Читать книгу Das unsterbliche Nashorn - Dorothea Flechsig - Страница 9
4. Kapitel Eine behütete Kindheit
ОглавлениеÜber den Vorfall gab es drei Tage nichts Neues. So lange kaufte Elvira sich alle lokalen Zeitungen. Dann entdeckte sie eine Notiz, eine Meldung zur Toten in ihrer Straße unter den Polizeinachrichten. Niemand kannte ihren Namen. Im Artikel hieß es, die Frau habe sich vermutlich illegal hier aufgehalten. Es stand nichts dazu in den wenigen Zeilen, warum sie gestorben, woher sie gekommen oder ob sie verfolgt worden war. Kein Wort darüber, dass sie Mutter war und nur wenige Tage zuvor ein Baby entbunden haben musste. Das Landeskriminalamt bat nur um Mithilfe zur Identifizierung. Trotz intensiver Ermittlungen konnte die Identität der unbekannten Frau nicht ermittelt werden.
Elvira schnitt die Meldung aus und verstaute sie in einem Holzkästchen mit einem bunten Schmetterling darauf. Sie hatte Florins Mutter ein Versprechen gegeben und war fest entschlossen, ihr Wort zu halten und sich um Florin zu kümmern. Sie wollte den Jungen großziehen, als ob es ihr eigenes Kind oder Enkelkind wäre.
Und so geschah es auch. Elvira war sehr gefordert von dieser neuen Aufgabe in ihrem Leben. Der kleine Wurm war hilflos und herzergreifend. Nie wieder wollte sie ihn hergeben. Sie kümmerte sich liebevoll um Florin, so gut sie es eben konnte.
Er wuchs heran und Elvira war immer in Sorge. Niemand sollte erfahren, wie er zu ihr gekommen war. Sie befürchtete, man würde ihn ihr sonst wegnehmen. So schickte sie ihn weder in den Kindergarten noch zur Schule. Wenn er krank wurde, ging sie zu ihrem Hausarzt, schilderte seine Beschwerden so, als ob sie selbst sie hätte, und ließ sich Arznei verschreiben, die er in geringerer Dosierung dann bekam. Er besaß also auch keine Krankenkarte. Kurz gesagt: Er war nirgends registriert und so auch bei keinem Amt oder keiner Behörde gemeldet. Er besaß keinen Ausweis und gehörte auch keiner Kirchengemeinde oder Religion an. Falls jemand bei ihnen vorbeikam, zum Beispiel der Schornsteinfeger, sagte Elvira, sie sei Florins Oma und seine Mutter würde im Ausland studieren.
In Großstädten wird wenig nachgefragt und viel toleriert. Warum sollte sich jemand in eines von mehreren Millionen Leben einmischen? Der Junge war fröhlich und Elvira unauffällig. Lange schien das gutzugehen.
Florin war ein kluges Kind. Er lernte von Elvira kochen, stricken, sticken, lesen, rechnen und Klavier spielen. Sie unterrichtete ihn jeden Tag von 10 Uhr bis 13 Uhr in Mathematik und Deutsch, lernte mit ihm Gedichte auswendig, erklärte ihm die Länder und ihre Besonderheiten und pflanzte mit ihm auf dem Fensterbrett Kräuter und Blumen. Nur für ihn besuchte sie sogar einen Senioren-Internetkurs an der Volkshochschule und lernte gemeinsam mit ihm online Englisch und Französisch.
Am Nachmittag durfte Florin auch nach draußen gehen und im Hinterhof spielen. Sie machten gemeinsam regelmäßig Ausflüge in große Parks. Sie fütterten Tauben oder Schwäne am See. Ihre Freizeitaktivitäten durften nie viel kosten. Elvira wusste genau, wo man in der Stadt Schönes erleben konnte, ohne dass man dafür Geld bezahlen musste, denn ihre Rente war nicht üppig. So musste sie gut haushalten.
Florin las viel in Büchern, die ihm Elvira aus der Bibliothek mitbrachte. Da sie immer Angst hatte, es könnte irgendjemand dahinterkommen, dass Florin nicht ihr Enkel war, erzog sie ihn, möglichst nicht aufzufallen. Sie wusste, dass es eigentlich eine Straftat war, ein Kind aufzunehmen, ohne es bei den Behörden anzumelden. Das machte es erforderlich, anderen Menschen nichts von sich zu erzählen, sich niemandem anzuvertrauen. Solange Florin sich erinnern konnte, hatte Elvira ihn ermahnt, was er sagen solle, wenn jemand nachfragte, woher er komme oder wer er sei. „Ja, ja, ich weiß“, antwortete Florin. „Ich heiße Florin und bin dein Enkel. Solange meine Mutter im Ausland studiert, wohne ich bei dir.“
Florin fehlte es an nichts. Nur sehnte er sich nach gleichaltrigen Kindern. Aus Angst und Vorsicht sollte er keine Freundschaften vertiefen. Wenn es ihm langweilig wurde, spielte er Klavier. Die Musik beruhigte ihn, und während er spielte, verfiel er in Träumerei. Er stellte sich all das vor, was ihm fehlte, oder was er nicht konnte. Wie er mit einem Freund lachend auf dem Fahrrad um die Wette fuhr oder wie er mit Kumpels auf dem Sportfeld tobte. Er stellte sich seine Mutter vor. Sie war wunderschön, breitete die Arme nach ihm aus und lachte ihn glücklich an. Die Tasten des Klaviers wurden sein innerer Halt. Er brauchte das Spielen, um zu überleben, genauso wie das Ein- und Ausatmen.
Immer öfter wurde es ihm eintönig, nur mit Elvira zu reden. Die Neugier, andere Menschen, vor allem Gleichaltrige, näher kennenzulernen, wuchs von Tag zu Tag. Er wünschte sich, in einer Fußballmannschaft mitzuspielen. Aber Elvira blieb streng. Deshalb war er manchmal sehr frech zu ihr oder ärgerte sie mit Absicht, indem er extra nicht auf sie hörte. Elvira war ihm aber nie lange böse.
Eines Tages entdeckte Florin etwas sehr Ungewöhnliches. Er beobachtete ein Mädchen im Hinterhof. Sie saß auf einer Mauer, schaute auf ihr Handy und nickte mit dem Kopf im Takt. Florin schlenderte auf sie zu. Sie trug Kopfhörer.
Elvira war unterwegs. Sie hatte einen Arzttermin und musste sich neue Tabletten verschreiben lassen, denn ihr Herz war schwach und sie hatte das Gefühl, dass es in letzter Zeit in der Nacht manchmal unregelmäßig schlug. Fasziniert sah Florin dem Mädchen zu. Ihr braunes Haar hatte einen Rotschimmer in der Sonne und sie trug ein dunkelgrünes Haarband. Er stand nur da und schaute sie an. Sie nahm die Kopfhörer ab.
„Was is’n los?“, fragte sie forsch.
„Was meinst du?“, wunderte sich Florin. „Was soll sein?“
„Was glotzt du so?“, zischte sie genervt.
„Ich glotze nicht. Ich sehe dich nur an.“ Florin betrachtete sie weiter.
„Hast du irgendein Problem?“, fragte sie unhöflich. Als Florin den Kopf schüttelte, steckte sie ihre Kopfhörer wieder in ihre Ohren und drehte sich von ihm weg.
Florin kletterte geschickt auf die Mauer und setzte sich nur einige Meter entfernt von ihr hin. „Du bist unhöflich!“, sagte er laut.
Das Mädchen seufzte: „Ey, ich will hier nur in Ruhe meine Musik hören!“
„Was für Musik hörst du denn?“, fragte Florin. Sie antwortete nicht und reichte ihm schweigend einen der zwei kleinen Kopfhörer. Er rutschte näher und lauschte. „Ah, das habe ich mal im Radio gehört!“
„Was magst du für Musik?“, fragte sie ihn.
Florin lächelte, denn jetzt war ihre Stimme freundlicher. „Ich spiele Klavier. Volkslieder, Mozart, Beethoven.“
„Echt, so was Schräges magst du?“
Florin nickte verunsichert. „Schräg?“, wiederholte er fragend.
„Na, so ein altertümliches Geklimper ist nicht so meins! Kannst du gut Klavier spielen?“
„Ich weiß nicht. Ich kann dir ja mal was vorspielen, wenn du magst.“
Florin war über seine Worte selbst überrascht. Das würde Elvira bestimmt nicht gefallen.
„Wie heißt du?“, fragte das Mädchen.
„Florin. Und du?“
„Ich bin Paula. Meine Mama besucht hier im Seitenflügel meine Großtante. Sie ist vor Kurzem hierhergezogen.“
Florin nickte. Paula hatte lange, anmutige Finger.
Die Nägel ihrer kleinen Finger waren schwarz lackiert.
„Und du?“, fragte Paula.
Florin sah zu ihr auf. „Ich wohne bei meiner Oma“, antwortete er zögerlich.
„Was ist mit deinen Eltern?“
„Meine Mutter arbeitet im Ausland.“
„Und dein Vater?“
„Der auch!“
Da er es Elvira versprochen hatte, log er. Florin war das Gespräch über seine Eltern unangenehm. Er wollte schnell auf ein anderes Thema kommen. Aber ihm fiel nichts ein. Beide schwiegen.
„Wie verstehst du dich mit deiner Oma?“, fragte Paula ihn endlich.
„Wir verstehen uns sehr gut. Sie ist nur oft überängstlich.“
„Und wie alt bist du?“, fragte Paula ihn weiter.
„Zwölf, und du?“
„Dreizehneinhalb und jetzt“ – sie atmete schwer aus – „noch eine Sekunde älter.“ Paula lächelte Florin an und er lächelte zurück.
„Hast du auch einen Vater?“, fragte Florin. „Klar, aber den seh ich nie. Ist wohl ein Volltrottel. Hat uns schon verlassen, als ich noch ein Baby war.“
„Das tut mir sehr leid“, antwortete Florin mitfühlend.
„Braucht dir nicht leid zu tun.“
„Welcher Arbeit geht deine Mutter nach?“, wollte Florin nun wissen.
„Warum redest du so geschwollen? Wieso interessiert dich das überhaupt?“
„Ich wollte nur höflich sein und das traurige Gespräch über deinen Vater beenden“, entschuldigte sich Florin.
„Ich bin nicht traurig wegen meinem Vater. Ich vermisse ihn überhaupt nicht. Der ist mir egal“, entgegnete ihm Paula. „Du bist echt ein komischer Vogel.“
Paula hatte schöne geschwungene Augenbrauen. Florin fand überhaupt ihr Gesicht wunderschön. Alles passte perfekt zusammen. Die Augen zur Nase, die Nase zum Mund, der Mund zum Kinn, das Kinn zum Hals. Die Sommersprossen auf ihrer Nase. Sie war hübsch.
„Vermisst du deinen Vater?“, fragte Paula.
„Ja!“ Florin nickte traurig.
Das war nicht gelogen. Oft, wenn er Männer beobachtete, malte er sich aus, dass einer davon sein Vater sein könnte. Als er noch kleiner gewesen war, hatte er sogar einmal die Hand eines Fremden genommen und ihn gefragt, ob er sein Papa sein wolle.
„Wie lange hast du denn deinen Vater nicht gesehen?“
„Ich habe ihn noch nie gesehen.“
Paula wunderte sich. „Aber vorhin hast du erzählt, dass er im Ausland arbeitet.“
„Ja, das tut er bestimmt. Ich weiß aber nicht, wo.“
Da kam Paulas Mutter in den Hof.
„Tschüss, ich muss los!“
„Kommst du mal wieder?“, fragte Florin.
Paula begann hektisch in ihren Hosentaschen herumzukramen. Dann in ihrem Rucksack, der neben ihr lag. Sie holte einen Stift. „Hast du ’nen Zettel?“ Florin schüttelte den Kopf. Sie wühlte weiter herum und schrieb auf ein Kaugummipapier in dicken Buchstaben PAULA und darunter ihre Telefonnummer. „Ruf mich an! Wir bequatschen, wann du mir mal Mozart oder so ein Zeug vorklimpern kannst.“
Sie sprang von der Mauer und streckte ihm die flache Hand entgegen. „Give me Five!“
Florin war verwundert. Er umfasste ihre Hand mit seiner Hand vorsichtig. Paula merkte, dass er sie nicht verstanden hatte. Sie lachte irritiert. „Also, du lebst echt hinterm Mond!“
Ihre Mutter rief: „Komm jetzt.“
„Mach’s gut“, verabschiedete sie sich, zog ihre Hand aus seiner und lief ihrer Mutter nach.
Florin hielt das Kaugummipapier in den Händen. Er empfand es als sehr schade, nicht länger mit ihr reden zu können. Jetzt fielen ihm auf einmal gleich mehrere Dinge ein, die er gerne von ihr gewusst hätte. Er wurde etwas traurig, dass sie fortgegangen war. Aber er war auch froh, denn er hatte ja ihre Telefonnummer.
Schon am kommenden Tag, als Elvira nicht zu Hause war, rief er sie an. Er stellte ihr Fragen und er lauschte ihrer Stimme. Aber schon nach wenigen Minuten würgte sie ihn ab. „Ich muss los. Ich ruf dich an, wenn wir das nächste Mal kommen, versprochen. Gibst du mir deine Handynummer?“
Florin stockte, denn er hatte kein Handy. Er verriet ihr die Festnetznummer. Zum ersten Mal in seinem Leben gab er einem Mädchen seine Telefonnummer.
Ab diesem Tag stürmte er immer als Erster ans Telefon, wenn es klingelte. Elvira merkte, dass er einen Anruf abpassen wollte und schimpfte: „Was soll das? Du weißt, dass du nicht abnehmen sollst!“ Sie überlegte, welches Gespräch er so sehnsuchtsvoll erwartete.
Er erzählte ihr nichts. Ihr erster Impuls war, ihn weiter zur Rede zu stellen, aber sie hielt sich zurück. Schon länger hatte sie gegrübelt: Ob das ewig so weitergehen sollte? Obwohl sie Florin liebte und warmherzig für ihn sorgte, nagte an ihr das schlechte Gewissen. Ihr war bewusst, dass sie ihn nicht für immer verstecken und geheimhalten konnte. Sie wusste, sie musste loslassen. Aber sie wusste nicht, wie.
Zwei Wochen später war es endlich soweit: Paula kam wieder. Während Paulas Mutter ihren Verwandtschaftsbesuch abstattete, trafen sich Florin und Paula in einem kleinen Café, nicht weit von Florins Zuhause entfernt. Florin hatte diesen Treffpunkt vorgeschlagen. Es war das einzige Café, das er kannte, denn dort aß er mit Elvira jeden Sonntagmorgen ein Stück Käsekuchen. Sie behauptete, es wäre der beste Kuchen in der ganzen Stadt.
Die Kellnerin kannte Florin und begrüßte ihn herzlich: „Nanu, heute ohne deine Oma?“
Florin nickte und antwortete: „Bitte sagen Sie ihr nicht, dass ich hier war.“
Die Kellnerin lachte: „Ich verrat kein Wort. Das erste Date geht niemanden was an.“
Florin wurde rot. Paula ließ sich nicht stören und las in der Karte. „Für mich ein Stück Erdbeerkuchen“, sagte sie schließlich.
„Das nehme ich auch“, sagte Florin.
Die Kellnerin lächelte. „Gute Wahl! Und zu trinken?“ Mit selbstverständlichen Handgriffen säuberte sie ruckzuck die Tischplatte.
„Du darfst dir aussuchen, was du willst!“, sagte Florin zu Paula. Er hatte die Hosentaschen voller Kleingeld, das er durch das Abgeben von Pfandflaschen heimlich gesammelt hatte.
Paula redete viel. Sie erzählte ihm spannende Geschichten über ihre Schule, über ihre Lehrer und Mitschüler. Florin hörte ihr aufmerksam zu. Bis Paula fragte: „An welche Schule gehst du?“
Florin erschrak. Was sollte er jetzt sagen? Er wollte nicht verraten, dass er von Elvira unterrichtet wurde. „An die Johann-Sebastian-Bach-Schule“, log er. Florin wusste nicht einmal, ob es diese Schule wirklich gab, aber er schätzte die Wahrscheinlichkeit hoch ein, dass es eine Bach-Schule gab. Und falls nicht, klang es zumindest glaubwürdig. Paula nahm es ihm auf jeden Fall ab. Sie nickte und erzählte weiter. Er hing an ihren Lippen. Paula gefiel seine Aufmerksamkeit. Auch wenn er manchmal komische Fragen stellte, mochte sie ihn. Dass er so eigenartig war, entschuldigte sie damit, dass er von seiner Großmutter erzogen wurde.
Von nun an trafen sich die beiden heimlich immer häufiger. Aber Florin lud sie nie zu sich nach Hause ein. Dabei hatte er Paula versprochen, ihr auf dem Klavier vorzuspielen. Und sie wollte ihn unbedingt spielen hören.