragt, ob er sich nicht ins Gästebuch der Gemeinde eintragen möchte. Tat er gerne. Was er nicht wusste, war, dass mit diesem Gästebuch jeweils an den zuständigen Versammlungen entschieden wurde, wer im Dorf eingebürgert werden sollte. So kam er zu einem kroatischen Pass und konnte damit das gemietete Haus kaufen, was einem Ausländer nicht möglich war. Wir mussten lachen. Ich fragte ihn: „Aber Ihr Heimatland akzeptiert doch Doppelbürgerschaft noch nicht?“ Da gab er mir verschmitzt lachend zur Antwort: „Das wissen doch die gar nicht!“ Im gleichen Stil fuhr er fort, uns zu erzählen, wie er mit den Bosniern umgegangen sei, als die ihm ans Firmengeld wollten. Er fertige zurzeit nur den letzten Teil bei der Fabrikation des gesamten Autos, deshalb auch die Ruhe hier. Im hintersten Teil der Firma wurde produziert. Die Halbfabrikate wurden aus Tschechien importiert, hier für 500.-- Mark fertiggestellt, bevor sie vor Ort in Bosnien verkauft wurden. Dieser Betrag reichte gerade aus, um Löhne und die restlichen Kosten zu bezahlen. „Somit bleibt nie viel Geld im Land. Dies“, sagte er uns, „ist wichtig bei Ihren Überlegungen. Zwei Regeln sollten Sie beachten. Erstens, kein Kapital hierlassen, und zweitens, so viele Informationen wie möglich zusammensuchen. Es gibt Möglichkeiten, in Bosnien etwas zu tun.“
Aus der geplanten halben Stunde war mittlerweile über eine Stunde geworden. Müller bot uns an, uns jederzeit zur Verfügung zu stehen, wenn wir Fragen hätten. Dieses Angebot nahmen wir gerne an. Und mir ging es von Minute zu Minute besser, als wir bei Müller waren.
Wir fuhren zurück ins „Saraj“. Der Besuch bei Emina war angesagt. Hugo begleitete mich, was mich sehr freute. Wir zogen den schweren Koffer die total vereiste Nevestina hoch. Emina war erkältet, freute sich aber sehr, dass wir kamen. Anfänglich waren alle etwas scheu, aber das legte sich bald. Mirsad holte einen Schnaps hervor und schon wurde angestossen. Eine fröhliche Runde entstand. Emina tischte dieses herrliche Trockenfleisch auf, das man hier in Bosnien kriegte. Dazu selbst eingemachtes Gemüse. Schmeckte wie immer prima bei Emina! Hugo wollte noch ins Büro, schauen, ob er Pendenzen hatte. Wir vereinbarten, uns im Restaurant des „Saraj“ später zu treffen. Bevor Hugo ging, versprach er Adisa wiederzukommen, er hätte vielleicht eine Möglichkeit für sie zu ihrem langersehnten Hund zu kommen.
Hugo hatte mir erzählt, dass er und eine Mitarbeiterin des DEZA auf der Strasse einen kleinen, halbverhungerten Hund gefunden hätten und es nicht übers Herz brachten, ihn einfach liegenzulassen. Sie hätten ihn kurzerhand ins Büro mitgenommen. Dort wurde er aufgepäppelt und lebte jetzt bei der Mitarbeiterin. Sie hätten ihn Erich Huber getauft. Warum, das wusste Hugo auch nicht, er würde einfach so aussehen.
Nachdem sich Hugo verabschiedet hatte, bat ich Emina, doch von ihrem Telefon aus nach Hause anrufen zu dürfen, denn vom Hotel aus klappte das immer noch nicht. Göttergatte war mürrisch und die Unterhaltung war alles andere als erfreulich. Ich hätte dann auch noch einen Sohn zu Hause ... Er wusste, dass dies mein Schwachpunkt war, der einfachste Weg, mir erfolgreich ein schlechtes Gewissen zu machen. Und humanitär könne ich auch zu Hause sein ... Die Worte trafen mitten ins Ziel! Emina merkte, was los war, und bekam nun ihrerseits ein schlechtes Gewissen. Ich müsse zuerst zu meiner Familie schauen, bevor sie, die Serlans drankämen. Sie meinte es gut, aber ich konnte ihr nicht erklären, dass ich von einer Partnerschaft etwas anderes erwartete, als dies vielleicht in ihrer Kultur, wo der Mann als Oberhaupt der Familie agierte, der Fall war. Die gelöste Stimmung war auf jeden Fall dahin und ich war müde. Ich ging zurück ins Hotel, Adisa begleitete mich bis vor die Hotelpforte.
Hugo sass schon da, sah mir anscheinend schon von Weitem an, dass zu Hause miese Stimmung war. Wir redeten wieder lange miteinander.
Der nächste Tag ging blutdruckmässig wesentlich besser, aber Frühstücken konnte ich immer noch nicht. Beim Anblick von Hugos riesigem Appetit – was der alles zum Frühstück verzehren konnte, das war bei mir ein Nachtessen! – würgte es mich im Hals.
Um 9 Uhr war das Treffen mit einem Vertreter der Wirtschaftskammer BiH, einem Herrn Ibrahim Ibrahimkadic, angesagt. Englisch! Er machte auf uns den Eindruck, als dachte er, wir müssten ihm auf Knien danken, dass er uns überhaupt empfing. So deutlich von oben herab. Und mein Englisch versagte! Hugo war perfekt in Sprachen, zeigte dies auch gerne, weil er die nicht ausbleibende Bewunderung mochte. Also redete Hugo wieder. Die gleiche Geschichte noch einmal, warum ich hier war, meine Motivation, alles wie gehabt. Was gab es in Bosnien für Möglichkeiten, was brauchte dieses Land, das waren unsere Fragen. Ja, sie würden unbedingt eine Tiefkühlfabrik brauchen. Ha, das hörte ich nun wirklich zum ersten Mal. Hugo klärte mich hinterher auf, dass Ibrahim früher Direktor einer solchen Fabrik war. Aha. Ja, und Möglichkeiten hätte es viele. Ich könne eine Firma eröffnen, alleine oder zusammen mit irgend jemandem. Seine Hand bewegte sich während diesen Aussagen von ihm zu mir, hin und her. Die Bewegung stoppte am Satzende mit der Handfläche nach oben, auf meiner Seite hin. Unmissverständlich! Hugo trat mich ans Schienbein und flüsterte mir zu, diese Story so schnell wie möglich zu beenden, bringe nichts. Wenige Minuten später standen wir draussen. Fazit: Den Staat konnte man vergessen, die hatten keine Ahnung, was Marktwirtschaft überhaupt war.
Wir hatten Zeit und fuhren ein wenig herum, um das kalte Auto aufzuwärmen. Schlussendlich landeten wir in Vogosca, im selben Kaffee wie am Tag zuvor, nur waren wir diesmal von der anderen Seite angereist.
Wir mussten immer wieder lachen und schüttelten den Kopf, wenn wir auf die fordernde Handbewegung des Tiefkühlherrn zu sprechen kamen.
Um 11 Uhr hatten wir einen Termin beim Herrn der schweizerischen Gerüstebaufirma hier in Sarajevo. Die Firma war ein grosses, aufgeblasenes Zelt. Die Beschreibung des Firmendomizils passte übrigens auch auf das Auftreten des Herrn, gross und aufgeblasen ... Im Zelt befanden sich Auslagen von allen möglichen Bohrmaschinen-Modellen. Der Herr kam eine Viertelstunde zu spät, in meinen Augen der erste Minuspunkt. Ein anderer Herr, ein Ostschweizer, sass auch am Tisch. Zuerst glaubten wir, er sei ein Mitarbeiter der Firma. „Nein, nein, das ist der Herr Hacker!“, seines Zeichens Unternehmer in der Catering Branche. Er, der Herr Gerüstebauchef, hätte ihn geholt, weil sie grosse Events geplant hätten und da zusammenarbeiten konnten. Die Firma erstellte Gerüste und Bühnen für Grossanlässe. Der Herr Gerüstebauchef referierte und bluffte vor sich hin, es war schon fast peinlich. Hugo und ich durften uns nicht anschauen, wir hätten gleich losgeprustet, so lachhaft entwickelten sich des Herrn „Visionen“. Hacker sagte nicht viel, erst später, als ich ihn auf dem Flughafen wiedersah, meinte er treffend: „Ein bisschen ein Schnörri, der Gerüstebauchef.“
Danach blieb noch genügend Zeit bis zu meinem Abflug und wir fuhren zum zerbombten Zeitungsgebäude der „Osobojenia“. Lag immer noch gleich da, der Trümmerhaufen. Schade, dass der Westen hier nicht mehr zum Wiederaufbau beitrug, es war die einzige unabhängige Zeitung, nur konnten anscheinend die Löhne nicht mehr bezahlt werden ... Wir fuhren hinter das Gebäude. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite hingen gelbe Plastikstreifen, wie wir sie, in Rot-weiss als Absperrung für Baustellen kannten. Nur stand hier „Mine“ drauf. Hugo erklärte, das sei eine Frontlinie gewesen, alles noch vermint. Mein Blick glitt wenige Meter weiter über die Absperrung hinweg. Zerbombte Einfamilienhäuser, ein paar Mehrfamilienhäuser, alle in der verminten Zone. Beim näheren Hinsehen stellte ich fest, dass dort bereits wieder Leute wohnten. Hugo sagte darauf nur, dass diese Leute hier zwei Möglichkeiten hätten. Entweder erfroren sie oder sie hatten vielleicht Glück und wurden nicht von einer Mine getötet. Jeden Monat würden einige Leute durch diese Detonationen sterben. Und dann, ein Anblick, der mich entsetzte: Auf Plastiksäcken rutschten Kinder fröhlich einen mit wenig Schnee bedeckten Hang hinunter. In der Minenzone!
Wir fuhren weiter nach Ilidza, fanden eine Pizzeria, wo wir uns eine Pizza teilten. Der Kellner bemerkte das und brachte sofort freundlich ein zweites Besteck. Probiere das mal einer in der Schweiz.
Es wurde Zeit, Hugo brachte mich zum Flughafen. Nicht mehr lange und auch er würde in die Schweiz zurückkehren. Heim zu seinen zwei Töchtern, die er viel zu selten sah. Verabschiedung auf dem Flughafen. Plötzlich rauschte vor mir eine 20-köpfige Delegation von „gekrawatteten“ Männern und „geblazerten“ Frauen an der Zollkontrolle vorbei, eskortiert von der Flughafenpolizei. Wenig später war ich mit „Westendorp und seinem Schlepptau“ schon im Flugzeug. Ich allerdings, im Gegensatz zu ihnen, in der Economy-Class. In der Luft verschlief ich zwischen einem französischen SFOR-Soldaten und einem „Einheimischen“ das Essen. Hatte es auch noch nie geben, dass ich den Kaffee verpasste...
Landung in Zürich, die Westendorp-Delegation reiste weiter nach Madrid, dort fand anscheinend wieder mal ein internationales Treffen über die Umsetzung des Dayton-Abkommens statt – jenes, das die Bosnier eben genau nicht umsetzten.
Zu Hause angekommen, begrüsste mich mein Angetrauter mit den Worten: „Du stinkst wie ein Bauernhof!“ Also stieg ich in die Badewanne, es war mir recht so, erzählen wollte ich sowieso nicht. Das Telefongespräch vom Vortag belastete mich noch. Gestritten haben wir uns dann nach meinem Bad. Er verstehe mich nicht mehr. Ich war nicht mehr die Frau, die er geheiratet hatte. Nein, war ich nicht, wäre ich auch ohne Bosnien nicht. Man entwickelt sich schliesslich, und nicht immer wie von anderen gewünscht. Das machte Angst.