Читать книгу Das unsterbliche Nashorn - Dorothea Flechsig - Страница 6
1. Kapitel Ori, das kleine Nashorn
ОглавлениеDie meisten Kinder haben eine Familie. Viele haben eine Mutter und einen Vater. Manche streiten mit Geschwistern und vertragen sich wieder. Vielleicht springt auch freudig ein schwanzwedelnder Hund am Gartenzaun hoch, wenn die Kinder aus der Schule zurück nach Hause kommen, und im Sommergarten duftet es nach Rosen und Jasmin. In der Online-Werbung flimmern solche Familien auf dem Bildschirm. Sie lachen und feiern und liegen sich in den Armen. Aber es gibt auch Kinder, die haben weder einen Gartenzaun noch einen Hund, geschweige denn Geschwister, nicht einmal einen Vater und auch keine Mutter.
Es gibt so unzählige Möglichkeiten aufzuwachsen. Es ist immer die Frage, wer wann wo und wieso aufeinandertrifft. Leben ist Bewegung und Begegnung. Was wäre das Leben ohne Rätselhaftes, Unerklärliches, ohne magische Momente? Ich habe allerlei Menschen getroffen und ihre Geschichten gehört. Seit langer Zeit pflege ich an Lebensjahren reiche Menschen. Ich mag das Wort „Alte“ nicht. Das klingt so verbraucht. Ihr Leben war in mancher Hinsicht ganz anders, als sie jung waren. Ob es damals besser war als heute? Ich kann das nicht beurteilen, ich bin mein Dasein so gewöhnt, wie es jetzt ist. Die meisten Menschen finden, so schön wie in ihrer Kindheit sei es nicht mehr. Aber einige Dinge sind bis heute gleichgeblieben. Nur wenige Begegnungen sind von kurzer Dauer, hinterlassen aber lebenslang einen tiefen, bleibenden Eindruck. Solche Momente sind wahre Magie.
Wenn ich auf Ori angesprochen werde, schwindle ich genauso, wie es Florin lange getan hatte. Wenn ich gefragt werde, warum ich ein kleines Nashorn besitze, das mir nur bis zu den Knien reicht, und woher ich es habe, antworte ich: „So, wie es manchmal kleinwüchsige Menschen gibt, gibt es auch in der Welt der Tiere allerlei Variationen in der Größe.“ Mein Mini-Nashorn sei ein Geschenk eines Zirkusdirektors gewesen, erzähle ich, als dieser seinen kleinen Wanderzirkus hätte aufgeben müssen. „Wie süß“, zwitschern viele erstaunt und wollen Ori berühren. Zum Glück mag er Streicheleinheiten. Ori kann Gesten von Menschen verstehen. Er ist überhaupt das liebste und friedlichste Nashorn, das ich kenne.
Ehrlich gesagt, kenne ich nur Ori. Ich bin bisher noch keinem weiteren Nashorn begegnet.
Seitdem aber hat sich vieles in meinem Leben zum Guten verändert. Daher will ich euch nun die wahre Geschichte erzählen, beginnend mit dem ungewöhnlichen und wunderbaren Leben von Florin Fabricius. Von ihm habe ich Ori bekommen. Er hat mir das Nashorn anvertraut. Aber das eigentliche Geheimnis, nämlich woher Florin Fabricius den Dickhäuter hatte, ist eine andere Geschichte. Damit ihr auch diese verstehen könnt, beginne ich nur wenige Tage nach Florins Geburt.