Читать книгу Im Stillen klagte ich die Welt an - Dora Stettler - Страница 6
Als Angenommene
ОглавлениеNun lebte ich also gezwungenermassen bei diesem Ehepaar auf der Lischenmatte. Kürzlich hatten sie ihren dreijährigen Sohn verloren. An was er starb, habe ich nie herausgefunden.
Der Bauer war eher klein, breitschultrig und hatte einen schleppenden Gang. Dies zeigte sich besonders, wenn er mit dem Melkerkessel über die Bretter der Güllengrube schlarpte. Die Frau war schlank, was ihre schwarze Kleidung noch betonte. Sie hatte ein frisches Gesicht und stets rote Wangen. Ich glaubte, sie hätte sie angemalt, wie etliche Stadtfrauen es taten.
Die beleidigte Bäuerin entgegnete empört: «Was stellst du dir eigentlich vor? Das haben wir doch nicht nötig. Für einen solchen Blödsinn hätten wir ohnehin weder Geld noch Zeit. Wir sehen nicht aus wie gebleichte Leintücher; unsere Farbe ist echt.»
Ich lernte sehr bald, dass Stadt und Land verschiedene «Gesichter» hatten. Ein Städter war unter der Landbevölkerung leicht zu erkennen und galt als Fremdling. Umgekehrt fühlte sich ein Bauer in der Stadt deplatziert.
In dieser Landwirtschaftsgegend hatte die Schule noch nicht begonnen; die Kinder genossen zwölf Wochen Sommerferien. Erstaunlicherweise fand ich auch meinen alten Schulsack in der hinteren Stube.
Wo immer es ging, musste ich bei der Arbeit mithelfen. So etwa Kleeblümchen abzupfen, die bestimmt waren für den Samen im folgenden Jahr, Hühner füttern, Holz herbeitragen, Geschirr trocknen und abends den Hühnerstall schliessen. Die Arbeit, die ich nicht mochte und mir Mühe machte, war die Mithilfe bei der Kartoffelernte. Ich kniete neben dem Kratten und sortierte die so genannten «Säuer» von den Speisekartoffeln aus. Die Gefässe wollten und wollten sich nicht füllen. «Wenn du so weitermachst, gibt es keinen Ankebock zum zʼVieri», warnten sie mich.
Von Heimweh geplagt und in Gedanken versunken, zerdrückte ich in meiner Hand eine harte Erdknolle, schaute zu, wie der Sand zwischen den Fingern auf die Erde rieselte, dann sagte ich im Flüsterton: «Ich mag gar keinen Ankebock; viel lieber möchte ich wieder nach Hause gehen.»
Die Bauersleute antworteten nicht. Sie kehrten mir wieder den Rücken zu, schlugen den Karst in die Ackerfurchen und beförderten ganze Nester von neuen Kartoffeln ans Tageslicht. Als ich dann zur Imbisszeit die Küche betrat, richtete ich doch zuerst den Blick auf meinen Platz am Tisch. Beruhigt stellte ich fest, dass sie mir trotzdem ein Butterbrot hingelegt hatten.
Tage und Wochen vergingen, da eröffnete mir eines Morgens Frau Burri, sie möchten noch ein weiteres Kind annehmen. Einen Buben, dreijährig. Nach diesem überraschenden Bericht wurde mir sehr bange. Ich fühlte, dass ein Neuzuzüger unweigerlich erhebliche Veränderungen in meinen nun schon gewohnten Tagesablauf bringen würde.
Es war jedoch schon längst beschlossene Sache. Dieser Knabe, Walter mit Name, war ziemlich verwahrlost, hatte kaum Kleider und konnte nicht sprechen. Zudem hatte er einen Ausschlag auf dem Kopf. Die ganze Kopfhaut war mit Krusten bedeckt. Während des Essens sass der Kleine neben dem Bauern. Der hatte dann nichts Besseres zu tun, als dem Kind die Krusten abzukratzen. Das ging einige Tage so, bis doch die Bäuerin ihn aufforderte, diese Kratzerei am Tische zu unterlassen.
Mein Bett neben dem Ofen wurde Walti zugewiesen. Ich konnte eine Schlafstätte in der hinteren Stube beziehen. Der gewohnte Tagesablauf hatte sich geändert. Mir wurde eine neue Aufgabe zugeteilt. Ich musste dieses Kind hüten.
Erst versuchte ich, dem Buben einige Wörter beizubringen. Vor allem seinen Namen «Walti». Es dauerte einige Zeit, bis er wenigstens «Alti» aussprechen konnte. Auch Milch und Kaffee sollte er sagen können, verlangte Frau Burri. Aber er verwechselte oft die Buchstaben und sprach Maffee oder Filch. Das ärgerte die Bäuerin, tagelang musste er ihr Wörter nachsprechen, die sie ihm vorsagte. Was man an ihm in drei Jahren an Erziehung und Fürsorge unterlassen hatte, wollte sie ihm in zehn Tagen einpauken. So sagte er eben aus lauter Angst und völlig verwirrt immer wieder Maffee oder Filch. Als er statt seines Namens noch Malti sagte, flippte die Bäuerin aus und versetzte dem dreijährigen Buben eine Ohrfeige.
Ich erschrak ebenso wie der Kleine. Wenn die für so etwas dreinschlägt, muss auch ich mich ganz schön in Acht nehmen, warnte ich mich selbst.
Meine ganze Familie war nun komplett auseinander gerissen worden. Geschwister, Vater, Mutter – und was mich besonders schmerzte, war die weite Distanz zu meiner geliebten Stadt.
Meine Schwester Elsbeth lebte schon eine gewisse Zeit im Heim nördlich von Bern. Irgend jemand hatte nun die Idee, dieses Kind auch hierher zu einem Bauern zu bringen.
Nach Verhandlungen mit Burris waren diese einverstanden, Elisabeth, wie sie mit vollem Namen hiess, auch anzunehmen. Gegen Kostgeld natürlich, um das ging es ja in erster Linie. Darauf wurde meine Schwester aus dem Kinderheim, in welchem sie sich schon gut angepasst hatte, herausgeholt und auf die Lischenmatte gebracht.
Damit hatte die junge Frau innert kürzester Zeit gleich drei fremde Kinder ins Haus bekommen. Drei-, sieben- und achtjährig waren wir. Dieser Situation war die Bäuerin keineswegs gewachsen. Von Einfühlungsvermögen und Verständnis uns gegenüber war sie weit entfernt. Dazu kam, dass sie den Verlust ihres eigenen Kindes noch nicht verarbeitet hatte. Es musste sterben und Walti, der Angenommene, durfte leben. Oft schaute sie in die Schublade, wo die Sachen des Verstorbenen lagen, nahm etwas heraus, versorgte es aber gleich wieder mit den Worten: «Nein, diese Kleider kann ich dem Walti nicht anziehen, die gehörten meinem Robertli.» Sie arbeitete sich zwanghaft in eine Neidsituation hinein.
Wir waren so genannte Angenommene, Fremdlinge, nicht Bauernkinder. Wir stammten aus einem anderen Umfeld. Wir fühlten, dass wir nicht dazu gehörten. Nicht aus Liebe oder Berufung wurden wir gehalten, es war reine Berechnung. Pflegekinder waren bei gewissen Bauern gesuchte Objekte. Bargeld war damals rar. Solches gab es nur bei der Milchzahlung. Die Bauern lebten hauptsächlich vom Ertrag aus Feld, Stall und Garten. Und die Ernte kam ja auch nicht von allein ins Haus. Also schauten sie sich nach solchen Kindern um. Dabei hatten sie gleich zwei Fliegen auf einen Schlag. Sie kassierten Bargeld und verfügten zugleich über eine Arbeitskraft.
Die Burris boten uns nicht an, sie als Vater und Mutter anzusprechen. Daher nannten wir sie wie am ersten Tag Herr und Frau Burri. Sie korrigierten uns nie.
Herr Burri nannte seine Frau selten beim Namen. Daher war ich recht ergriffen, als er einmal in meiner Anwesenheit seine Frau Rosi rief. Diese starre, in Trauer gehüllte Frau hatte einen Vornamen. Sie war auch einmal ein Mädchen, ein Kind. Aus dieser plötzlichen Überlegung heraus erhoffte ich mir mehr Nähe zu ihr. Aber die Distanz blieb. Wenn Frau Rosi, wie ich sie heimlich nannte, ihren Gatten mit Fritz ansprach, musste schon ein Sonderfall vorliegen.
Werktags durften auf dem Bauernhof keine Spielsachen herumliegen. Das fiel uns leicht, denn wir hatten kaum solche. Was Mama uns mitgegeben hatte, ergab nicht ein halbes Dutzend. Nach Feierabend oder an Sonntagen spielte ich mit einer ausrangierten Mausefalle. Sie bestand aus einem ausgehöhlten Baumstammstück. Meine Fantasie hatte sie zu einem Puppenhaus umfunktioniert.
Wir wurden schon bald zu allen möglichen Arbeiten herangezogen. Meiner Schwester zeigte Frau Rosi, wie sie den Küchenboden schrubben und aufwischen solle. Ihr trockne der Boden gleich hinter dem Lappen her, prahlte sie. Mit ihren kräftigen Händen konnte sie den Lappen mühelos ausdrücken. Bei Elsbeths Aufwaschen blieb der Boden längere Zeit nass. Deswegen wurde sie heftig an den Haaren geschüttelt und als Nichtsnutz hingestellt.