Читать книгу "Euch zeig ich's!" - Dorothee Degen-Zimmermann - Страница 4

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Ruth Angst, 1930

Handarbeitslehrerin, Rafz

«Wartet nur, euch zeig ich’s!»

Zuerst fallen die hellen, wachen Augen auf. Mit ihrem sonnengebräunten Gesicht und den rosigen Wangen sieht Ruth Angst aus, als hätte sie bis vor fünf Minuten im Garten gearbeitet. Stimmt nicht, leider. Vor zwei Jahren musste sie den Garten aufgeben, die Knie machten nicht mehr mit.

Die Freude am Gärtnern ist als Überraschung in ihr Leben gekommen. Längst ist sie bestandene Handarbeitslehrerin in Dübendorf, als ihr an einem trüben Novembertag ein holländischer Blumenkatalog in den Briefkasten flattert. An die Fensterscheiben prasselt der Regen, und aus dem Katalog leuchten ihr Tulpen, Osterglocken und Sterneblueme entgegen. Einem Impuls folgend, bestellt sie ein ganzes Paket Blumenzwiebeln. Denkt, das wäre etwas für ihre Schwester. Und weiss plötzlich: «Ich muss einen Garten haben.» Sie erbettelt sich von ihrem Vermieter, dem «Millionen-Keller», einem Immobilienhändler und ehemaligen Bauern, ein paar Quadratmeter Wiese und macht sich sofort an die Arbeit. Im Novemberregen sticht sie die zähen Graswurzeln aus, setzt Kompost auf, bereitet die Beete vor, und noch vor dem Klaustag steckt sie mit Begeisterung die Zwiebeln in die Erde. Abends ist sie hoch befriedigt, todmüde und kann endlich wieder einmal richtig schlafen. «Das ist es, das brauche ich als Ausgleich zum Schulalltag, dreckige Hände hin oder her.» Dabei hat sie als Kind dreckige Hände und Erde unter den Fingernägeln gehasst wie die Pest.

Fünf Gärten hat sie im Laufe der nächsten Jahrzehnte angelegt, jedes Mal aus einem Stück Wiese. Sie hat neben Blumen auch Gemüse und Beeren gezogen, und was in der Gefriertruhe keinen Platz mehr fand, «habe ich halt den faulen Weibern mit den gepflegten Fingernägeln schenken müssen. Man kann ja nichts umkommen lassen.»

Seit dreissig Jahren wohnt Ruth Angst in Rafz, in jener nördlichen Ecke des Kantons Zürich jenseits des Rheins, die von deutschem Gebiet umgeben ist. Seit dem Ausbau der S-Bahn ist das Dorf in den Sog der Agglomeration Zürich geraten. Ganze Einfamilienhausquartiere spriessen aus dem Boden. Die Gemeinde ist für Pendler attraktiv geworden. «Denen ist das Dorf egal, sie grüssen auch nicht.»

Geboren und aufgewachsen ist sie im Nachbardorf Wil. Am Sonnenhang über dem Dorf wachsen die Reben, dahinter senkt sich der Wald gegen die Grenze zu Deutschland. Im Süden breitet sich die Weite des Rafzerfeldes aus, topfebenes Schwemmland des Rheins. In ihrer Kindheit ist das noch Ackerland, so weit das Auge reicht. Ab 1960 wird hier in grossem Stil Kies abgebaut werden, «Futter» für die Autobahnen, Kläranlagen, Gewerbe- und Wohnbauten im ganzen Kanton. Fast alle im Dorf, so auch Ruths Eltern und Grosseltern, sind Bauern, es gibt zwei Schmitten, einen Wagner, einen Bäcker, vier Wirtschaften, damit hat sich’s. Wasterkingen, Hüntwangen, Wil und Rafz, die Zürcher Dörfer nördlich des Rheins, gehören zusammen und sind doch für sich. Die Siegrist in Wil schreiben sich mit IE, im Gegensatz zu den Sigrist mit I in Rafz. Sogar der Dialekt unterscheidet sich um Nuancen, die Ruth Angst auch im Alter noch bewusst pflegt: «Ich bin kein Windfahnen, spreche immer noch wilerisch wie in meiner Kindheit, ‹Vögili› mit dumpfem I, nicht mit dem spitzen Rafzer I.» Dagegen klingt der Dialekt der Knechte mit dem dunklen A schon fast exotisch. Sie kommen aus der Gegend um Zürich, das ist weit jenseits der Rheinbrücke von Eglisau.

Die Arbeit diktiert den Lebensrhythmus. Klar, dass die Kinder mithelfen in Haus, Feld und Stall. Ruth ist die Älteste von drei Schwestern, «leider», sie sollte Vorbild sein, das fällt ihr schwer. Viel lieber würde sie lesen, verschwindet ins Klo und stillt ihren Lesehunger mit den Zeitungspapierstücken, die als Klopapier dienen, denn Bücher gibt es nicht im Haus. Das setzt oft einen Klaps auf den Hintern oder bei frechen Antworten eine Maulschelle ab. Was soll’s, sie nimmt es hin wie die Sommergewitter.

«Zufällig» haben alle drei Mädchen in der zweiten Junihälfte Geburtstag, immer schön mit zwei Jahren Abstand. Als Ruth «schon drauskommt, wie das Ganze läuft», wundert sie sich darüber. «Wie habt ihr das fertiggebracht? Mit Knaus-Ogino?», fragt sie ihre Mutter. Die bekommt vor Verlegenheit rote Flecken am Hals: «Das mussten wir doch! Dann ist der Heuet vorbei, und bis zur Ernte mag man wieder mit dem Rechen gumpen.» Und die Zeugung fällt in die Sauserzeit, das passt auch nicht schlecht, folgert die gewitzte Tochter.


Ruth Angst, vierzehnjährig, «beim Verzetten auf unserer Wiese».

Auf den Tisch kommt, was man geerntet hat, Gemüse aus dem grossen Garten, Kartoffeln. Ruth beneidet die Kinder, die nach dem Mittagessen mit roten Spaghetti-Schnäuzen in die Schule kommen. Wenn es bei Familie Angst ausnahmsweise auch einmal Spaghetti gibt, stürzen sich die Mädchen mit Heisshunger darauf. Da bekommt der Grossvater feuchte Augen: «Das isch au schöö, weme de Chind cha gnueg z Esse gii.» Er hat in seiner Kindheit, als die Kartoffeln verdarben, Hungerzeiten erlebt.

In der Erdbeerzeit gehen die Kinder am Mittag von der Schule direkt aufs Erdbeerfeld unten in der Ebene, um beim Pflücken zu helfen. Die Körbchen werden gegen Abend von der Migros abgeholt. «Joghurt mit Beeren, mmh», steht darauf. Was ist Joghurt? «Ich habe gefragt, aber niemand hat es mir sagen können.» – «Lauft», ruft die Mutter übers Feld, wenn der Zeiger der Kirchturmuhr auf zehn vor zwei steht und sie zurück zur Schule müssen. «Die Hände waschen konnte man natürlich nicht.»

Jenseits der Grenze ist Krieg

Ruth geht in die dritte Klasse, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Die Generalmobilmachung holt die Männer von den Erntefeldern. Und – ebenso einschneidend für die Bauernbetriebe – auch die Pferde werden eingezogen. Harte Arbeit für alle Daheimgebliebenen, auch für die Kinder. «Man musste sich zu Tode schaffen damals, es war kein brauchbares Hosenbein mehr hier. Man hatte allenthalben zu wenig Hände.»

Im Frühling 1940 zieht sich die Schlinge rund um die Schweiz zu. In Wil erwartet man täglich den Befehl zur Evakuierung. Die Bäuerinnen werden aufgeboten, den Auszug zu proben: Wie lange dauert es, bis sie das Vieh über die Eglisauerbrücke getrieben haben? Keinesfalls will man den Deutschen den Rindsbraten überlassen! Mitten im verhassten Kartoffelstecken ist die Aussicht, fortzugehen, verlockend. Endlich keine dreckigen Hände mehr! Ruth stellt sich die Evakuierung abenteuerlich vor. Sie ist ja noch kaum je über das Rafzerfeld hinausgekommen. Wohin würden sie fliehen? Wo würden sie untergebracht?

Die Grenze vom Rhein um das ganze Rafzerfeld herum bis wieder zum Rhein wird mit vierfachem Stacheldraht gesichert. Gegen Menschen, nicht gegen Panzer. In den ersten zwei Kriegsjahren ist die Angst besonders gross. Die Männer sind weit weg, im Reduit.

Einmal kommt es zu einer Begegnung am Grenzzaun. An einem Sonntagnachmittag in der Weihnachtszeit gehen ihrer paar Mädchen, sie nennen sich die «Sonntagsbande», ins Holz hinauf go striele. «He, Kinder!», werden sie von jenseits des Stacheldrahtzauns angesprochen. Der Mann trägt eine schäbige Uniform, sein Deutsch klingt ganz anders als das vertraute Schwäbisch der benachbarten Dettighofer, fast unverständlich. «Ihr seht gut genährt aus», stellt er fest und erzählt von den polnischen Kriegsgefangenen, die er bewache, vom Hunger und dass er «heim zu Muttern» und «Plätzchen essen» möchte. Und die Mädchen wundern sich, wie viele Mütter er hat und dass man Plätzchen essen kann. Am nächsten Sonntag bringen sie, was sie zu Hause stibitzt haben, Chrööli, Käse, und die kecke Els bringt gar ein Stück Geräuchertes mit, weil sie das selber nicht mag. Sie schieben die Sachen in eine trockene Entwässerungsröhre, die unter dem Grenzzaun hindurch auf die deutsche Seite ragt. Dreimal werden die Sachen abgeholt, das vierte Mal macht sich der Fuchs darüber her.

Gefragt nach Flüchtlingen, fallen Ruth Angst merkwürdigerweise zuerst diejenigen ein, die die Grenze Richtung Norden passiert haben. Der Apotheker von Rafz etwa und Lehrer W., von dem die Leute sagen, er sei ein choge Nazi, verschwinden, nachdem im Herbst 1942 die ersten Todesurteile wegen Landesverrat bekannt werden. «Wir sind so gern zu dem in die Schule gegangen. Er war bildhübsch. Ich habe noch lange für ihn gebetet.»

An einem Wintermorgen wird sie früher als sonst geweckt: «Zieh dich weidli an, in der Küche steht einer.» Die Mutter hat in den frühen Morgenstunden in der Küche das Kraftfutter gerichtet für eine Kuh, die in der Nacht gekalbt hat. Da wird ans Fenster geklopft. Ein Fremder, das einzige Wort, das sie versteht, ist «Bahnhof». Ruth ist fasziniert: «Ein Bild von einem Mann! Schwarze Haare, schwarze Augen, ein Zigeuner vielleicht, ganz anders als die Alemannentypen in unserem Dorf.» Auf Geheiss der Mutter begleitet sie ihn die drei Kilometer zum Bahnhof Hüntwangen-Wil, ohne ein Wort wechseln zu können.

Der hat es geschafft über die Grenze, andere nicht. Vom Polenlager erfährt Ruth Angst später Schauriges. Ihre Familie besitzt Land ennet der Grenze im nahen Dettighofen. In den ersten Kriegsjahren ist die Grenze hermetisch geschlossen. Aber später dürfen die Bauern wieder hinüberfahren, um ihr Land zu bewirtschaften. Da zeigen deutsche Nachbarn hinüber zur grossen Linde am Waldrand: Dort hängen vier Polen. Sie wollten in die Schweiz fliehen und wurden erwischt.

Der Krieg ist nahe, sehr nahe. An einem Nachmittag im Herbst ist die Familie am Kartoffellesen im Hard, dem Gebiet südlich der Bahnlinie, aber nördlich des Rheins. Manchmal schaut Ruth Angst den Güterzügen nach, die von Italien nach Deutschland rollen oder umgekehrt. Da wird sie von einem amerikanischen Fliegergeschwader aufgeschreckt – «den Ton werde ich nie vergessen!» –, das herabsticht und einen langsam nordwärts tuckernden Güterzug beschiesst, immer und immer wieder. Der Schrecken ist gross. Als es wieder ruhig ist, siegt die Neugier. Aber die Heerespolizei ist schon zur Stelle und weist die Schaulustigen weg. Später spricht sich herum, in den Fässliwagen befinde sich italienischer Rotwein. Wer ein Velo hat, fährt zum Schauplatz. Die Tankwagen weisen Schusslöcher auf, aus denen der rote Saft rinnt. Den lassen sich die Männer nicht entgehen, stellen die mitgebrachten Eimer unter. Der italienische Wein ist süsser als das damals noch ungepflegte Eigengewächs. Als der Vater spät an jenem Abend nach dem Vieh schauen will, fällt er die Treppe hinunter. Sein Jammern lässt die Mutter ungerührt. «Geschieht ihm recht», brummt sie.

Der Anbauplan Wahlen bringt viele Vorschriften für die Bauern, sie müssen Raps anbauen, weil das Speiseöl fehlt, und Wald roden, um Ackerland zu gewinnen. Familie Angst wird letzteres zum Verhängnis. Im Februar 1944 fährt der Vater mit Ross und Wagen ins Holz, um Bäume zu fällen. Er wird von einem Baum getroffen und stirbt noch auf der Unfallstelle. Der Verlust legt sich wie ein dumpfer Schatten auf die Familie. Es wird still, alle gehen stumm ihren Pflichten nach. «Man hat sich geschämt, Trauer zu zeigen, man musste doch tapfer sein.» Die Mutter arbeitet noch mehr als bisher, und Grossvater, «der General der Dynastie» nimmt noch einmal das Heft in die Hand. Aber die jungen Knechte nehmen ihn nicht ernst. Einmal kommt er verärgert und verdreckt in die Küche, um sich zu waschen. Der Jakob habe ihn auf den Mist gestossen.

Gegen Ende des Krieges, am 22. Februar 1945, wird das Nachbardorf Rafz von einem alliierten Flugzeug bombardiert, das hört man bis nach Wil. Ein Haus wird dabei voll getroffen und eine ganze Familie, drei Erwachsene und fünf Kinder, kommt ums Leben.

Am 8. Mai 1945 in aller Frühe trifft sich Ruth Angst mit ihren Schulkameraden der 3. Sekundarschulklasse im Wald oben, um Maikäfer einzusammeln. Sie breiten Tücher unter den jungen Buchen aus. Wenn die Käfer von der Morgenkälte noch starr sind, kann man sie von den Bäumen schütteln wie Obst. Zwei Bücki zu je 75 Liter füllen sie, binden einen Sack darüber, damit die Käfer nicht entweichen, schütten sie beim Bad-Wirt ins Güllenloch und erhalten dafür von der Gemeinde 11 Franken für die Klassenkasse. Als sie zum Schulhaus kommen, ist der Platz mit Hortensien geschmückt. Die in Wil einquartierten Innerschweizer Soldaten stehen herum und scheinen auf etwas zu warten. Mit müden Köpfen und Beinen stehen die Kinder an Fritschi-Schreiners Hag und warten auch. Als eine Fanfare erschallt, werden die Soldaten auf dem Platz ganz still. Und nun geschieht Befremdliches. Männer in gestickten Röcken kommen aus dem Schulhaus, kleine rauchende Pfännchen schwingend, fromme Gesänge werden angestimmt, die Männer bekreuzigen sich, knien nieder. Die Kinder in ihrer Müdigkeit fangen an zu kichern. «Bei uns war eben niemand katholisch, wir hatten noch nie eine Messe erlebt.» Danach gehen sie ins Schulzimmer hinauf, um beim Lehrer das Maikäfergeld abzugeben. Da beginnen die Kirchenglocken zu läuten. «Es ist Friede jetzt, ihr habt heute frei», sagt der Lehrer. «Als ich heimkomme, sitzt der Grossvater am Radio. Er hat Tränen in den Augen.»

Ruth Angst erzählt mir diese Geschichte in allen farbigen Details. Sie hat sie in ihrem unverfälschten Wiler Dialekt aufgeschrieben und auch schon öffentlich vorgetragen.

Das Landei in der Stadt

Ruth Angst ist gut in Fremdsprachen. Stewardess wäre sie gerne geworden, «da müsste man ausländisch schwatzen können». Die Kinder lachen sie aus: «Du mit deinen Zöpfen und den dicken Beinen! Dich nehmen sie nicht, du segelst hundertmal herunter!» Entmutigt gibt sie diesen Wunsch auf. Niemand klärt sie auf, wie man Sprachen studieren und was man damit allenfalls machen könnte. Im Gegenteil, die Handarbeitslehrerin empfiehlt drei andern Mädchen ihrer Klasse, die Aufnahmeprüfung für das Handarbeitslehrerinnenseminar in Zürich zu machen, «aber was aus der Ruth werden soll, nimmt mich wunder. Die braucht einen geschlagenen Samstagnachmittag, um acht Paar Schuhe zu putzen.» Ruth Angst ist verletzt. «Der zeige ich’s!» Es stimmt zwar, dass sie langsam arbeitet, dafür nimmt sie es sehr genau. Heimlich meldet sie sich auch zur Prüfung an. Und besteht sie – welch ein Triumph! – als Einzige von den Vieren. Ihr genaues Arbeiten hat sich ausgezahlt.

So findet sie ihren Berufsweg zunächst eher aus Trotz denn aus Neigung. Als Einzige der drei Angst-Töchter besucht sie eine höhere Schule. Fünf Jahre dauert die Ausbildung, drei Jahre Fädi – Frauenfachschule mit Schneiderinnenausbildung und allgemeinbildenden Fächern an der Töchti – und zwei Jahre Arbili-Semi, die eigentliche pädagogisch-didaktische Ausbildung zur Handarbeitslehrerin. Die ganzen fünf Jahre pendelt sie von Wil nach Zürich mit Velo, Zug und Tram. Mit ihren geflickten Röcken und angestrickten Strümpfen fühlt sie sich als Landei und den schicken «Stadtmamsellen» weit unterlegen. «Man trug damals weite Baumwollunterröcke, die man ein bisschen hervorlugen liess, das fand ich sagenhaft frech!» Der Anfang ist schwierig, so schwierig, dass sie sich nachts bei der Mutter ausweint und ans Aufgeben denkt. Davon will die Mutter gar nichts wissen: «Jetzt hast du schon so viel gekostet …» Mit der Zeit findet sie den Rank, und der Unterricht – die Ausbildung in ihrer ganzen Breite – gefällt ihr «schaurig gut». Sie lernt die Facetten eines Frauenbetriebs kennen, Mädchenfreundschaften, manchmal mit erotischem Touch, aber auch Intrigen, parteiische Lehrerinnen und schmeichlerische Mitschülerinnen.

Auf eigenen Füssen

1951 schliesst sie die Ausbildung ab. Damals teilt die Erziehungsdirektion den Junglehrerinnen die Stellen zu. Etwa ein Drittel von ihnen, unter ihnen Ruth Angst, geht leer aus. Wie gern hätte sie etwas verdient, «wegen der Mutter, weil ich so viel gekostet habe». Stattdessen geht sie als Au-pair nach England, wo sie das Heimweh kennen lernt. Am Ostermontag reist sie ab, zum ersten Mal wirklich fort von der Mutter. In Eglisau verlässt der Zug das Rafzerfeld, «schon da habe ich s luuter löötig Wasser geheult».

London erlebt sie zu ihrer Verwunderung als Gartenstadt. Hinter den Reihenhäusern grenzt Garten an Garten. Oft gibt es Begegnungen über den Gartenzaun hinweg. Das ist ihre Chance zum Englischsprechen, denn sie arbeitet bei einer deutschsprachigen jüdischen Familie. Viel Arbeit, geringer Lohn. Sie ärgert sich über den Russ, der in der kalten Jahreszeit durch die schlecht schliessenden Fenster dringt und alles mit einer schwarzen Staubschicht überzieht. Sie fühlt sich ausgenutzt, hat aber nicht den Mut, sich zu wehren, bis ihr ein Nachbar empfiehlt, die Stelle zu wechseln. Das tut sie dann auch. Aber als ihr eine Stellvertretung in Eglisau und Winkel bei Bülach angeboten wird, ist sie hocherfreut und reist früher als geplant in die Schweiz zurück.

Nun macht sie also ihre ersten Erfahrungen als Lehrerin. Sie sieht noch so jung aus, dass sie kaum von den grossen Schülerinnen zu unterscheiden ist und die Inspektorin auf Schulbesuch fragt: «Wer ist denn hier die Lehrerin?» Sie wohnt wieder zu Hause und fährt die fünfzehn Kilometer nach Winkel und von dort zurück nach Eglisau mit dem Velo, denn es gibt noch keine Postautoverbindungen. Ein Jahr später wird sie in ihr Heimatdorf Wil versetzt, ins Schulhaus, in dem sie selbst zur Schule gegangen ist, gegenüber ihrem Elternhaus. Das Handarbeitszimmer befindet sich im obersten Stock. Wenn sie nach dem Mittagessen das Küchenfenster öffnet und die Zahnbürste vom Sims holt – ein Badezimmer gibt es in ihrem Elternhaus noch nicht –, stehen schon die Schülerinnen am Schulzimmerfenster und warten auf diesen Augenblick, um ihr dann entgegenzulaufen.

Drei Jahre unterrichtet sie in Wil. Dann heiratet ihre Schwester, und das junge Paar wohnt im Elternhaus. Da wird es Ruth Angst zu eng, und sie wechselt nach Dübendorf, wo sie 25 Jahre lang, die längste Zeit ihres Berufslebens, unterrichtet.

War Heiraten für sie nie ein Thema? «Ich bin ein Einspänner», erklärt sie schon im ersten Gespräch. An Gelegenheiten habe es nicht gefehlt. Sie findet leicht Kontakt, ist nie um einen lockeren Spruch verlegen. «Aber ich bin nie bereit gewesen zu Konzessionen.» Sie habe den Gedanken nicht ertragen, jemandem zu gehören. Dumm sei sie ja nicht, sie komme schon allein durchs Leben. «Immer wenn ich merkte, ui, ich verliere meine Freiheit!, bin ich unwirsch und ein Kotzbrocken geworden.» Es gab Liebe in ihrem Leben und reichlich Liebeskummer, mehr gibt sie nicht preis. «Traktandum 17b erledigt», erklärt sie trocken.

Sobald sie eigenes Geld verdient, beginnt sie in den Schulferien zu reisen. Hier kommt endlich auch ihre Sprachbegabung zum Zug. Mit Leichtigkeit lernt sie Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch. Latein büffelt sie, um sich von einem Liebeskummer abzulenken. Auch einen Arabischkurs besucht sie sechs Semester lang, «aber wenn man es nicht mehr regelmässig braucht, ist es hoffnungslos». Sie bereist fast alle arabischen Länder von Marokko bis Persien, oft mit einer Gruppe für einen ersten Kontakt und später auf eigene Faust. «Mir war einfach rundum wohl, die Araber sind schafseelengut», fasst sie ihre Erfahrungen zusammen. Sie erlebt rührende Gastfreundschaft – «ich bin mir vorgekommen wie eine Kostbarkeit auf einem Silbertablett» – und hält Gegenrecht, so dass man sie in Dübendorf wegen ihrer vielen arabischen Gäste «das Araberliebchen» nennt.

Vom Düben-Dorf zur Agglo-Stadt

Als Ruth Angst 1956 nach Dübendorf kommt, stimmt das «Dorf» noch, «man hat sich Grüezi gesagt auf der Strasse». Die Gemeinde entwickelt sich zum Vorort von Zürich, verdoppelt von 1957 bis 1970 ihre Einwohnerzahl von 10 000 auf 20 000 und ist seit 1974 politisch eine Stadt. Ruth Angst nennt sie konsequent «Dübi» statt Dübendorf. Die sozialen Auswirkungen der starken Bautätigkeit werden auch in der Schule spürbar. Billige Wohnungen ziehen sozial schwächere Mieter an, «es gab viele gestörte Familienverhältnisse, Dübi bekam einen schlechten Ruf, wie Schwamendingen».


Gastmahl in Meknes, Marokko, Ruth Angst in der Mitte (1965).

Mit fünfzig ist Ruth Angst aus heiterem Himmel mit Diabetes konfrontiert, wahrscheinlich ausgelöst durch eine rigorose Diät. Sie hat eine Knieoperation hinter sich, aber das Knie schmerzt weiterhin. «Kunststück, wenn man so zunimmt», sagt der Arzt, «mit solchen Knien darf man nicht so dick werden.» Das sitzt. Einmal mehr wird ihr Trotz angestachelt: Warte nur, dir zeig ich’s jetzt! In kurzer Zeit reduziert sie ihre Kleidergrösse von 44 auf 38. Alles wäre gut, wenn da nicht dieser wahnsinnige Durst wäre. Jemand macht sie darauf aufmerksam, dass dies ein Symptom von Diabetes sein könnte. Und wirklich, als sie den Arzt aufsucht, «haben sie mich grad ins Spital geschickt. Hochgradig Zucker!»

Von jetzt an ist alles anders. Sie, die so gern isst, muss Diät halten. Auslandsreisen sind von nun an zu riskant. Heftig lehnt sie sich gegen die Krankheit auf. So sehr, dass sie mehrmals daran denkt, ihr Leben fortzuwerfen. «Vier Jahre lang habe ich gcholderet.» Allmählich beginnt sie, die Grenzen zu akzeptieren, und damit wächst auch das Verständnis für anderer Leute Schwächen. «Früher hast du die Zimperlisen und Finöggeli verachtet, nun bist du selber so eine. Geschieht dir recht», weist sie sich selbst zurecht und findet, wenn nicht Trost oder Sinn, so doch eine Art grimmige Gerechtigkeit in dieser Einsicht.

Der Stress in der Schule wird zu viel, der Arzt rät ihr zu ruhigerer Gangart. Und sie glaubt, in der Kartause Ittingen den idealen Ort gefunden zu haben. Auf einer Wanderung entdeckt sie das idyllisch gelegene ehemalige Kartäuserkloster in der Nähe von Frauenfeld, vom Zerfall bedroht, von Holunderbüschen überwachsen. Eine Stiftung will die Anlage restaurieren und eine kirchliche Bildungsstätte daraus machen. Eine Hausmutter wird gesucht, die für die Bauarbeiter kocht und die Patienten aus der Psychiatrie, die im Werkbetrieb integriert werden, betreut. Ruth Angst stellt sich das ideal vor: Mit den Frauen würde sie Socken stricken, mit den Männern Lindenblüten pflücken und bis an ihr selig Ende in einer der lauschigen Mönchszellen wohnen. Sie kündigt ihre Stelle in Dübendorf und freut sich, dass sie den Mut aufbringt, mit gut 51 Jahren noch einmal etwas völlig Neues zu wagen.

Die Realität ist dann allerdings total chaotisch und hektisch. Die Küche ist behelfsmässig eingerichtet, die Zöglinge, die ihr helfen sollten, sind hoffnungslos unzuverlässig, die Arbeiter reklamieren, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht. Sie rackert sich ab von früh bis spät, bis zum Zusammenbruch. Sie braucht Monate, um sich davon zu erholen.

Also doch wieder Schule. In Rafz wird eine Handarbeitslehrerin im Teilpensum gesucht. «Ich bin gern da, wo der Himmel gross ist», antwortet sie dem Schulpräsidenten auf die Frage, warum sie gerade nach Rafz kommen wolle. Zu ihrer Verwunderung wird sie jüngeren Bewerberinnen vorgezogen. «Was, soo ne Alti!», hört sie ein Mädchen am ersten Schulmorgen sagen. Das stachelt ihren Ehrgeiz an: «Denen zeige ich, was eine Alte kann!» Sie besucht Kurse und hält sich in Modefragen auf dem neuesten Stand, um attraktive Arbeiten anbieten zu können. Und sie schätzt es, dass die kleine Schulgemeinde Rafz ihr mit dem Material viel mehr Freiheit lässt als jene in Dübendorf. «Ich glaube, den Mädchen hat das gefallen.»

Zwischen der Nähschule, die sie als Kind erlebt hat, und dem textilen Werken, das sie in ihren letzten Berufsjahren unterrichtet, liegen Welten. «Meine Mutter war noch froh, wenn wir Mädchen ein selbstgenähtes Baumwollnachthemd oder handgestrickte Strümpfe heimbrachten.» Das Flicken hatte einen hohen Stellenwert, die Kleider wurden ausgetragen, so lange es ging. «Und wenn man so sauber geflickt hat, dass der Flick kaum zu sehen war, hat man gestunken vor Stolz.» In den Fünfzigerjahren können die meisten Mädchen schon stricken, wenn sie in die Schule kommen. Nach und nach werden immer mehr Handarbeitsstunden aus der Stundentafel gestrichen, so reicht die Zeit kaum noch für grössere Arbeiten. Als die Konfektionskleider immer billiger werden, verliert das Selbernähen seinen Sinn und auch das Flicken wird vernachlässigt. An die Stelle des Nützlichen tritt das Gestalten. Ruth Angst kann nicht allzu viel anfangen damit: «Da gibt es ja originelle Sachen, aber eigentlich ist das Wohlstandsmüll.»


Ruth Angst in Akko, Israel (1962).

Kurz vor ihrer Pensionierung wird der Handarbeitsunterricht auch für Knaben obligatorisch. Sie selber unterrichtet keine gemischten Klassen mehr und ist nicht unglücklich darüber. «Das geht auf Kosten der Mädchen, die in Feinmotorik den Buben überlegen sind.»

Für ihre Pensionierung hat sie sich das Wandern vorgenommen, wenn schon das Reisen nicht mehr möglich ist. Dazu kauft sie sich viele Wanderkarten. «Ich habe mir vorgestellt, ich laufe alle diese Wege ab, und mit leergegessenem Rucksack und verschwitztem Blüsli wandere ich bis ins Grab. Das war so meine Idee von der dritten Epoche.» Knieschmerzen und Gleichgewichtsstörungen machen ihr einen Strich durch die Rechnung. Trotzdem macht sie täglich einen Rundgang, so weit sie die Beine tragen. Geblieben sind ihr Konzerte und Kinobesuche, die Handarbeiten – sie strickt beispielsweise bunte Fingerhandschuhe mit anspruchsvollen Mustern, exakt, wie es ihre Art ist – und die Freude an der Sprache, gerade auch an ihrer Muttersprache. Sie schreibt Erinnerungen im Wiler Dialekt auf und trägt sie da und dort vor, so auch im Radio in der Sendung «Schnabelweid».

Beim Erdbeerdessert – «Joghurt mit Beeren, mmh …» – frage ich: «Sie wirken lebenslustig und fröhlich. Stimmt der Eindruck?» Ruth Angst relativiert: «Ich hatte wiederholt mit Depressionen zu tun.» In Dübendorf und in Rafz habe sie je ein halbes Jahr aussetzen müssen deswegen. «Ich habe dann gelernt, damit umzugehen. Wenn ich merke, es geht bergab, werde ich aktiv. Ich lenke mich mit irgendetwas ab, was stärker ist als mein Herzweh.»




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