Читать книгу Im Stillen klagte ich die Welt an - Dora Stettler - Страница 7
Arbeit und Schule
ОглавлениеAm Morgen musste ich mit dem Bauern und dem Graskarren aufs Feld. Offensichtlich wollte man mich mit den Arbeiten «draussen» vertraut machen. Meine Schwester war als Hilfe in der Küche vorgesehen. Den kleinen Walti konnten sie noch nicht einspannen, also musste ich mich damit abfinden und Feldarbeiten verrichten.
Erst schritt ich in einigem Abstand hinter dem Bauern her, der breitspurig Fuss um Fuss vorsetzte und dabei weit ausholend die Sense schwang. Das taunasse Gras fiel dabei in gleichmässigem Rhythmus zu Boden. Mich faszinierte, wie das blanke Metall durch die üppige Wiese zischte. Gleichzeitig lösten sich bei jedem Schnitt die silberglänzenden Wasserperlen. Tausend Tropfen sprangen von den Halmen. Mit Wohlbehagen atmete ich den aromatisch würzigen Duft von frisch geschnittenem Gras ein. Dieses Gefühl von klarer, reiner Natur ist seitdem nie mehr aus meiner Erinnerung gewichen.
Während ich den Mähvorgang bestaunte, hatte der Bauer die erste Mahd geschnitten. Er drehte sich um, zog den Wetzstein aus dem Fass und begann die aufgestellte Sense zu wetzen. Zugleich deutete er mit dem Kopf gegen den Wagen hin und sagte: «Dort ist eine kleine Gabel. Du kannst damit Gras zusammenstossen und auf den Wagen laden.»
Ich behändigte das ungewohnte Werkzeug, schob den Graswalm vor mir her, bis genug auf der Gabel lag, dann warf ich die Ladung auf den hohen Wagen. Etwas davon landete auf dem Gefährt, der Rest in meinen Haaren und wieder auf dem Boden.
Zum Frühstück, wie auch sehr oft zum Abendessen, gab es jeweils die schmackhafte Kartoffelrösti. Die beiden Bauersleute assen sie gleich mit dem Suppenlöffel aus der Platte. Uns Kindern schöpften sie eine Portion in die Teller.
Wenn Frau Burri diese Speise abends zubereitete, beobachtete ich, wie sie kurz vor dem Anrichten einen Schuss Brunnenwasser – Gätzischmutz – dazugoss. Damit gab sie dem Gericht die nötige Flüssigkeit zurück, die sich während der Bratzeit verflüchtigt hatte. Darauf stürzte sie diese goldgelbe Kartoffelspeise auf die traditionelle Röstiplatte.
Ich war für die Gschwellten zuständig und damit verantwortlich dafür, dass immer genug gekochte Kartoffeln vorhanden waren. Im kleinen Brunnentrog traktierte ich die rohen Kartoffeln so lange mit dem Besen, bis sie einigermassen sauber waren. Dann holte ich die Knollen aus dem kalten Wasser und liess sie in einem Drahtkorb abtropfen. Aber anscheinend zu wenig lange. Ich schleppte das Gefäss in die Küche. Der schwere Korb, den ich kaum zu heben vermochte, hinterliess vom Brunnen bis zum Kochherd eine nasse Schleifspur.
Weil Rosi Burri allergisch auf nasse Küchenböden war, quittierte sie meine Arbeit mit einer Strublete. Sie schüttelte mich heftig am Haarbusch, den sie mir mit einer Schleife zusammengebunden hatte. Völlig verschüchtert stand ich da. Ich hatte eher ein Lob erwartet, weil ich mich so beeilt hatte mit der Herrichtung der Kartoffeln. Aber bald lernte ich, dass Angenommene nichts zu erwarten hatten. Eher hätte ich mich noch für die Strublete bedanken sollen, für die so genannte gute Erziehung, die sie uns allzu oft angedeihen liess.
Die Bauern verlangten, dass wir uns stets überall und für alles bedankten. Sie liessen uns bei Tisch das Gebet sprechen. Jeden Morgen und jeden Abend las der Bauer aus der Bibel vor, die er mit einem Handgriff von einem Tablar über sich herunter holte. Im «Neukirchener Kalender» war angegeben, welchen Text er am jeweiligen Tag lesen musste. «Bete und arbeite» war die oberste Devise.
Alles drehte sich um die Kartoffel. Sie galt als Hauptnahrungsmittel, nebst dem Brot. Selbst die Schweine erhielten ihre «Säuer»-Ration. In einem eigens dafür bestimmten Gerät wurden die gesottenen Kartoffeln für sie zerkleinert und gemahlen. Während ich diese Drehmühle bediente, konnte ich den Betrieb im Hof eingehend beobachten.
Der Schweinestall befand sich im hinteren Hofteil. Der Weg dorthin führte über die Güllengrube. Sobald nun Rosi Burri im stampfenden Schritt mit dem gefüllten «Säuhafen» die ersten Güllenlatten betreten hatte, ging im Schweinestall ein ohrenbetäubendes Geschrei und Grunzen los. Die Tiere wussten genau, dass sie nun gefüttert würden. Noch bevor etwas im Trog lag, steckten die Schweine ihre Köpfe hinein. Sie besetzten die Plätze, um als Erste ans Futter heranzukommen. Die Bäuerin goss ihnen kurzerhand die ganze Suppe mit Kartoffeln, Speiseresten und was auch immer sich darin befand, über die Köpfe. Dann ging das Schnalzen und Schmatzen los. Die Frau klappte den Trogdeckel wieder zu. Wie sich dann die Sauen die übergossenen Gringe säuberten, blieb ihnen selbst überlassen.
In Burris Stall hauste ein grosses Mutterschwein. Dieses sollte man einmal ins Freie lassen, fanden die Bauersleute. Also führte man dieses massige Tier aus dem Stall in den Obstgarten. Mir gaben sie einen Stock in die Hand. Ich sollte das Schwein hüten. In der hinteren Baumreihe stellte ich mich auf, um das Tier aufzuhalten, falls es ins Wiesland wollte. Wir alle aber hatten die Kalkulation ohne das Grunzschwein gemacht.
Sobald dieses frische Luft und Freiheit gerochen hatte, rannte es laut grunzend im Zickzackkurs durch den Obstgarten. Mit einen Sprung hinter einen Apfelbaum konnte ich mich vor ihm retten, sonst hätte es mich zweifellos überrannt.
Der Bauer sah, dass sie mir mit diesem Hütedienst doch zu viel zugemutet hatten. Er kam angerannt, entriss mir den Stock und eilte dem Schwein nach. Es nahm Kurs Richtung Schulhaus. Auf halbem Wege holte er es ein und klemmte es sich zwischen die Beine. Rittlings musste er noch eine Strecke mitlaufen. Dabei packte er das Borstenvieh an den Ohren.
Wir hatten uns indessen auch der Szene genähert. Die Bäuerin schrie ihrem Mann zu: «Pass auf, pass auf, du reisst ihm das Ohr aus.»
Tatsächlich klaffte am Ohransatz ein grosser Riss. Es war ein richtiger Kampf, bis der Bauer das kräftige Tier wieder unter Kontrolle hatte. Mit Fusstritten und Stockhieben beförderte er das übermütige Schwein zurück in den Stall. Von einem neuerlichen Weidegang wurde in Zukunft abgesehen.
Auf den Feldern und überall in der Luft roch es nach verbrannten Kartoffelstauden. Das war ein untrügliches Zeichen, dass der Herbst eingekehrt war. Und mit dem Herbst kam auch wieder der Schulbeginn. Das war Neuland für uns Mädchen.
Der Bauer brachte uns zum Schulhaus. Das Gebäude enthielt nur zwei Schulzimmer, die sich rechts und links von einem langen Flur befanden. An dessen Ende führte eine Treppe ins Obergeschoss. Dort befand sich die Lehrerwohnung, die von einem Ehepaar bewohnt wurde, welches zusammen die neun Klassen unterrichtete.
Die Schüler von der ersten bis zur vierten Klasse wurden von Frau Schaer betreut, während in der Oberschule bis zum neunten Schuljahr ihr Mann das Zepter führte.
Herr Burri liess uns unten an der Treppe warten, während er bei der Lehrerin vorsprach. Da standen wir nun, wir Neulinge, und schauten dem Betrieb zu. Ununterbrochen öffnete sich die Gangtüre. Einzeln oder in Grüppchen kamen die Kinder herein. Die Grossen verschwanden nach links, die Kleinen nach rechts in die Schulstuben. Nicht aber ohne uns von oben bis unten gemustert zu haben, als wären wir Exoten. Kein Wunder, alle Mädchen vom Land trugen damals mehr oder weniger lange, meist rötlichblonde Zöpfe. Wir hatten Pagenschnitt, dunkle Haare und trugen kurze Röcke.
Von irgendwoher ertönte eine Glocke. Gleich darauf kamen die Lehrersleute und der Bauer die Treppe herunter. Die Lehrerin begrüsste uns und öffnete die Tür zum Raume rechts. Wie aufs Kommando drehten sich etwa vierzig Schüler um und ebenso viele Augenpaare blickten uns entgegen.
Ich wurde zu den Kleinen der ersten Klasse gesetzt, während meiner Schwester einen Platz in der zweiten Klasse zugewiesen wurde. Schulbänke im üblichen Sinn gab es nicht. Es waren Vierer- und Fünferbänke, wie zu Ankers Zeiten, und ebensolche Pulte davor, die aus einer einzigen langen Latte bestanden. Zum Aufstehen musste man immer diese Latte zurücklegen.
In einer längeren Zeremonie wurden wir unseren Mitschülern vorgestellt. Viele Kinder hatten den selben Nachnamen. Entweder waren sie Geschwister oder sonstwie untereinander verwandt. Ich atmete entspannt auf, als die Lehrerin an ihrem Pult sass und zur Tagesordnung überging.
Die Kinder waren nett, ich fühlte mich von ihnen akzeptiert. Besonders als sie merkten, dass wir ihnen in den Grundschul-Fächern mindestens ebenbürtig waren.
Mittlerweile hatte Papa herausgefunden, wohin man uns gebracht hatte. Da stand er nun an einem schönen Sonntag, kurz nach Mittag, auf Burris Hof. Der Bauer, der noch am Mittagstisch neben dem Fenster sass, hob ein wenig das karierte Vorhänglein und sagte gelassen: «Was sucht denn dieser lange Kerl hier?»
«Der hat sich wohl verlaufen», entgegnete die Bäuerin.
Erst jetzt wurden Elsbeth und ich auf den Mann da draussen aufmerksam. Ein Blick durchs Fenster genügte. Wir sprangen von den Bänken und zur Türe hinaus in die Arme unseres Vaters. Nun begriffen auch die Burris, wen sie vor sich hatten.
Neben unserem Vater erschienen sie wie Kinder. Er überragte den Bauern um eine ganze Haupteslänge. Es tat mir in der Seele gut, zu sehen, wie der Bauer einmal zu jemandem emporschauen musste. Er sagte danach, Papa würde nicht hierher passen. Der müsse ja jedesmal den Gring einziehen, wenn er durch die Tür gehe; und den Dielenbalken müsste er ein gutes Stück abhobeln, damit er untendurch käme!
Wir begleiteten Papa auf den Riedboden. Er wollte auch Markus sehen und seine Pflegefamilie kennen lernen.
Mama hatte die Bauersleute angewiesen, uns nicht aus den Augen zu lassen, falls der Vater auftauche. Der sei im Stande und nehme uns bei günstiger Gelegenheit gleich mit. Aus diesem Grunde wurden wir auf beiden Höfen mit Argusaugen bewacht.
Es war eine paradoxe Situation. Die Mutter verfügte über uns, wollte uns aber nicht bei sich haben, der Vater jedoch bemühte sich vergeblich, um uns nach Hause zu holen. Ausgerechnet vor diesem Manne, der es gut mit uns meinte, sollten uns die Betreuer schützen! Aber zu dieser Zeit waren die Mütter immer am längeren Hebel und erhielten das Sorgerecht fast automatisch. Eine Frau, die das Sorgerecht nicht erhielt, verlor fast das Gesicht. So liess Mama, als Papa sie gedrängt hatte, ihm das Sorgerecht zu überlassen, uns drei Kinder umgehend bevormunden. Damit verschaffte sie sich behördliche Rückendeckung und schob Papas Bemühungen einen Riegel.
Nun kannten die Burris unsere beiden Elternteile. Mit der Mutter und mit ihrem Begleiter freundeten sie sich an, den Vater aber fürchteten sie in gewisser Hinsicht.
Bei einer einzigen Gelegenheit bloss hatten wir noch Kontakt zur Stadt Bern. Halbjährlich wurden wir in die städtische Schulzahnklinik beordert. Die Reise nach Bern unternahmen Elsbeth und ich ohne Begleitung. Markus war leider nie dabei, er wurde zu einem andern Zeitpunkt aufgeboten. Die zuständigen Behörden, mit welchen sich unsere Mutter absprach, konnten es nicht einrichten, uns alle drei gemeinsam in die Stadt fahren zu lassen. Ein längeres Zusammentreffen wurde uns Geschwistern somit vergönnt. Auch war es uns untersagt, einen Elternteil am Bahnhof zu treffen. Schon gar nicht den Vater. Vom Bahnhofplatz holte uns jeweils eine Jugendbeamtin ab und begleitete uns zur Zahnklinik, die kaum einen Flintenschuss vom Bahnhof entfernt lag. Später brachte sie uns zurück zum Zug, der uns unweigerlich wieder unserem Zwangsaufenthaltsort zuführte.
Zu den wenigen Spielzeugen, die uns Mama mitgegeben hatte, gehörte auch das Springseil. Auf der Lischenmatte fand sich kein geeigneter Platz, deshalb beschlossen wir, das Seil mit in die Schule zu nehmen. In der Pause hüpften wir einige Male auf dem Schulhausplatz herum und machten damit Furore bei den Kindern. Vom Seilspringen hatten sie keine blasse Ahnung. Die Mädchen wollten das Spiel auch lernen. Eine Mitschülerin brachte sogar ein Kälberseil mit, das sie offenbar dem Vater aus der Tenne abgestaubt hatte.
Die Mädchen mit den wadenlangen Röcken hüpften nun um die Wette auf dem Pausenplatz herum. Was dabei zum Vorschein kam, hatten jetzt wir zwei noch nie gesehen. Sie hatten weisse Spitzen an den Hosenstössen, die bis unters Knie reichten. Das sah so seltsam drollig aus, dass wir ein lautes Lachen nicht unterdrücken konnten. Die Kinder schauten uns verwundert an und wussten nicht, was wir so lustig fanden.
In dieser abgelegenen Gegend gab es damals, mit Ausnahme der Verkehrsbetriebe, weit und breit keine Autos. Jeglicher Transport wurde mit Pferdefuhrwerken bewältigt.
Unsere Schulstube hatte auf zwei Seiten Fenster. Die unteren Scheiben bestanden aus Milchglas, die oberen jedoch gaben den Blick in die Landschaft frei.
Wir beugten uns eben über eine Schreibarbeit, und es herrschte ziemliche Ruhe im Raum. Da näherte sich auf einmal ein Etwas mit einem Geräusch, das den Kindern unbekannt war. Und als das unbekannte Ding nahe am Schulhaus war, gab es plötzlich ein Gepolter in der Schulstube. Gleichzeitig standen alle Kinder auf die Bänke, um durch die Klarglasscheiben einen Blick auf das fremde Gefährt zu werfen.
Elsbeth und ich blieben gelassen auf der Bank sitzen. Es war nicht das erste Mal, dass wir einen Lastwagen sahen. Ein solcher rumpelte soeben am Schulhaus vorbei. Die Lehrerin aber, ganz entsetzt über die Reaktion der Kinder, klopfte einige Male energisch mit dem Stock auf das Pult und rief: «Was soll denn ein solches Verhalten? Wozu haben wir wohl angestrichene Scheiben. Wollt ihr etwa, dass man auch die oberen anstreicht! Schaut euch die zwei an, die ganz ruhig auf dem Platz geblieben sind. Diese dürfen jetzt als Belohnung nach Hause gehen, ihr dagegen bleibt noch bis zum Glockenzeichen hier und zwar ohne Geschwätz und ohne Gepolter.»
Draussen blieben wir beim Schulhaus und warteten auf das Glockenzeichen. «Sonst meint die Bäuerin noch, wir seien aus der Schule gejagt worden», sagte vorsichtig meine Schwester. Wir spielten noch ein wenig mit dem Springseil und machten uns dann zur normalen Zeit auf den Heimweg.
Schon bald zeigte sich, dass wir Recht hatten. Für gute Arbeit in der Schreibstunde wurde ich frühzeitig aus dem Unterricht entlassen. Allein und ohne Springseil machte ich mich direkt auf den Weg zur Lischenmatte. Als ich dort früher als üblich eintraf, fragte mich Rosi Burri nach dem Grund.
Freudig und nicht ohne Stolz erklärte ich ihr den Sachverhalt. Sie glaubte mir aber nicht, nannte das Ganze einen Blödsinn und stellte mich als Lügnerin hin.