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Düsseldorf-Bilk, März 1951

Das ehemalige Wohnhaus in der Neckarstraße 11 war nur noch eine Ruine. Die Seitenwände und die vordere Hausfassade hatten den Bombenangriff überstanden. Die Rückseite war bis auf die erste Etage zerstört, das Dach weggerissen bis auf verbrannte Reste. Die frühere Eingangstür ließ sich nicht mehr schließen. Durch den Spalt drückten sich Kinder in den Innenhof und liefen von dort aus über acht Stufen hinab in die Kellerräume. Im Hof oder gar in den Kellerräumen zu spielen, verboten die Eltern natürlich. Es sei zu gefährlich. Aber sie konnten es nicht verhindern. Die Kinder und Jugendlichen kannten viele Wege, in das Trümmerhaus zu gelangen, ohne erwischt zu werden.

So auch die besten, gleichaltrigen Freundinnen Rosa und Esther. Beide besuchten sie die Katholische Volksschule und teilten die gleichen Leidenschaften: Fußball, Völkerball und sonstige Spiele, die man zusammen mit anderen Kindern draußen spielen konnte. Beide vertrauten einander, tauschten Geheimnisse aus. Die Zahl der Familien, die im Hafenviertel wohnten, nahm nach Kriegsende stetig zu. Daher konnten Rosa und Esther sicher sein, neue Spielgefährten auf der Straße und im Trümmerhaus anzutreffen.

Die älteren Jungen trugen gammelige Matratzen in die Keller und machten es sich darauf gemütlich. Hier rauchten sie gesammelte Tabakreste und Stumpen. Man lungerte einfach nur herum. Die Themen, über die sie sich unterhielten, wechselten meist vom allgemeinen Fußball zu speziellen Ansichten über den besten deutschen Torwart Toni Turek bei der Fortuna Düsseldorf und endeten mit Bemerkungen zu den Mädchen aus der Clique. Über ein anderes Thema, die Heimkehr ihrer Väter aus dem Krieg, sprachen sie kaum miteinander. Da verarbeitete jedes Kind, jeder Jugendliche seine eigenen Erfahrungen, gute wie schlechte. Man wollte sich nicht schämen, wenn häufiger Streit das Familienleben nach der Heimkehr des Vaters prägte.

»Gut, dass du da bist«, begrüßte Rosa ihre Freundin, die vor dem Trümmerhaus schon auf sie wartete. Sie umarmten sich. Eine beste Freundin zu haben, fand sie wunderbar.

»Was sollen wir denn jetzt machen? Wozu hast du Lust? Sollen wir mal gucken, wo die Jungs sind? Vielleicht können wir mit denen Fußball spielen«, fragte Esther. »Nein, lass uns lieber zur Brache gehen und uns dort auf die Steine setzen. Ich muss dir was ganz Unheimliches erzählen.« Rosa fasste ihre Freundin an der Hand, bevor sie antworten konnte, und zog sie mit sich in den Trümmerhof. Niemand außer ihnen war dort. Sie gingen in Richtung Brache.

»Jetzt sag schon, was ist denn passiert?« Esther war gespannt auf eine neue Geschichte. Sie kamen an der Brache an. Auch keiner zu sehen. Sonst spielten um diese Uhrzeit meist Kinder hier. Aber es fiel ein leichter Nieselregen. Sie setzten sich auf einen Steinbrocken, der am Boden lag.

»Esther, ich muss dir was sagen. Was ganz Wichtiges, du musst mir versprechen, dass du niemandem davon erzählst.«

Esthers Augen wurden groß. »Was denn, ein Geheimnis?«

Rosa erzählte ihr von der Gestalt auf dem Speicher. Esther war beeindruckt. Ihr gruselte allein beim Gedanken daran, so etwas erleben zu müssen. Sie glaubte Rosa sofort. »Hast du die Gestalt denn danach noch einmal gesehen?«

»Nee, ich bin ja nur heute Mittag nochmal auf den Speicher gestiegen, dort war niemand. Aber ich weiß nicht, ob ich so jemandem noch einmal begegnen will. Das war so aufregend, und ich weiß ja nicht, was die oder der auf dem Speicher wollte.«

»Hast du jetzt noch mehr Angst, da hoch zu gehen?«

»Nur ein bisschen. Heute Mittag bin ich ganz langsam die Treppe hoch gegangen. Meine Mutter glaubt mir immer noch nicht.«

»Das mit dem Pinkelpott finde ich lustig«, kicherte Esther, »und stell dir mal vor, wie die blöde König im Nachthemd auf dem Podest ausrutscht und in die Pipipfütze fällt …« Beide Mädchen prusteten los.

»Sagst du mir, wenn du die Gestalt noch einmal siehst? Ich will die dann auch sehen.«

»Aber ob die noch mal zu uns auf den Speicher kommt, weiß ich ja nicht. Wenn die mir noch mal begegnet, dann müssen wir herausfinden, wer das ist. Ich habe ja gehört, dass sie geatmet hat. Das kann ja kein Geist gewesen sein.«

»Wenn das ein Mensch gewesen ist, war das bestimmt ein Mann.«

Rosa nickte. »Kann sein. Wenn der nicht auf dem Speicher schläft, wo könnte der denn dann schlafen?«

»Vielleicht in Hauseingängen oder in Kirchen? Rita hat mal erzählt, dass im Trümmerhaus in der Erftstraße jemand gesehen worden ist, der dort eine Zeit lang übernachtet hat.«

»Aber der Eingang ist ja jetzt zugenagelt worden. Wir müssen halt aufpassen und uns umhören. Und wir sollten die älteren Jungs fragen, ob die schon mal in Neckar 11 einen gesehen haben, der da geschlafen hat. Ich muss dich aber noch was fragen: Hast du schon mal den alten Mann gesehen, der so oft hier herumschleicht, als ob der was sucht?«

»Ja«, erinnerte sich Esther, »ab und zu habe ich den schon gesehen. Der hat eine komische Frisur, so gelbes Haar mit einem Zopf hinten.« Beide lachten, auch Rosa konnte sich an diesen Zopf erinnern.

»Ja, das ist er, den meine ich. Der sieht von hinten aus wie eine Frau.«

»Mein Papa hat den auch gesehen, als wir vorige Woche durch die Gilbachstraße gingen und hat den Kopf geschüttelt«, antwortete Esther. »Der ist bestimmt vom anderen Ufer, den haben sie auch vergessen zu vergasen«, sagte er.

»Was meinte er denn mit vergasen?«, wollte Rosa wissen. »Weißt du, was das ist … vergasen?«

»Nee, weiß ich auch nicht, irgendwas mit Gas jedenfalls«, sagte Esther. »Ich habe das auch schon mal gehört, als ein Nachbar so was zu meinem Vater gesagt hat, als die über den polnischen Mann gesprochen haben, der über uns wohnt und kaum deutsch spricht. Frag doch deinen Vater mal, was damit gemeint ist. Weißt du denn, wo der Mann wohnt?«

»Weiß ich nicht, warum willst du das denn wissen?« fragte Esther.

»Wir könnten herausfinden, wo der wohnt. Vielleicht hat der ganz in der Nähe eine Wohnung, in der Gilbachstraße vielleicht? Sollen wir ihn jetzt immer den Gelben nennen?« Rosa sah Esther an. Die nickte.

»Der ist mir schon mal im Trümmerhof entgegen gekommen und meinte, ich solle abhauen, ich hätte da nix zu suchen. Und der guckte mich mit so zusammengekniffenen Augen an. Hast du mal diese Augen gesehen? Da kriegt man Angst. Ich glaube, die sind auch ganz gelb. Machst du mit, den genau zu beobachten? Alleine traue ich mich nicht. Stell dir vor, der sieht mich im Keller und schlägt mich dann vielleicht oder bringt mich sogar um.«

»Meinst du, das würde der machen? Das ist ja spannend.« Esther strahlte. Nach einem langweiligen Wochenende nun so etwas Aufregendes. Am liebsten wollte sie sofort aufstehen, den ›Gelben‹ suchen und beobachten, die Polizei rufen … »Ja, ich mache mit!« Das klang begeistert. »Aber was ist, wenn der eine Pistole hat? Mein Vater besitzt ein Schweizer Messer, soll ich das mitbringen?«

»Ja toll«, Rosa klatschte in die Hände, »hat der auch eine Taschenlampe?«

»Ja, hat er.«

»Bringst du die beim nächsten Mal mit? Dann haben wir zwei Lampen.«

Esther nickte, und Rosa entwickelte einen Plan:

»Dann müssen wir jetzt nur überlegen, wie wir ihn beobachten. Der darf uns ja nicht sehen. Wir sollten uns auf die Lauer legen, irgendwo im Gebüsch da vorne«, Rosa zeigte auf den Ausgang zur Gilbachstraße. »Und wir könnten auch in den zweiten Kellerraum gehen und suchen, was da noch sein könnte. Ich habe neulich, als ich im hinteren Raum stöberte, zwei silberne Esslöffel gefunden, mit eingeritzten Buchstaben im Löffelstil: Ein L und ein A. Vielleicht entdecken wir ja noch mehr Wertvolles. Rosa gefiel die Vorstellung, dort unter den Trümmern Reichtümer zu finden, die niemandem gehörten.

Mittlerweile regnete es leicht. Das machte das Sitzen ungemütlich. Sie standen auf und gingen in Richtung Gilbachstraße. Dabei erzählte Rosa ihrer Freundin andere Neuigkeiten der letzten Tage.

»Hast du von Winnie gehört? Der ist vom Eisenbalken in der Ruine Erftstraße gefallen. Meine Mutter hat sich sehr aufgeregt und geweint, als sie davon erfuhr. Sie kennt die Mutter vom Winnie gut.«

»Warst du dabei, als das passiert ist?«

»Nee … ich habe da gerade das Baby von Jasines verwahrt, die im Keller von Neckar 23 wohnt, die kennst du doch«, antwortete Rosa. »Aber die Jungs, die dabei gewesen sind, erzählten mir, wie die Mutter von Winfried geschrien hat, als man sie zur Unglücksstelle brachte und sie ihren Winnie da so liegen sah. Der sei ganz bleich gewesen und hätte im Blut gelegen«, fuhr Rosa fort. »Sie stürzte sich auf ihn, wollte ihn an sich ziehen und sein Gesicht streicheln, hat der Rudi erzählt, aber der Arzt und die Feuerwehrleute haben sie weggerissen und zum Rettungswagen gebracht. Da hat sie weiter geschrien. Dann gab der Arzt ihr eine Spritze. Sie wurde ins Martinus-Krankenhaus gebracht. Jetzt ist der Eingang zum Trümmerhaus mit Brettern zugenagelt. Schade. Bleibt nur noch unsere Neckar 11.«

»Und Winnie?«

»Der ist tot.«

»Wirklich? Warum ist der denn auf den Balken gestiegen?«, fragte Esther.

»War eine Mutprobe, machen die doch oft, die großen Jungs. Lass uns jetzt aber nicht mehr darüber sprechen«, bat Rosa. »Treffen wir uns morgen nach der Schule im Keller?«

Sie waren fast am Ende der Brache angekommen. »Du … es ist ja noch hell, lass uns doch jetzt mal schnell in den zweiten Keller gehen und suchen«, schlug Esther vor.

Rosa nickte ihr zu. Sie drehten um und liefen zum Rand der Ruine. Es war leicht, über die Steinhaufen zum schmalen Durchgang zu gelangen, der auf den Innenhof führte. Schnell erreichten sie ihn und stiegen hinunter in den hinteren Kellerraum.

»Guck mal, hier lagen die Silberlöffel herum. Vielleicht finden wir noch etwas.« Rosa zeigte in den Raum auf den Fundort der Löffel. Für solche Suchaktionen trug Rosa meistens die kleine Taschenlampe in der Rocktasche. So auch heute. Beide suchten im Lichtkegel der Lampe den Raum ab. Im hinteren Drittel lagen größere Steinbrocken aufeinander, dazwischen alte Decken, zerrissene uralte Kleidungsstücke, vom Staub bedeckt, manche von Ratten angenagt. Auch jetzt hörte sich ein Geräusch so an, als versuche eine Maus oder Ratte das Weite zu suchen.

Als Rosa sich bückte, sah sie wieder ein kleines rundes silbrig scheinendes Ding auf der Erde liegen. Sie hob es auf und staunte … es war ein Knopf, wie der, den sie auf ihrem Weg zum Speicher gefunden hatte. »Esther«, rief sie aufgeregt, »guck mal, was ich gefunden habe.«

Esther kam aus der anderen Ecke und betrachtete den Knopf. Sie drehte ihn um. »Hier ist was eingeritzt. M O T Z, was bedeutet das wohl?«

Das Geräusch näher kommender Schritte aus dem vorderen Keller ließ sie innehalten.

Rosa und Esther drehten sich um. Eine Person blieb im Durchgang zum hinteren Kellerraum stehen, schaute sie an. Rosa leuchtete mit der Taschenlampe in seine Richtung und erkannte den alten Mann, den ›Gelben‹. Als er die Kinder erblickte, wandte er sich kurz um und ging dann zurück durch den ersten Keller in Richtung Treppenaufgang. Esther lief hinterher und prallte gegen ihn, als der Mann plötzlich stehenblieb. Nun ging alles ganz schnell: Der Gelbe versetzte Esther einen leichten Schubs, sie fiel hin. Er rannte weg, die Treppen hoch und hinaus auf den Hof. Dort stolperte er und wäre fast gestürzt, konnte sich aber gerade noch fangen und lief weiter über die Steine zur Brache. Esthers Herz pochte. Sie rappelte sich auf und folgte ihm in den Hof, als sie plötzlich ein rotes Büchlein auf dem Boden liegen sah. Ihre Wangen glühten.

»Guck mal, der hat was verloren.« Esther hob es auf. Das kleine Buch mit rotem Buchdeckel musste dem Mann beim Stolpern aus der Manteltasche gerutscht sein.

»Mach mal auf!« Rosa, die ihr gefolgt war, hüpfte von einem Bein aufs andere, gespannt wie noch nie.

Esther öffnete das Buch. Es bestand nur aus fünf Seiten, alle weiteren hatte jemand herausgerissen. Der Einband trug einen Adler auf der Vorderseite. Sie blätterten die zweite Seite auf.

»NATIONALISTISCHE ARBEITERPARTEI DEUTSCHLAND«, las Esther vor.

»Mitglied: Richard Augsburger, Wohnhaft: Neckarstraße 11, Düsseldorf«, las sie weiter. Ihr verschlug es fast die Sprache.

»Boah … guck mal, das ist ja die Adresse von hier, vom Trümmerhaus.«

Sie blickten sich erstaunt an.

»Komm schnell, das müssen wir den anderen zeigen«, rief Rosa aufgeregt. »Vielleicht sind Rita und Walter ja auf der Straße.«

Sie klappten das Buch zu und verließen den Hof durch den Ausgang zur Neckarstraße.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lungerte eine Gruppe älterer Nachbarskinder vor einem der Hauseingänge herum. Zu ihnen gehörte die vierzehnjährige Rita, Esthers Schwester. Sie hatte schon einen heimlichen Freund, Walter, mit dem sie oft eng umschlungen im Hafen spazieren ging. Alle wussten das. Er war sechzehn und stand auch dabei, zusammen mit seinem Freund Stefan.

Diese Größeren besaßen die Arroganz der Pubertät von Leuten, die, wie sie sagten, schon allerhand mitgemacht hätten. In gewisser Weise war das richtig, denn der Krieg und die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch hatten ihnen die Kindheit gestohlen und sie mit dem brutalen Zwang zum Überleben viel zu rasch älter werden lassen. Sie rauchten, tranken Bier, konnten alles irgendwie besorgen, wollten ein paar Mark verdienen und taten so, als kannten sie das Leben in- und auswendig und als könne sie nichts mehr zum Staunen bringen. Das Wichtigste für sie war Fußball, die Fortuna, Toni Turek und das Stadion. Auch wenn sich Rosa und Esther bei den Großen wohlfühlten, bekamen sie oft, vor allem von Stefan und Walter, zu spüren, dass sie nicht ernst genommen wurden. Dann lachten die beiden Jungs über die Kleinen und den Kinderkram in ihren Geschichten. Doch heute glaubten Rosa und Esther, sie mit ihrem Fund beeindrucken zu können.

»Sollen wir euch mal zeigen, was wir gerade im Hof vom Trümmerkeller gefunden haben?« Rosa zog stolz das rote Büchlein und den Knopf aus ihrer Jackentasche.

»Auweia, das ist doch ein Parteibuch der Nazis«, rief Stefan aus, »mein Vater hat auch so eins. Im Schrank versteckt! Die darf man heute nicht mehr zeigen, hat er gesagt. Aber in ein paar Jahren könne man die für viel Geld verkaufen.«

Rita war neugierig geworden. »Lass mal gucken, das habe ich noch nie gesehen.«

Stefan gab ihr das Buch. Sie blätterte darin herum. Es war Mitgliedsbuch und Personalausweis in einem. Wieso lag ein rotes Parteibuch im Trümmerhof? Vor einigen Tagen war sie mit Stefan und Walter noch dort gewesen, aber da hatte kein Buch gelegen, der leuchtend rote Einband mit Adler und Hakenkreuz wäre ihnen aufgefallen.

»Mensch, das ist ja wahnsinnig. Das gehörte einem Herrn Richard Augsburger. Guckt mal, ein Foto von dem ist da drin, mit Hakenkreuz an der Jacke. Der sieht jung aus. Das Buch ist von 1932.«

»Wir haben noch etwas gefunden, den Knopf hier. Da steht auch was drauf: M O T Z.«

Rosa legte den Knopf in ihre Handfläche, so dass die anderen ihn sehen konnten.

»Das ist doch ein Knopf von einem Soldatenmantel«, erklärte Walter. Er kannte solche Knöpfe vom alten Mantel seines Vaters. »Verkauft ihr mir das Parteibuch? Ich sammle so was.«

Rosa schüttelte den Kopf. »Das Buch brauchen wir noch. Das ist nämlich wichtig. Der Mann auf dem Foto sieht so ähnlich aus wie der Gelbe, der ist nur älter als der auf dem Foto und hat einen gelben Pferdeschwanz.«

»Hä? Der Gelbe? Wer ist das denn? Erzählt mal.«

Rita war gespannt. Was hatten denn die beiden Kleinen mit einem Mann mit langen gelben Haaren zu tun? Sie wusste, dass Rosa und Esther manches Mal fantastische Geschichten erzählten über fremde Leute, die ihnen verdächtig vorkamen. Dann beobachteten sie die Person und sammelten sogenannte Beweise dafür, dass ein Verbrechen, wie sie es nannten, im Gange war. Die Geschichten wirkten oft übertrieben. Dumme Kindergeschichten, also kaum zu glauben. Aber das rote Buch lag in ihrer Hand, und das bewies, dass es diesmal keine Fantasien der beiden waren.

Stefan sah sich das Buch noch einmal an. »Rosa, was macht denn der sogenannte Gelbe im Trümmerkeller?«

Rosa zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Der sucht was. Ich habe da auch schon Silberlöffel gefunden«, erklärte sie.

Walter griff nun zu dem Büchlein. »Und wo habt ihr den Gelben sonst noch gesehen?«

»Im Trümmerhof, aber der Mann geht immer zur Gilbachstraße raus, klettert hinten vom Hof über die Steine, die da herumliegen und läuft raus auf die große Wiese hinter dem Gestrüpp.«

»Wenn euer Gelber wirklich ein Nazi gewesen ist und hier wohnte und nun zur Gilbach hinaus schleicht, dann könntet ihr doch mal herausfinden, ob der jetzt dort in der Gegend wohnt. Ihr müsst aber vorsichtig sein. Kapiert? Der kann gefährlich sein. Wer weiß, was der sucht?«

Stefan hatte schon einiges über die Nationalsozialisten gehört und gelesen. Manchmal erzählte sogar sein Vater davon, jedoch nicht gern. Es hieß immer nur, die Nazis seien scharfe Hunde gewesen und hätten mit jedem, der den Mund aufmachte, kurzen Prozess gemacht. Oder es hieß, das war die schlimme Zeit. Allerdings lebte sein Vater doch auch in dieser Zeit. Er spürte, dass niemand etwas Genaues sagen wollte. Daraus schloss er, ohne es wirklich zu verstehen, dass von einem Typen wie dem Mann mit den gelben Haaren eine Gefahr ausgehen musste.

Er redete weiter zu den Mädchen: »Ein Nazi, der sich im Keller seines ehemaligen Wohnhauses herumtreibt, könnte etwas suchen, was er in der Kriegszeit dort versteckte. Vielleicht auch Waffen. Dieser Keller ist ja als Unterkunft sogar noch fast bewohnbar, wenn man sonst kein Dach über dem Kopf hat, so wie einige andere im Viertel auch. Also Vorsicht, verstanden, ihr Dötze?«

»Ja, ja … wir sind ja keine kleinen Kinder mehr, schon gar keine Dötze«, fauchte Rosa zurück. »Krieg dich wieder ein, ich habe es ja nicht böse gemeint«, entschuldigte sich Stefan.

»Wenn der Gelbe uns was tun will, rufen wir euch. Wir sind vorsichtig, versprochen. Aber nichts den Eltern sagen! Wir müssen jetzt auch gehen. Tschühüüs!«

Rosa nahm das rote Buch und den Knopf, und die Mädchen gingen die Straße hinunter, setzten sich auf die hohe Bordsteinkante, die den Fahrweg säumte. Das war der Treffpunkt für die jüngeren Mädchen der Nachbarschaft. Sie packten ihre Glanzbilder aus und saßen nicht lange dort, als auch Brunhilde und ihre Kusine sich mit ihren Bildern dazu gesellten. Das Tauschgeschäft konnte beginnen.

Rita und die beiden Jungen standen noch eine Weile zusammen und sprachen über die Kinder und ihren Fund.

»Lasst uns mal ein Auge auf die beiden haben. Wer weiß, was das für ein Typ ist, dieser Gelbe«, schlug Rita vor. Unsere Eltern müssten auch Bescheid wissen. Was meint ihr?«

Die beiden Jungs stimmten ihr zu. Wirst du es deinen Eltern sagen?«

»Ja, aber erst werde ich heute Abend mit Esther noch mal darüber sprechen«, entgegnete Rita. Ich muss gleich zum Turnen. Also, macht’s gut. Treffen wir uns Samstag im Trümmerkeller um drei? Ich bringe was zu Trinken mit.«

»Auch was für Männer oder mehr so ein Mädchengebräu?« Walter sah Stefan an, und beide lachten.

»Lasst euch überraschen, ihr harten Kerle«, frotzelte Rita. Walter allerdings warf sie eine Kusshand zu.

Der Mantel der Vergangenheit

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