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3. Kapitel Zweisam statt einsam

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Als ihr Atem ruhiger wurde, legte Elvira das Bündel aufs Sofa im Wohnzimmer. Sie schob ihren Sessel davor, damit es nicht hinunterfallen könnte. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und atmete durch. „Ach, herrje! Was habe ich nur getan?“, sprach sie zu sich selbst. Sie sah den Winzling an und schämte sich. „Ich habe ein Baby genommen und eine Tote allein auf der Straße zurückgelassen“, murmelte sie.

Elvira konnte nicht ruhig sitzen, stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Währenddessen verzog das Baby seinen Mund, mit den winzigen Armen und Beinen fing es an zu strampeln und wild herumzufuchteln. Es begann unzufrieden zu quengeln und dann bitterlich zu weinen.

„Was mach ich jetzt? Was mach ich jetzt? Ich kann das nicht!“, murmelte Elvira. Sie versuchte, tief in den Bauch zu atmen, rechnete 8 x 92 und zählte dann in Achterschritten von 736 rückwärts: 728, 720, 712. Das half ihr, und so konnte sie sich etwas beruhigen. Vorsichtig nahm sie Florin in die Arme, wiegte ihn hin und her und sang leise ein Schlaflied: „Schlaf, Kindlein, schlaf! Dein Vater hüt’ die Schaf. Die Mutter schüttelt’s Bäumelein, da fällt herab ein Träumelein.“ Sie verstummte traurig. Bei der Zeile „die Mutter schüttelt’s Bäumelein“ musste sie an die Frau denken, die nur einen Block weiter verlassen, tot und allein auf dem Gehweg im Kalten lag.

Elvira schämte sich. Florin weinte wieder. Sie streichelte den Kleinen über die Wange und wiegte ihn. Aber das gefiel Florin gar nicht. Sein forderndes Quengeln wurde immer energischer, bis er laut schrie. Elvira wurde unsicher. Sie legte Florin zurück aufs Sofa. Aufgeregt lief sie im Wohnzimmer hin und her. Sie wollte wieder zählen, aber vor lauter Sorge um den Kleinen konnte sie sich nicht konzentrieren. „Was mach ich denn jetzt? Was mach ich denn jetzt?“, murmelte sie.

Sie setzte sich ans Klavier und spielte: „Der Mond ist aufgegangen …“ Das half. Florin lauschte der Musik. Er wurde still. Mit seinen blauen Augen sah er zur Decke, dann aus dem Fenster in die sternklare Nacht. Sein Blick wirkte, als ob sein unschuldiges Wesen zwischen Himmel und Erde hin- und herflattere und sich nicht entscheiden könne, wo es lieber verweilen wollte. Elvira spielte weiter. Das Baby beruhigte sich und schlief ein.

Jetzt sah Elvira ihn genauer an. Wie zart und weich seine Haut war. Er war ein sehr hübsches Baby. Gut genährt, mit flaumigen, weichen, dunklen Haaren und einer kleinen hübschen Nase. Er hatte winzige, zarte Fingerchen. Als Elvira sie streichelte, griff er danach und umklammerte sie.

„Florin heißt du. Das ist ein blumiger, schöner Name. Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich“, flüsterte sie. Elvira wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Sie klemmte noch einige Kissen zwischen Sessel und Sofa und schaute dann auf die Wanduhr. Für das Baby benötigte sie wichtige Dinge, wie beispielsweise ein Fläschchen, Milchpulver und Windeln. Der Spätkauf um die Ecke hatte noch 36 Minuten geöffnet. Das Baby alleinzulassen, löste ein großes Unbehagen in ihr aus, aber sie wusste keinen anderen Ausweg. Schnell zog sie alle Vorhänge zu, nahm ihre Geldbörse, einen Korb und verließ das Haus.

Schon von Weitem sah sie einen Krankenwagen auf der Straße parken. Zwei Männer schoben eine zugedeckte Liege in das Auto. Elvira ging langsam weiter. Ihr Herz pochte. Ein Rettungsarzt sprach ins Mobiltelefon: „Nein, die Frau ist bereits tot. Nein, keine Papiere.“

Er stieg in das Auto und verriegelte es von innen. Ein junger Mann sah dem Krankenwagen nach.

„Kannten Sie die Frau?“, fragte ihn Elvira leise. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe sie hier gefunden und den Notdienst angerufen. Aber sie war bereits tot. Ich muss noch auf die Polizei warten. Und das am Weihnachtsfeiertag.“

Elvira fiel das Atmen schwer. „Auf die Polizei?“, fragte sie nervös.

„Ja, ich muss eine Zeugenaussage machen.“

„Aber warum denn eine Zeugenaussage?“

Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nichts kann ich erzählen. Trotzdem muss ich hier in der Kälte rumstehen und warten“, meckerte er misslaunig. Elvira wurde schwindelig, aber sie ließ sich nichts anmerken.

Ein Polizeiwagen kam und bremste scharf. Zwei Beamte stiegen aus. Der junge Mann rieb seine Hände und ging auf sie zu. Elvira wandte sich ab.

„Halt! Sind Sie eine Zeugin?“, rief ihr einer der Polizisten nach. Elvira blieb kurz stehen und schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen. Der junge Mann mischte sich ein: „Nein, ich bin der Zeuge, aber ich habe auch nichts gesehen.“ Einer der Polizisten nahm seine Aussage auf. Elvira wollte unbemerkt davonschleichen. Aber der andere Polizist folgte ihr.

„Warten Sie bitte!“, bat er freundlich. „Wohnen Sie hier in der Nähe?“ Elvira blieb stehen und nickte.

„Haben Sie die Frau vielleicht schon mal gesehen?“ Elvira schüttelte den Kopf.

„Sind Sie sicher?“, fragte der Polizist. „Ja, ich bin hier eben erst zufällig vorbeigekommen. Ich muss noch rasch etwas besorgen“, antwortete Elvira. Sie beeilte sich, wegzukommen, und hastete zum Laden. Er war noch offen. Sie war die letzte Kundin.

Zum ersten Mal in ihrem Leben kaufte sie Windeln, eine Babyflasche, Milchpulver und Babycreme. Die Kassiererin wirkte müde und zog alles, ohne Fragen zu stellen, über den Scanner, nahm das Geld und verabschiedete sich, ohne Elvira anzusehen.


Das unsterbliche Nashorn

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