Читать книгу Das Leben ist schön, von einfach war nicht die Rede - Doro May - Страница 7

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Prolog

Es ist Samstag. Ich sitze in einem blauen Ford Transit. Links neben mir brummt Tina, meine besondere Tochter, in etwa so laut wie der Motor des funkelnagelneuen Personentransporters mit Aufschriften von der Lebenshilfe und vom Landschaftsverband Rheinland.

Rechts neben mir sitzt ein schmaler, junger Mann, der auf einem dicken, mehrfach verknoteten Unikum herumkaut, einem vormals weißen Küchentuch, das zu einem lebenswichtigen Feudel geworden ist. Ohne dieses Teil kann er keinen Schritt tun. Überhaupt ist er kaum in der Lage, eigenständig zu laufen. Es hat den Anschein, als halte er sich mit Händen und Zähnen an dem schmuddeligen Teil fest.

Hinter mir haben Holger und Jürgen Platz genommen. Sie unterhalten sich mit einfachen Einzelgebärden mit Andreas, dem Mann auf dem Beifahrersitz – also über meinen Kopf hinweg. Ab und an stoßen sie Laute aus. Nicht unangenehm, aber eben auch nicht leise. Manchmal lachen sie plötzlich los, für mich völlig unvermittelt.

Den Höhepunkt dieser ungewöhnlichen Fuhre bildet Jan, der Anfang 30 ist. Seit mehreren Jahren arbeitet er als Betreuer, ist im Umgang mit diesen besonderen Menschen äußerst geduldig und sieht richtig gut aus. Jan ist taubstumm, würde also jegliche Hupe eines anderen Autos schlichtweg nicht wahrnehmen. Auch keine Feuerwehr oder ein anderes Fahrzeug mit Martinshorn.

Jan ist der Fahrer.

Wo bin ich hier hineingeraten?

In eine Wohngruppe, die einen Ausflug ins Freilichtmuseum Kommern unternimmt. Es ist Sommer und alle haben gute Laune. Ich bin die einzige an dem Ausflug Beteiligte, die nicht anders ist, denn ich kann hören und sprechen und habe in landläufigem Sinne keinerlei Beeinträchtigung der geistigen Art.

Aber das Kurioseste kommt noch: Ich fühle mich sauwohl.

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, das jetzt nicht verstehen, dann verstehe ich Sie. Hätte mir vor einigen Jahrzehnten jemand eine solch schräge Ausflugsgesellschaft geschildert, ich wäre nie im Leben auch nur ansatzweise auf die Idee gekommen, dass ich der Fahrgast sein könnte, der, wie der Zufall es will, genau in der Mitte sitzt. Ebenso wenig hätte ich mir träumen lassen, dass ich diesen Ausflug genießen würde.

Auf dem großen Parkplatz kommt der Platzanweiser auf unser Auto zu und fragt durch die heruntergelassene Scheibe, ob wir einen Behindertenparkplatz haben möchten. Eigentlich könnte ich antworten, aber ich bin viel zu neugierig, wie’s jetzt weitergeht. Und tatsächlich: Es geht weiter. Jan zeigt ganz locker seinen Ausweis und deutet »taubstumm«. Das versteht der Platzanweiser zwar nicht, aber er kombiniert völlig richtig, dass wir ein Fall für einen der Sonderparkplätze sind. Er gestikuliert und Jan versteht, wo er langfahren soll. Ehrlich gesagt habe ich den Eindruck, dass Jan nicht zum ersten Mal hier ist, so relaxt, wie er mit der Situation umgeht.

An dem uns zugewiesenen Platz steigen wir aus. Jan unterstützt den Jungen mit dem Feudel und wir bewegen uns in Richtung Kasse, wo einige bereits ihre Behindertenausweise zücken und ihre Geldbörsen geöffnet hinhalten. Da ich als Tinas offizielle Begleitung ohnehin freien Eintritt habe, wir Tinas Behindertenausweis aber vergessen haben, sage ich vorsichtshalber weiterhin nichts. Die Kassiererin palavert über ihre Vermutungen, was die Mitglieder dieses schrägen Ausflugstrüppchens zu zahlen haben. In Anbetracht des sprachlosen Lächelns aller fröhlich Beteiligten gestikuliert sie wild herum, berät sich mit Kassiererin Nummer zwei, wer von dieser Gruppe was zu zahlen hat und wie das eigentlich bisher gelaufen sei, wenn so welche rein wollen. Nummer Zwei zuckt mit den Schultern. Das macht sie ziemlich oft und es wird hinter uns allmählich unruhig, denn andere würden auch noch gerne ins Freilichtmuseum. Vor allem haben die quengelnden Kleinkinder keine Lust auf diese Warterei.

Nummer Eins wirkt inzwischen ein wenig hektisch, Nummer Zwei begibt sich zu einer verschlossenen Türe und kehrt mit einem Mann zurück. Nun palavert der Mann, der es also richten soll, sagt, »da gibt’s doch ganz klare Bestimmungen – äh, das müsste doch hier irgendwo stehen«, schaut sich hilfesuchend um und fragt Jan, ob er nicht wüsste, wer und wieviel und ob nicht vielleicht ein Gruppenpreis, oder wie haben Sie das bisher …?

Die Gruppe lächelt, ich lächle, Jan lächelt und schüttelt immer mal wieder den Kopf zum Zeichen, dass er den Mann leider nicht verstehe (was ich ihm nicht so ganz abnehme, denn er kann durchaus von den Lippen ablesen). Die drei Personen vertrauen sich gegenseitig ihre Ratlosigkeit an und winken uns allesamt durch.

Wie gesagt: Es ist Samstagnachmittag, Kaiserwetter und die Schlange hinter uns mittlerweile gigantisch gewachsen. Die Leute treten von einem Bein aufs andere – das vor uns sind Behinderte, da darf man nicht meckern, steht ihnen auf der Stirn geschrieben. Ihre Gesichtszüge entspannen sich deutlich, als wir endlich den Kassenraum verlassen.

Diese überaus schräge Szene hat was. Die ganze Zeit über bin ich bemüht, nicht zu grinsen. Ich weiß – ist nicht die feine englische Art …

Wir, die sechs Bewohner des Wohnheims, in dem auch meine Tochter lebt, Jan und ich schieben uns also hinein ins Freilichtvergnügen. Nach 50 Metern die ersten gänzlich nicht musealen Fressbuden. Freudig lachend kaufen Holger, Jürgen und Andreas erst mal Currywurst mit Pommes rot-weiß. Damit Tina ihnen nichts von der Pappe klaut, besorge ich ebenfalls Currywurst und dazu eine Limo. Wie praktisch, dass es hier alles in und auf Pappe gibt. Nichts kann kaputt gehen. Tina – der Tag gehört uns! Und damit letztlich alle was haben, stellt sich Jan nun auch an, so dass wir nach 50 Metern Weg und einer Mahlzeit in rot-weiß die nächsten 20 Meter schaffen.

Da gibt’s Eis …

In meinem früheren Leben hätte ich mir verboten, gleich zu Anfang, sozusagen ohne jede Vorleistung, loszufuttern, als gäbe es nach dem Spaziergang nichts mehr. Vor allem habe ich gelernt: Eis gibt’s quasi zur Belohnung erst nach einer Anstrengung – und sei diese noch so klein. Tina und Co. sehen das völlig anders. Da steht die Bretterbude mit Sachen, die zum Essen da sind. Also sind wir hier richtig.

Völlig richtig!

Wozu steht sie sonst da? Wer hat, der hat – und eine Runde drehen kann man ja immer noch.

Genauso wenig hätte ich mir vorstellen können, mit derselben sprachlosen Truppe in einem sehr netten Eiscafé zu sitzen, stumm, weil niemand spricht oder mich hören könnte, wenn ich etwas sagen wollte. Ganz im Ernst: Ich sitze also mit Tinas Wohngruppe – diesmal sieben Personen – und diesem sprach- und gehörlosen, sehr netten und ausgesprochen gut aussehenden jungen Betreuer im Eiscafé und muss nichts sagen; muss nur meinen Kaffee trinken, mir ein gepflegtes Eis aussuchen und das Gefühl genießen, dass ich nicht alleine unterwegs bin, aber auch keiner etwas von mir will. In unserer lauten und vollgequatschten Welt die reinste Idylle. Und das meine ich völlig ernst.

Tinas Mitbewohner ahnen, dass ich in Sachen Gebärden – auch wenn es sich nur um Gebärden des Grundwortschatzes handelt – bei aller Mühe, die ich mir gebe, eine ziemliche Niete bin, sobald es ins Detail geht, stoßen sie mich nur höchst selten an, um mir mittels Gebärden etwas mitzuteilen; zum Beispiel die Frage, für welches Eis ich mich entschieden habe. Recht haben sie. Weil ich in meinem Alltag ohne Tina keine Gebärden benötige, bin ich grottenschlecht in dieser überaus faszinierenden Sprache. Das ist mir gehörig peinlich, zumal ich bereits zwei Kurse in Grundgebärden absolviert habe. Klar, die Gebärde für Eis habe ich drauf. War jahrelang Tinas Lieblingsspeise. Aber die Bezeichnung für Vanilleeis mit Himbeeren und Sahne, die ich gerade in diesem Moment brauchte, habe ich dann natürlich nicht drauf. Mist! Denn eigentlich würde ich gerne mit kommunizieren. Ich finde es besonders – selbst in der einfachen Art. Also ohne bestimmte oder unbestimmte Artikel, weder dekliniert noch konjugiert oder was man mithilfe der deutschen Grammatik noch so alles mit Wörtern anstellen kann. Nur die wesentlichen Worte werden wie Gedankeninseln mittels anschaulicher und naheliegender Handzeichen aneinandergereiht. Da dürfte dann auch jeder Normalo mitbekommen: Seht her, ich kann es auch.

Leider Fehlanzeige. Da kann ich noch so oft das große teure, blaue Buch aufschlagen: Grundgebärden. Wenn man nicht tagtäglich auf diese Weise miteinander umgeht, prägen sich nur die 08/15-Wörter ein. Wie ich Tinas Betreuerinnen und Betreuer bewundere, wenn sie meiner Tochter etwas mitteilen, das über essen, trinken, an- und ausziehen hinausgeht. Wie überaus konzentriert meine Tochter auf ihre Hände schaut …

Wie ich es seit ihrem Auszug von Zuhause bis hierher geschafft habe?

Eine Geschichte, die sich zu erzählen lohnt. Ende offen …

Das Leben ist schön, von einfach war nicht die Rede

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