Читать книгу Das Leben ist schön, von einfach war nicht die Rede - Doro May - Страница 8
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Die Fakten
Meine besondere Tochter heißt Tina, sieht aus wie 14, ist aber mittlerweile 27 Jahre alt. Sie lebt in einem Wohnheim für gehör- und wahrnehmungsgestörte Menschen. Im Klartext heißt das, die Bewohner – es sind acht – haben eine geistige Behinderung. Zum Beispiel haben sie ausgeprägte autistische Züge, sind manisch-depressiv oder von irgendeiner anderen Behinderung betroffen, die mit Nicht-hören-können einhergeht beziehungsweise mit dem Phänomen, dass das Gehörte nicht ins Bewusstsein dringt. Das nennt man in Fachkreisen Wahrnehmungsstörung.
Okay, darunter leidet so mancher Normalo auch, höre ich Sie sagen.
Stimmt!
Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zu uns, die wir ebenfalls gelegentlich nicht durchschalten, wenn uns jemand etwas mitteilt. Den Menschen, um die es hier geht, ist gemeinsam, dass sie mit gesprochener Sprache nichts verbinden. Sie begreifen kaum oder auch gar nicht, was wir ihnen durch Worte mitteilen möchten – selbst dann nicht, wenn sie die Worte hören können. Ihre Wahrnehmung von Sprache funktioniert ganz einfach nicht. Deshalb sagt man, dass sie keine Sprache haben – Sprache im landläufigen Sinn, denn auch sie können sich unterhalten: Mit einfachen, meist sehr eingängigen Gebärden für zentrale Hauptwörter wie Auto, Haus, Flugzeug usw., Verben wie essen, trinken, an- und ausziehen und Adjektive wie super (Daumen hoch!), lecker (Bauch reiben) und dergleichen drücken sich meine Mitfahrer (siehe oben) problemlos aus.
Es sind keine besonders komplexen Schilderungen – die Menschen, um die es hier geht, sind in ihrer Denkfähigkeit anders und haben weder das Vermögen noch den Drang, komplizierte Dinge zu diskutieren. Sie erleben vielleicht gar nicht so kompliziert wie der normale Stadtneurotiker – jedenfalls, wenn es nach Woody Allen ginge. Doch sind die meisten dazu in der Lage, sich über alltägliche Erlebnisse und Vorhaben zu unterhalten, ihre Wünsche, ihren Willen beziehungsweise Unwillen kundzutun, zu schimpfen oder ihre Launen an jemandem auszulassen. Tina ist Meisterin im Ausdrücken, dass sie etwas nicht will. Nämlich absolut gar nicht! Da gibt es keinerlei Missverständnisse.
Die Gebärden sind höchst anschaulich und auch als Laie kann man sich das Standardrepertoire rasch aneignen. Nur bei den Feinheiten hapert es schnell: Eis – kein Problem. Man hält ein imaginäres Eishörnchen vor den Mund und schleckt an der Eiskugel. Aber bei der Bestellung von Vanilleeis mit heißen Himbeeren und Sahne stößt man schnell an seine Grenzen und zeigt lieber gleich auf die entsprechende Stelle in der Eiskarte, um den anderen zu bedeuten, was man sich nun bestellen wird.
Meine Tochter hat das Down-Syndrom, das in etwa fünf Prozent der Fälle einen Autismus, mal mehr, mal weniger ausgeprägt, als Zugabe parat hat. Das wissen nur wenige; mir war es zum Beispiel völlig unbekannt, obwohl ich gleich nach der Diagnose jede Menge Fachbücher gewälzt habe. Es ist eine harte Diagnose, die verkraftet werden will. Schlimm genug, wenn man anerkennen muss, dass das eigene Kind geistig behindert ist. Dass man wie bei sechs Richtigen im Lotto dann auch noch die Zusatzzahl gezogen hat, ist mehr als heftig. Denn diese im Grunde genommen mehrfach behinderten Menschen können sich im Extremfall kaum mitteilen, und das tut den Eltern weh, wenn sie erleben, wie das Gesicht ihres Kindes immer leerer, immer ausdrucksloser wird, weil sich das Leben kaum in ihm abbilden kann. Auch sind sie auf sehr fest gezurrte Abläufe im Alltag angewiesen, damit sie die Orientierung behalten. Das geht soweit, dass man unter Umständen einen gewohnten Weg nicht verlassen kann.
Ganz wörtlich: Ist man auf dem Hinweg eine bestimmte Straße entlanggegangen, tut man gut daran, dieselbe Straße auch für den Rückweg einzukalkulieren. Am besten sogar dieselbe Seite des Bürgersteigs. Sonst kann es nämlich passieren, dass Leute wie Tina plötzlich eigenständig losrennen, um den für sie bekannten Weg zu verfolgen, also rasch und unvermittelt über die Fahrbahn zu rennen. Oder sie setzen sich schlichtweg an Ort und Stelle hin – und sei es mitten auf die Straße oder in eine Pfütze …
Wie gesagt: Aktiver Protest war noch nie Tinas Problem.
Tina hat zwar nicht das Vollbild eines Autisten, aber ausgeprägte autistische Züge. Menschen wie Tina sind dazu verdammt, vieles, manche auch alles mit sich alleine auszumachen: in einem Winkel in ihrem Innersten, der so fest verschlossen ist, dass denjenigen, die alles für sie tun und sein wollen, allzu oft nur die Rolle des ohnmächtigen Zuschauers zukommt.
Es bleibt keine andere Chance für die betroffenen Eltern, als sich aus dem tiefen Loch, das einem der Kummer gegraben hat, herauszubaggern, Hilfen anzunehmen und dem Schicksal eins auszuwischen, indem man das Leben in seiner Schräglage akzeptieren lernt. Es hat eben nicht anders sollen sein, und damit basta!
Ein langer Weg bis dahin, den ich in dem Band Meine besondere Tochter – Liebe zu einem Kind mit Behinderung (Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2010) versucht habe zu beschreiben. Die Arbeit an jenem Buch liegt mehr als zehn Jahre zurück. Als ich begonnen hatte, war alles noch so neu: Vier Jahre lang habe ich an dem Manuskript gesessen, habe damals noch per Hand geschrieben, durchgestrichen, verworfen, neu begonnen. Und das alles aus eigenwilliger Perspektive – in der seltenen Du-Form, als würde ich einen Brief an mich selbst schreiben. Einfach paradox! Ich wollte über meine Tochter und mich berichten, aber selbst eigentlich nicht so richtig vorkommen.
Zum Glück geriet das Manuskript durch Zufall an eine Journalistin, die es einem Literaturagenten zeigte … Zufall ist manchmal etwas, das einem zufällt. Und so traf Tinas und meine Geschichte auf einen Lektor, der rigoros auf der einzig vernünftigen Erzählperspektive bestand: auf der Ich-Perspektive! So einfach wie logisch. Aber das musste ich erst einmal kapieren, denn eigentlich war das Buch ja ursprünglich für mich.
Ich habe mir mein Leben mit Tina von der Seele geschrieben. Nein. Ich habe es mir in die Seele geschrieben, denn durch das Hinschreiben wurde mir bewusst, wie gut mir Tina gefällt und wie sehr sie ein Teil von mir ist. Was ging es andere Menschen an, wie ich mich fühlte und was für ein Kind ich hatte? Damals nannte ich meine Tochter im Manuskript tatsächlich Mein Anderes Kind. Aus heutiger Sicht ganz und gar unpassend, denn in erster Linie ist sie Tina – ein höchst individuelles Menschenkind, das es nicht nötig hat, sich ausschließlich über ihr Anderssein definieren zu lassen.
By the way: Wegen Tina bin ich Schriftstellerin geworden. Da man unsere Tochter besser niemals alleine in einem Zimmer lässt, man aber nicht ununterbrochen Lust hat auf Action, bis der Arzt kommt, beschäftigt man sich zwangsläufig irgendwann selbst. Dies hat sich bei mir zur Initialzündung gemausert, bedenkt man, dass ich bereits als Kind Bücher fabuliert habe.
Mein Kopf war immer schon voller Geschichten. Nun hat mich Tina dahin geschubst, wo ich hingehöre-und in meinem Innersten immer schon hinwollte – nämlich zur schreibenden Zunft. Allen Ernstes: Im Januar habe ich meinen Job als Oberstudienrätin an einem altehrwürdigen Gymnasium gekündigt, weil ich mich beruflich nur noch damit befassen möchte, was ganz offenbar meine Bestimmung ist.
Danke, Tina!
Nun ist Tina eine erwachsene Frau – jedenfalls an Jahren und natürlich auch vor dem Gesetz. Ich bin nicht nur ihre leibliche Mutter, sondern in juristischem Sinn ihre Betreuerin und in vielfältiger Hinsicht nah dran am Leben meiner besonderen Tochter. Eine große Verantwortung – ohne Frage. Aber zugleich eine Aufgabe, die ich nicht missen möchte, zumal ich gelernt habe, Verantwortung abzugeben, denn es gibt hervorragend ausgebildete Betreuerinnen und Betreuer. Es ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, was Eltern in den sechziger Jahren, also deutlich vor meiner Zeit als Tinas Mutter, mit der Lebenshilfe ins Leben gerufen haben. Sie betrifft bei weitem nicht nur die besonderen Mitmenschen, sondern uns – die Eltern. Wenn man es recht bedenkt, sind nämlich wir Eltern diejenigen, denen geholfen werden muss – vor allem, wenn wir noch am Anfang unserer Karriere derjenigen stehen, die ein behindertes Kind bekommen haben.
Schon hier sei angemerkt, dass mein Leben bereits seit längerem in ziemlich geregelten Bahnen abläuft, weil Tina dort leben darf, wo sie nun lebt: in einem Wohnheim des Landschaftsverbands Rheinland. Mit Hilfe unserer Steuern ist er Kostenträger und nimmt mir die finanzielle Seite weitestgehend ab. Und so wird auch dafür sorgt, dass mein Kind auf seine spezielle Weise ein eigenständiges Leben führen kann und sorglos alt werden darf – auch dann, wenn es mich eines Tages nicht mehr gibt.