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Düsseldorf, April 1951

Er torkelte durch Bilk. Trübe Gedanken verführten zum Trinken, wie so oft schon. Für billigen Fusel reichte sein Geld gerade noch, die paar Kröten, die er durch Hilfstätigkeiten im Obdachlosenasyl verdiente.

Am Erftplatz traf er vier Kumpane. Einige Stunden standen sie zusammen und tranken.

»Was ist eigentlich mit deiner Hand passiert, Horst? Krieg oder was?«, fragte er den Mann neben sich, den er bereits von solchen Trinkgelagen kannte.

»Natürlich Krieg, wovon sonst?«, antwortete dieser und blickte auf den Stumpf, an dem ehemals seine linke Hand gewesen war.

»Amerikanischer Granatsplitter. Aber die Nationalität der Waffen ist ja scheißegal, das Resultat immer das Gleiche.«

Mit seinen dreißig Jahren der jüngste auf dem Platz, fand er als einhändiger Dachdecker keine Arbeit mehr. Jetzt bekam er nur eine niedrige Rente als Kriegsversehrter. Gott sei Dank arbeitete sein Bruder als Maurer, und der steckte ihm regelmäßig etwas Geld zu. Mit diesen kleinen aber wiederkehrenden monatlichen Almosen war er reich im Vergleich zu den drei anderen. Sie lebten ebenfalls ohne festen Wohnsitz, ohne Familie.

Daraus ergaben sich auch die Themen, über die sie sprachen. Essen, Schlafen, Sicherheit. Das, was für sie am Nächsten lag. Selbst im Obdachlosenasyl gab es keine Gewähr vor Kleiderklau. Manchmal konnte die Decke, die man am Morgen zurückließ, um sie nicht durch die Stadt schleppen zu müssen, nicht mehr aufgefunden werden. Es ging nur ums Überleben. Über Politik schwiegen sie. Das konnte leicht zu Streit und Gewalt führen. Einen weiteren Tag zu überstehen, das war wichtig. Dafür brauchte man seine Energie.

Der Schnaps, den sie sich herumreichten, war bald ausgetrunken, und der Mann fühlte sich nur noch müde. Er verabschiedete sich von seinen Zechgenossen. Er benötigte eine Schlafmöglichkeit nicht weit von hier, weil das Laufen sehr beschwerlich war. Mit dem schmerzenden Fuß konnte er nicht bis zur Unterkunft in der Stadtmitte gehen. Tags zuvor trat er in der Altstadt in einen rostigen Nagel, die dünn gelaufenen Sohlen seiner Schuhe boten keinerlei Schutz. Der Nagel bohrte sich in den Ballen, drang tief ein, und die Wunde entzündete sich sofort. Er sah sich um, kannte sich in diesem Bezirk ja aus. Früher, vor dem Krieg, fuhr er oft von Hamm durch das Hafenviertel mit dem Rad zur Altstadt. Im Trümmerhaus Neckarstraße 11 konnte er in den letzten Monaten auch schon mehrmals übernachten. Die alten Matratzen und Lumpen im zweiten Kellerraum würden bestimmt noch dort sein.

Er humpelte zum Eingang und trat in den Trümmerhof. Ein strenger Geruch wehte ihm entgegen. Als er über die Stufen hinab in den Keller gestiegen und die nach Urin stinkende Matratze vor sich liegen sah, wurde ihm trotz der Wirkung des Alkohols bewusst, wie tief er mittlerweile gesunken war.

Jeden Tag lief er wie ein Gespenst durch die Stadt. Mit verschlossenen, gesenkten Augen ging er oft wie gehetzt. Ziellos, freudlos, ohne Freunde und Familie, die ihm hätten helfen können. Mut fassen, Hoffnung schöpfen. Um sich aus dieser Lage befreien zu können. Er stank, trug den alten Soldatenmantel auf links gedreht. Der Blick zurück verstellte den Blick nach vorn. Das wusste er. Aber nur die Gedanken an die Familie, an die Arbeit, die Felder, die er einst liebte, nur an das ‘Damals‘ gab ihm noch einen Halt. Die Gegenwart bot ihm nichts, sie zeigte sich fremd und bedrohlich. Deshalb floh er in die Erinnerungen, ganz in sich zurückgezogen. Wie ein Mensch, dessen Leben seit langem mit tiefer Schuld verbunden ist. Und mit der Angst vor erneuter Strafe, wie damals wegen des geschlachteten Schweins. Durch die Ereignisse der letzten acht Jahre fühlte er Sicherheit und Heimat nur im Rückblick auf das Verlorene.

Tagsüber sah er nicht die Fortschritte bei der Trümmerbeseitigung, die funktionierende und drängende Geschäftigkeit in den Straßen. Einige Brücken wurden erneut aufgebaut. In den Gesichtern der Menschen sah man wieder Zukunft. Man hörte das Lachen und die Gespräche, die sich um die kleinen Dinge des Lebens drehten.

In dieser neuen Welt verschoben sich seine Koordinaten. Er kehrte in eine Gesellschaft zurück, die nichts mehr wissen wollte von Krieg, von Hitler oder vom Endsieg. Wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Das große Schweigen dämpfte sämtliche Geräusche. Und die sogenannten Helden verloren ihre Strahlkraft. Sein Äußeres verkörperte sein Inneres. Das alles verhinderte den Kontakt zu anderen Menschen, verhinderte, den Faden zu finden, der sein Wegweiser hätte sein können. Er gehörte nicht mehr dazu. Wollte er es denn überhaupt? Nicht einmal das konnte er beantworten. Niemand stellte ihm Fragen.

Natürlich könnte er zu einigen Dingen etwas sagen, traute sich aber nicht mehr für seine Meinung einzustehen. Manchmal verspürte er riesige Wut, die er sich selber nicht erklären konnte. Häufig siegte allerdings die Angst, und er fühlte sich schuldig, nur noch schuldig. Er fürchtete jede Ansprache, sah Strafe auf sich zukommen. Wofür, das wusste er, verstand es aber dennoch nicht. Deshalb wollte er lieber in seinem inneren Gefängnis bleiben, statt nochmals von Polizisten, Ärzten, Beamten eingesperrt zu werden. Manchmal wollte er aufhören zu leben, konnte aber keinen Mut für diesen Schritt finden. Dann betrank er sich. Schlief und aß zu wenig, scheute die Menschen. Bis sich sein Körper meldete … das Jucken der Haut in ungewaschener Kleidung. Hunger, Durst, irgendetwas, das ihn weckte und aus seiner Lethargie riss.

Wünsche und Sehnsüchte stiegen in sein Bewusstsein und forderten ihn auf, sich zu bewegen. Das Aufraffen und der nicht enden wollende innere Zwiespalt kosteten so viel Kraft. Wer würde das ändern können? Blieb er nüchtern, verengte sich sein selbstgeschaffener Fluchtraum, die Tagträume verloren ihre Farbe, und sein Kopf rief ihn zur Ordnung und Verantwortung. Er musste etwas zu Ende bringen und etwas wiederfinden. Seine Familie und sich selbst. Und es drängte die ebenso reale wie ungewisse Freiheit.

Vorgestern, das Mädchen auf dem Speicher, das ihn mit weit aufgerissenen Augen angestarrt und zuerst geschrien hatte vor Angst, als sei es dem Tod begegnet, das reagierte doch ganz natürlich und logisch auf ihn. Andere Menschen, die ihm täglich über den Weg liefen, schwiegen, gingen an ihm vorüber, meideten den direkten Kontakt mit ihm. Vielleicht würden die auch am liebsten Schreien vor Angst und Zorn über diesen Menschen, der so aussah wie das personifizierte Kriegsende.

Während ihn diese Gedanken quälten, suchte er im Halbdunkel nach der Liegekuhle für seinen geschundenen Körper. Den Mantel zog er aus, um sich damit zuzudecken. Alkohol und Dunkelheit machten seine Hände fahrig. Er bemerkte nicht den Knopf, der sich beim Versuch, den Mantel zu öffnen, löste und auf die Erde fiel. Er ließ sich auf die Matratze fallen. Innerhalb einer Minute schlief er ein.

Am nächsten Morgen spürte er noch stärkere Schmerzen in seinem Fuß als am Vorabend. Er entdeckte den tiefen Schnitt im Ballen. Die Umgebung der Wunde sah rot und geschwollen aus. Er versuchte aufzustehen und zu laufen, aber der Schmerz jagte durch seinen Fuß bis in die Wade. Dass er nichts zu essen besaß, bereitete ihm keine Sorgen. Im Krieg war das Alltag gewesen. Nur den Durst nahm er wahr. Er beschloss, liegen zu bleiben. Irgendwann würde der Schmerz nachlassen. Dann könnte er zum Obdachlosenasyl gehen.

Der Mantel der Vergangenheit

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