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Der geheimnisvolle Ausflug

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Mama versprach uns – Markus und mir –, man würde im Laufe der Sommerferien eine Reise ins Grüne unternehmen. Wir freuten uns darauf, wunderten uns aber, dass sie diesen Ausflug immer wieder verschob. Auch aus Karl war nichts herauszukriegen.

Dann endlich, am Ende unserer Ferien im August im Jahre 1934, schien ihr der Termin zu passen. Es war ein denkwürdiger Tag, ein Tag, der unserem Leben eine unglaubliche Wende gab.

Mama betrat unser Zimmer und sagte: «Wir machen heute eine Reise ins Oberland. Beeilt euch, zieht die Sonntagskleider an. Wir müssen gleich zur Bahn.»

Schnell machten wir uns reisefertig und standen bald erwartungsvoll bei Mama in der Küche. Karl war auch schon da, er durfte natürlich bei diesem Ausflug nicht fehlen.

Der Zug führte uns über Land, Richtung Süden, den Bergen entgegen. Nach etlichen Stationen wechselten wir auf eine kleinere Bahn, dann wartete schon das Postauto auf uns. In unzähligen Kurven tuckerte das Gefährt einen Hügel empor. Wir durchfuhren einen Tannenwald, bevor das Auto die Kuppe eines langgestreckten Höhenzuges erreichte, von welchem wir eine freie Sicht in Berge und Täler hatten. Noch nie zuvor hatte ich die imposanten Felswände so greifbar nah zu Gesicht bekommen. In gehobener Stimmung verliessen wir das Postauto und bewunderten das Panorama.

Im Osten reichte der Blick bis hin zu den schroffen Wänden des Hohgant. Das Jungfraumassiv liess sich hinter einem bewaldeten Hügelzug leicht erahnen. Der weisse Gipfel des bekannten Berges ragte hinter den dunklen Tannenspitzen empor. Die trotzige Niesenpyramide dominierte am westlichen Horizont.

Diese unbeschwerte Freude sollte aber nicht lange dauern. An der Haltestelle stand eine schwarz gekleidete Frau, die uns ständig beobachtet hatte. Langsam schritt sie auf uns zu und begrüsste Mama und Karl. Das löste in mir ein mulmiges Gefühl aus. Ein Blick auf den Bruder zeigte, dass es ihm ebenso erging.

Nun streckte die Frau auch uns die Hand zum Gruss entgegen. Sie forderte uns alle auf, ihr zu folgen. Ein steiniger Feldweg führte uns abwärts an Blumenwiesen, Kartoffel­äckern und Stoppelfeldern vorbei. Die fremde Frau geleitete uns zu einem der verstreut liegenden Bauernhöfe. Bergseits reichte das mächtige Dach bis zum Boden. Den Zugang zum Wohnteil säumten mannshohe Topinamburstauden.

Zögernd betrat ich als Letzte das Bauernhaus. Ich nahm den fremden Geruch einer Bauernküche wahr. Es roch nach Holz, Rauch und Molkerei. Dazu mischte sich der würzig starke Geruch, den die blau-weiss gestreifte Melkerbluse am Haken hinter der Tür ausströmte. Die Bauersfrau führte uns in die gute Stube. Diese hatte einen rohen Boden aus Tannenholz mit erhöhten Astansätzen.

Drinnen herrschte eine gespannte Stille. Ich wünschte, wir würden den Raum so bald wie möglich wieder verlassen. Aber Mama schien keine Eile zu haben. Zögernd stellte sie die schwere Reisetasche, in welcher ich den Imbiss vermutet hatte, neben dem Tisch auf den Boden. Jedermann wartete auf den Gesprächsbeginn des andern.

Endlich unterbrach Mama das Schweigen. Sie wandte sich an Markus und an mich: «Nun, ihr Kinder, hört mal her. – Dies ist jetzt euer neues Zuhause. – Ihr werdet von nun an hier wohnen!»

Ihre Stimme klang seltsam, ihr Tonfall fremd.

Einen Moment lang stockte das Blut in meinen Adern. – Wie konnte Mama so etwas tun! Sie durfte uns doch nicht allein zurücklassen, hier in diesem abgelegenen Hügelland, fern von der Stadt.

Wie versteinert stand ich da und schaute sprachlos meine Mutter an. Ihre Entschiedenheit war unmissverständlich, ich sah es in ihrem Gesicht! Ich begriff, dass künftig nicht mehr meine Mama, sondern diese schwarz gekleidete Frau sich um mich kümmern würde.

Mama und Karl schickten sich an, mit den Bauern ins Gespräch zu kommen. Indessen entspannte ich mich ein wenig. Ängstlich, doch neugierig schaute ich mich im Raum um. Da stand ein Kinderbett neben dem Ofen. Ich wollte wissen, wer denn darin schlafen würde.

«Du, Katharina, wirst darin schlafen», belehrte mich die Bäuerin.

Geschockt von der Antwort und weil sie mich Katharina genannt hatte, war ich der Verzweiflung nahe. Trotzdem ­deutete ich verschüchtert auf das grosse Bett neben der Tür. Ich wollte wissen, ob vielleicht mein Bruder hier schlafen würde.

«Nein», war die Antwort, «der wird nicht hier wohnen, er kommt zu einem Bauern in der Nachbarschaft.»

Dieser niederschmetternde Bescheid brachte mich aus der Fassung. Ich brach in Tränen aus und wollte wieder nach Hause mitgenommen werden. Damit kam ich aber schlecht an. Mama hielt mir vor: «Jetzt musst nicht noch heulen, da doch sonst alles so glatt gelaufen ist.»

Mamas Antwort traf mich schmerzlich. Ich war doch erst sieben Jahre alt! Aufgebracht riss ich die Türe auf und stürzte ins Freie. Ich wollte fort, weg von diesen Leuten … Aber wohin? Markus lief mir gleich hinterher. Aber niemand folgte uns, um uns zu trösten. Wir wurden mit unserer Angst, der Trauer und der grenzenlosen Enttäuschung allein gelassen. Wir Kinder sollten auch noch voneinander getrennt werden. So nebensächlich wie möglich wurde uns dieser Umstand beigebracht. Vor kaum einer Stunde sagte Mama «ihr», also wir beide sollten nun hier wohnen!

Langsam trippelte ich das Bord hinauf, liess mich auf die Knie und dann auf den Boden fallen. Dann liess ich den Tränen freien Lauf. Markus konnte mich nicht trösten. Er musste selbst mit der neuen Situation fertig werden.

Nach geraumer Zeit versiegten meine Tränen. Ich hob den Kopf und schaute mich um. Ich fühlte mich in eine neue Welt verpflanzt. Vorsichtig drehte ich mich um und rollte das Bord hinunter – im Sonntagskleid, aber das war nun auch egal.

Unten am Abhang hätte ich beinah ein Huhn überrollt. Flatternd und gackernd lief es davon. Ich erhob mich und strich mir das Kleid glatt. Darauf stieg ich wieder nach oben und rollte gleich noch ein weiteres Mal hinunter.

Da öffnete sich im Bauernhaus die Tür, durch die man gleich in die Küche gelangte. Die Bäuerin stand da und winkte uns herbei. «Ihr dürft die Hühner nicht so erschre­cken, sonst legen sie keine Eier mehr», erklärte sie uns. Diese Belehrung ist mir mein Lebtag in Erinnerung geblieben wie alles an jenem ereignisreichen Tag.

Die Bäuerin rief uns ins Haus, die Mutter wolle sich verabschieden.

Mit gemischten Gefühlen betrat ich die Stube, stellte mich vor Mama hin und sagte: «Da du uns nicht mehr zurücknehmen willst, musst eben allein nach Hause gehen!»

Es war ein Notschrei aus meinem aufgewühlten Innern. Das Verhältnis zu meiner Mutter sah ich plötzlich aus einer ganz neuen Perspektive. Wir hatten schmerzhaft zur Kenntnis nehmen müssen, dass Mama nicht mehr uns gehörte und wir fühlten, dass wir ihr lästig waren.

Nachdem sie dann noch Markus «abgeliefert» hatten, hakte sich Mama bei Karl ein und flüsterte ihm zu: «Nun haben wirs geschafft, jetzt sind wir frei.» Markus stand zum Lebewohl winken gleich hinter ihnen und musste diese Worte mit anhören.

Bis zur letzten Minute hatte ich gehofft, Mama würde sich erbarmen und uns wieder mit nach Hause nehmen. Als sie aber gegen den Zufahrtsweg geschritten war, schwand jegliche Hoffnung dahin.

Wie angewurzelt blieb ich auf dem steinigen Vorplatz stehen. Im Geiste sah ich mein Zuhause, die Stadt mit den Laubenbogen, den Zytglogge und Papas Gartenhäuschen; ich hörte das singende Tram … Dies alles sollte ich für lange Zeit nicht mehr wiedersehn. Ich durfte nicht mehr an Mamas Hand über die Kornhausbrücke trippeln.

Verbittert und traurig blieb ich im Hof und starrte auf die Topinamburstauden, hinter denen meine Angehörigen verschwunden waren. Ich fühlte mich verlassen; allein unter fremden Leuten auf diesem Bauerngut.

Vom Hause her näherte sich meine neue Betreuerin, Frau Burri. Sie nahm mich an der Hand und sagte: «Komm, wir gehen jetzt auf den Hohbüehl.»

Stumm schritt ich neben der fremden Frau einher. Sie führte mich über einen Graben und auf Waldwegen einer Anhöhe zu. Wir näherten uns einem Haus, von dem vorerst lediglich das mächtige, steile Dach erkennbar war. Dort, wo der Brunnen plätscherte, schlüpften wir unter das Riesendach.

Der Hohbüehl war Frau Burris Elternhof. Dort wurde ich ausführlich begutachtet: «Jawohl, da hast du nun es gäbigs Meetscheli, das kann dir Kommissionen machen oder dir in der Küche zur Hand gehen», meinte die Hohbüehl-Bäuerin zu ihrer Tochter, meiner Betreuerin. Vor dem Kommissionenmachen graute mir schon jetzt. Ich fürchtete die vielen grossen Hofhunde, die einsamen Wege und den dunklen Wald, den wir durchquert hatten.

Die Leute auf dem Hohbüehl mochten mich. Der Hohbüehl war ein grosser, alter Hof. Die Küche sehr geräumig und rabenschwarz, eine typische Rauchküche. Erst konnte ich rein nichts sehen in dieser Dunkelheit, dann musste ich immer die Augen zukneifen, weil mich der Rauch brannte. Als die Vorführ-Visite zu Ende war, mussten wir beinah im Laufschritt zurück auf die Lischenmatte, auf den Bauernhof, der künftig mein neues Zuhause sein sollte.

Dort beschäftigte sich die Bäuerin gleich am Holzherd. Indessen schaute ich mir noch einmal meine neue Schlafstätte an: ein Holzbett mit Sprossenwänden, auf der Vorderseite eine etwas niedrigere, um bequem einsteigen zu können. Dies alles nahm ich durch einen Schleier von Tränen wahr, gegen die ich dauernd ankämpfen musste.

Dicht neben diesem Bett befand sich eine Tür, die in die hintere Stube führte. Überrascht starrte ich in diesen Raum. Dort lagen auf einem Bett alle meine Kleider! Alles war da, auch Winterkleider. Demnach musste ich längere Zeit hier verbringen. Eine Bestätigung mehr, die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Hause zu vergraben.

Mama hatte wirklich alles planmässig vorbereitet. Ohne dass wir etwas ahnten, hatte sie unser Hab und Gut, Puppen und etliches Spielzeug inbegriffen, schon Tage zuvor in diese abgelegene Gegend befördert. Natürlich mit Hilfe ihres Freundes Karl.

Uns fiel bei diesem Zusammenpacken nichts Besonderes auf. Mama hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin den ganzen Hausrat in Kisten verstaut. Sie war im Begriff, in eine neue Wohnung im Sulgenbach-Quartier umzusiedeln. Beiläufig teilte sie uns mit, künftig werde auch Karl in diesem Haushalt leben! Für uns Kinder jedoch hatte das neue Paar offenbar keinen Platz vorgesehen.

Im Stillen klagte ich die Welt an

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