Читать книгу Der Bruch - Doug Johnstone - Страница 12
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ОглавлениеEr war bereits wach, als der Wecker losging. Ein paar Sekunden lang starrte er sein Telefon an, dann schaltete er den Ton aus. Bean lag ausgestreckt neben ihm und warf ihren Arm über seine Brust. Er nahm ihn weg.
Nachdem sie oben auf dem Dach gewesen war, hatte er sie wieder ins Bett gebracht, wo sie sofort einschlief, doch als sie dann um halb vier wieder aufwachte, war sie zu ihm gekommen und hatte ihm von einem weiteren schlechten Traum erzählt. Ein dunkles, schemenhaftes Monster hatte Tyler vor ihren Augen in Stücke zerrissen. Immer dasselbe, böse Mächte trennten sie beide voneinander. Man musste kein Genie sein, um herauszufinden, woher das kam. Tyler hatte seine Bettdecke angehoben, und sie war zu ihm gekrochen, mitsamt Panda, und nach wenigen Minuten schlief sie wieder ein, während er ihren Kopf streichelte. Es war ihm viel zu warm mit ihr so dicht neben sich, also schob er die Decke fort, war innerlich völlig außer sich und grübelte über alles nach. So blieb es, während der Himmel draußen heller wurde, und nun war’s Zeit zum Aufstehen.
»Aufwachen«, sagte er und rieb Beans Nase. »Du musst dich für die Schule fertig machen.«
Sie schlug die Augen auf und lächelte. »Du bist hier.«
»Wo sollte ich denn sonst sein?«
Er stand auf, zog eine schwarze Hose an und die Vorhänge zurück. Es war ein wolkenloser Morgen, die Sonne am Osthimmel bereits auf halber Höhe. Er war froh, dass sich sein Zimmer auf der Rückseite der Wohnung befand, bedeutete das doch, dass er von hier aus das Krankenhaus nicht sehen konnte.
Er hatte auf seinem Telefon die Nummer der Notaufnahme herausgesucht, als er vorhin noch im Bett lag, und sein Daumen schwebte über dem Anrufen-Button. Aber wie sollte das laufen? Er kannte ihren Namen nicht. Und wenn er sie beschrieb, belastete er sich selbst.
Bean stand auf, rieb sich ein Auge, schleifte Panda an einem Ohr mit.
Tyler lächelte. »Deine Schuluniform wartet auf dich in deinem Zimmer.«
»Kannst du mir mit der Strumpfhose helfen?«
Er stöhnte übertrieben. »Na schön, aber du bist eine große Siebenjährige, und du solltest das auch allein können.«
Er hasste es, ihr bei der Strumpfhose zu helfen. Er konnte machen, was er wollte, nie war es bequem, nie war’s so ganz richtig, und sie veranstaltete immer ein albernes Tänzchen, wenn sie sie hochzog und dann wieder aus der Poritze zupfen musste.
Er zog den Rest seiner Klamotten an, dann half er ihr, und schließlich gingen sie zusammen ins Wohnzimmer und zur Kochnische. Angela war nicht da, also hatte sie es irgendwie ins Bett geschafft. Tyler war froh. Sie so zu sehen, war nicht gut für Bean, egal wie viel Bockmist er ihr darüber erzählte, dass Mum sich nicht gut fühlte. Sie war ein kluges Mädchen und wusste genau, was los war. Wenn man hier aufwuchs, wurde man entweder schnell erwachsen oder abgehängt. Drogensüchtige und gewalttätige Eltern gab es in diesem Viertel überall, drei Generationen kaputter und ausrangierter Loser von vorne bis hinten. Über die Hälfte der Kids in Beans Klasse hatten nur einen Elternteil, und die Hälfte von denen wiederum galt als gefährdet.
Tyler dachte an die Frau auf dem Boden, an ihr Kind. Das Zimmer ihres Sohnes war voller Teenager-Kram. Wie viel einfacher war das Leben für sie, weil sie Geld hatten. Er versuchte, sich vorzustellen, wie sich diese Frau vor den Augen ihres Sohnes einen Schuss setzte, so wie es Angela jahrelang vor seinen Augen getan hatte. Er hatte so oft versucht, ihr zu helfen. Aber ab einem bestimmten Punkt mussten die Leute selbst Verantwortung für sich übernehmen, oder? Er konnte keine Zeit mehr für seine Mutter verplempern, er musste dafür sorgen, dass Bean behütet war, dass sie unversehrt in die Schule und zurückkam. Und dass sie so weit wie möglich von den beiden nebenan ferngehalten wurde.
Er holte eine Packung Aldi-Shreddies aus dem Schrank, roch an der Milch aus dem Kühlschrank. Fand eine saubere Schale und wusch an der Spüle einen Löffel ab, stellte dann alles auf die Frühstücksbar. Bean hatte den Fernseher angemacht und er ließ sie Zeichentrickfilme sehen, während sie geräuschvoll mampfte und schlürfte. Sich selbst machte er Toast, klaubte ein paar Schimmelstellen von der Kruste und schnipste sie in den Mülleimer. Er packte seine und Beans Schultasche. Sie bekam Gratis-Mittagessen, das war also schon mal was. Er erinnerte sich wieder an das Geld in seiner Hose und berührte den Rand der Scheine. Das war der sicherste Platz dafür. Wenn Barry herausfand, dass er sich was einsteckte, setzte es wieder Prügel.
Im Fernsehen lief jetzt eine Sendung, in der ein Zeichentrickjunge im Haus einer echten Familie wohnte. Aus irgendeinem Grund waren es Nordiren. Er brachte sie immer irgendwie in Schwierigkeiten, aber am Ende der zehnminütigen Sendung war alles wieder gut, die glückliche und liebevolle Familie, Mum, Dad und Schwester, umarmte ihn heftig. Tyler war froh, dass es in Beans Leben so was gab, denn da hatte sie wenigstens ein echtes Ziel für ihr Erwachsenenleben statt all der Scheiße um sie herum.
»Können wir noch zu Snook und den Babys?«, fragte Bean mit Milch auf dem Kinn.
Tyler verzog das Gesicht und sah auf die Uhr. »Wenn du dir ganz schnell die Zähne putzt.«
Sie sprang vom Hocker und flitzte ins Bad.
Er legte ihre Schale, den Löffel und sein Messer ins Abwaschbecken, spülte alles ab und stellte es aufs Abtropfbrett. Er holte etwas zu essen für Snook aus dem Schrank und verstaute es in seiner Schultasche.
Er drehte sich um und starrte das Kopfkissen und den Bettbezug mit der Beute an, die immer noch auf einem Haufen in der Ecke des Zimmers lagen. Bean hatte nicht danach gefragt. Ihm fiel die Polaroidkamera von dem ersten Bruch des Vorabends ein und er nahm sie heraus.
»Fertig«, rief Bean von der Tür her. Ihre Uniform war schmuddelig, die Strumpfhose ziemlich dünn an den Knien, und er wusste, dass sich zwischen den Beinen ein kleines Loch befand, das man jedoch nur dann sehen konnte, wenn sie ein Rad schlug. Der Pullover mit dem Schulwappen drauf war beim Schulflohmarkt geklaut, ein gebrauchtes Kleidungsstück.
»Komm her«, sagte Tyler. »Dreh dich um.«
Er nahm ihr Haargummi heraus, zog es mehrere Male über seine Finger und band die Haare ordentlicher zusammen.
»Sieh mal hier«, sagte er und zeigte ihr die Polaroid.
»Was ist das?« Sie drehte den Fotoapparat in ihren Händen, ließ die Finger über Schalter und Knöpfe gleiten.
»Eine Kamera.«
»Wie an deinem Telefon?«
»Nicht ganz. Pass auf.« Er öffnete eine Filmpackung, lud die Kamera und richtete diese auf sie.
»Und einmal lächeln, bitte.«
Sie machte einen Schmollmund und mit den Fingern ein Peace-Zeichen. Die Kamera blitzte und surrte, dann spuckte sie das Bild aus. Sie nahm es ihm ab.
»Da ist ja nichts drauf«, sagte sie und starrte auf das weiße Quadrat.
»Warte.«
Langsam erschien ihr Gesicht, und sie hob die Augenbrauen.
»Wow«, sagte sie. »Kann ich die mit in die Schule nehmen?«
»Klar, aber verplemper den Film nicht. Ist nicht so wie digital. Wenn der Film alle ist, dann war’s das. Mach was draus, jede Aufnahme ist einzigartig.«
»Komm, wir machen ein Selfie«, sagte sie.
Er verdrehte die Augen, beugte sich aber dennoch dicht zu ihr, hielt die Kamera in der ausgestreckten Hand und drückte auf den Auslöser. Blitz und Surren. Er hielt das Foto, bis das Bild auftauchte, zwei lächelnde Gesichter, ein für immer eingefangener Moment. Er gab ihr die Aufnahme, doch sie schüttelte den Kopf.
»Behalt du das«, sagte sie. »Damit du mich nicht vergisst, während ich in der Schule bin.«
Er starrte das Bild an, während sie die Kamera in ihrer Tasche verstaute.
»Komm, gehen wir«, sagte sie. »Ich will die Kleinen sehen.«
Tyler schob das Foto in seine Tasche und schaltete den Fernseher aus, dann schnappte er sich beide Schultaschen und begleitete sie aus der Tür, während er die ganze Zeit daran dachte, wie sich die Hand der Frau hob und dann wieder auf den lackierten Parkettboden fiel.
Sie umrundeten das Baugelände und gelangten zu einem einzelnen, verfallenen Haus. Bean hielt Tylers Hand und sang die Titelmelodie der letzten Fernsehsendung. Als alle anderen Häuser abgerissen worden waren, hatte man aus irgendeinem Grund dieses eine stehen lassen, aber schließlich zogen auch dessen Bewohner aus, und jetzt war es praktisch nur noch eine Betonfassade mit einem zerfallenden Dach, umgeben von Brachland.
Sie gingen auf die Rückseite zu einem der zugenagelten Fenster, wo die Bretter locker waren. Aus Gewohnheit sah Tyler sich um. Nur die Neubauten von Sandilands Close am Horizont, das Krankenhaus, weiter südlich Bürogebäude. Jemand ging mit seinem Hund auf halber Höhe des Craigmillar Hill spazieren. Er war immer in Sorge, dass sich Junkies in diesem Haus einnisteten. Er zog das Brett vom Fensterrahmen, warf einen Blick ins Innere und hörte leises Winseln. Er hob Bean durch den Spalt, achtete darauf, dass sie nicht mit der Uniform an einem der Glassplitter des Fensterrahmens hängen blieb. Er kletterte nach ihr hinein und wartete einen Moment, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.
»Snook.« Bean lief zu dem Mischling auf der Matratze. Sie war halb Collie, halb irgendwas anderes, hatte ein schwarz-weißes Fell, ein eingerissenes Ohr, das rechte Auge blutig unterlaufen. Ihr Schwanz klopfte auf den Rand der Matratze, als Bean ihre Ohren wuschelte und dafür im Gesicht abgeleckt wurde. Um Snooks Zitzen herum schnüffelten drei schlaftrunkene Welpen.
Sie hatten sie vor einer Woche auf dem Heimweg nach der Schule gefunden, als sie gerade die Kleinen zur Welt brachte. Sie lag keuchend und leise jaulend unter einem Strauch am Straßenrand. Bean hatte gefragt, was da gerade passierte, und Tyler hatte versucht, es ihr zu erklären. Er hatte gesagt, sie solle das Tier beruhigen, und Bean hatte sich voll in diese Aufgabe gestürzt, hatte einen endlosen Strom von rührseligem Kauderwelsch geflüstert, der Hündin Ohren und Nase gestreichelt, sie verhätschelt, als gehörten sie alle zu einem Rudel. Als der erste Welpe herauszukommen begann, sah Bean mit riesengroßen Augen zu. Ihre Hand blieb auf der Schnauze des Hundes liegen. Snook winselte und begann, Beans Hand zu lecken, und sofort setzte sie das Streicheln fort, redete ihr weiter ins Ohr, behielt diesmal jedoch den Blick fest aufs Hinterteil gerichtet, hob die Augenbrauen, als der erste Welpe herausglitt und ein zweiter folgte. Tyler legte den ersten dicht neben die Schnauze seiner Mum, und Snook bewegte ihren Kopf fort von Bean und fing an, den Welpen abzulecken.
Zehn Minuten später waren es alles in allem drei pelzige kleine Dinger, die saugende Geräusche von sich gaben und sich wanden. Es fing an zu regnen. Tyler zog die Jacke aus und packte die Welpen hinein, band die Ärmel zusammen und gab sie Bean.
»Sei vorsichtig.«
Er hatte Snook auf den Arm genommen, und dann joggten sie den Hang hinunter. Tyler wollte sie eigentlich mit in die Wohnung nehmen, musste dann aber an Barry denken. Der Himmel allein wusste, was er mit drei neugeborenen Welpen und einer erschöpften Mutter machen würde. Schon schlimm genug, wie er seine eigenen Hunde behandelte.
Also blieb Tyler vor dem Haus stehen, in dem sie sich jetzt befanden, fand auf der Rückseite einen Weg hinein und quartierte Snook und die Welpen dort ein. Bei nachfolgenden Besuchen hatten sie alles Nötige für die Hunde mitgebracht: eine alte Matratze von der Straße als Schlafplatz, Eiscremebehälter aus Plastik als Schalen für Futter und Wasser. Tyler gefiel, wie einfach es war. Essen, Unterschlupf und eine Mum, die sich um einen kümmerte, mehr brauchte man nicht, um am Leben zu bleiben.
Er betrachtete Bean, die jetzt mit den Welpen spielte. Er hatte hier keinen langfristigen Plan, keine Ahnung, was er tun sollte, wenn sie älter wurden. Für immer konnten sie hier nicht bleiben, aber vorläufig reichte es aus. Es war ein gutes Gefühl, so als hätte man alles voll im Griff und unter Kontrolle.
Er leerte Hundefutter in die Schale und füllte auch Wasser aus dem Hahn im Bad nach. Aus irgendeinem Grund war das Wasser nie abgestellt worden. Bei seiner Rückkehr stocherte Snook im Futter herum, und die Welpen winselten, als sie sie aus dem Weg schubste.
Tyler sah auf seine Uhr.
»Wir müssen los.«
»Oooch …«
»Wir können ja nach der Schule noch mal kurz reinschauen.«
»Wann können wir mit ihnen spazieren gehen?«
»Hab ich dir doch gesagt: Die Welpen sind noch zu klein. Und ihre Mummy können wir ihnen auch nicht wegnehmen.«
Bean dachte darüber nach. Dieses Mutter-und-Babys-Ding weckte alle möglichen Gedanken in ihrem Kopf, und das gefiel Tyler gar nicht. Er wollte sie einfach nur rechtzeitig in die Schule bekommen, dann wieder nach Hause, dann morgen früh dasselbe und am nächsten Tag wieder.
»Verabschiede dich«, sagte er.
Bean fasste Snooks Hals an, dann hob sie nacheinander jeden Welpen hoch und knuddelte ihn. Tyler verdrehte die Augen. Bean nahm die Polaroid aus der Tasche, richtete sie auf die Hunde. Es blitzte. Sie strahlte zuerst Tyler an, dann die Aufnahme, verstaute schließlich alles in ihrer Tasche.
»Wir sehen uns nach der Schule«, sagte Bean zu den Hunden. »Passt gut auf euch auf!«
Die Craigmillar Primary war ein Backsteinneubau, gesichert durch Überwachungskameras und einen mit Spitzen versehenen Zaun. Die Grundschule war im Zuge des PPP-Skandals vor einem Jahr geschlossen worden, nachdem eine Mauer in einer ähnlichen Schule am anderen Ende der Stadt eingestürzt war, allerdings hatte man hier keine Mängel finden können, weswegen die Schule wieder geöffnet wurde. Sie war erheblich besser als das verfallende Dreckloch, das Tyler ein paar Jahre zuvor besucht hatte, und hundertmal netter als die benachbarte Bruchbude der Castlemound High, auf die er jetzt ging.
Bean ließ seine Hand los, als sie durchs Tor kamen, und rannte zu Isla und Aisha, die sich gegenseitig ihre JoJo-Siwa-Haarschleifen zeigten. Bean war schon seit Ewigkeiten scharf auf eine, aber die Dinger kosteten neun Tacken das Stück. Vielleicht sollte er ihr eine von dem Geld besorgen, das er am Abend zuvor abgezweigt hatte, aber er wusste nie, wie viel Zeit zwischen Zahltagen lag, also hatte er immer ein ungutes Gefühl, wenn er Geld für Luxussachen ausgab statt für Essen und Strom. Und jetzt musste er obendrein auch noch Hundefutter kaufen.
Für ihre Freundinnen hieß Bean Bethany, nur zu Hause wurde sie Bean genannt. Tyler konnte sich nicht erinnern, wie das angefangen hatte, hoffte aber, dass es nicht Barrys Idee gewesen war, von dem nie was Gutes kam. Vielleicht weil sie so klein war, ganze fünfzehn Zentimeter kleiner als Isla und Aisha.
Die Glocke ertönte und Bean und ihre Freundinnen schlenderten zu der Schlange wartender Schulkinder hinüber. Tyler blieb zurück bei den Mums. Manche von denen waren nicht viel älter als er selbst, was bedeutete, sie hatten ihre Kinder bekommen, als sie selbst noch zur Schule gingen. Tyler wartete, ob Bean noch einmal herübersah, als Miss Kelvin sie hereinrief, aber sie quatschte mit Aisha und war völlig in ihrer eigenen Welt versunken.
Er ging, vermied jeden Blickkontakt mit Miss Kelvin und den Mums, dann trat er durchs Tor und bog nach links, in die entgegengesetzte Richtung zur Highschool. Er ging den Niddrie Farm Grove hinunter, vorbei an den rot-weißen Reihenhäusern und der Arztpraxis, und kam an der Bushaltestelle heraus. Er wartete einige Minuten, dann sprang er in einen 30er Bus, in dem er seinen gefälschten Ausweis an das Fahrkartendings drückte. Er hatte ihn vor ein paar Monaten bei einem Bruch mitgehen lassen und sein eigenes Foto über das des eigentlichen Besitzers geklebt. Martin Lawrence. Das Ding war nicht für ungültig erklärt worden, daher funktionierte es immer noch. Das Computersystem von Lothian Buses hatte ganz offensichtlich Lücken. Die Leute denken immer, Sicherheitssysteme seien dazu da, sie zu schützen, aber in neun von zehn Fällen funktionieren sie ganz einfach nicht. Es sind besondere Berechtigungen erforderlich, um sie miteinander zu vernetzen, damit sie kommunizieren, und wer hat schon Zeit für so was? Über jedem schwebt das Fallbeil, jeder Job ist gefährdet, Etats werden gekürzt, alle müssen länger für weniger Geld arbeiten. Ein Teenager, der mit der Dauerkarte von irgendwem für lau Bus fährt, ist den Leuten doch so was von scheißegal. Sie interessieren sich nicht für eine Xbox, die durch eine Versicherung abgedeckt ist, auch nicht für ein Auto, das bei einem Hehler landet. Sie bekommen Ersatz, schicker und schöner als das gestohlene Teil, mit mehr Ausstattung, besserem Navi, Bluetooth fürs iPhone, beheiztem Fahrersitz.
Er stöpselte seine Ohrhörer ein und spielte Boards of Canada. Alle anderen in seinem Jahrgang hörten Hip-Hop oder Metal. Er hatte zu Hause schon mehr als genug zornigen Scheiß. Er liebte Boards of Canada, bei denen sich die Zukunft wie eine Projektion aus der Vergangenheit anhörte. Er hatte gegoogelt und herausgefunden, dass es zwei Brüder aus East Lothian waren, die nie Interviews gaben und auch nicht live auftraten, was ihm gefiel.
Er starrte aus dem Fenster im Oberdeck, während wabernde Synthies und besoffene Drums miteinander kämpften. Er hatte dasselbe Gefühl wie letzte Nacht, der schnelle Wechsel vom grauen Kieselrauputz der Häuser in Niddrie und Craigmillar zu den größeren Häusern in Prestonfield und Newington.
Er nahm das Telefon der Frau aus der Tasche und starrte es einen langen Moment an, dann schaltete er es ein. Auf dem Bildschirm der Hinweis auf sechs verpasste Anrufe, einer vom Notrufdienst am Abend zuvor, die anderen von »Derek«. Ein Ehemann oder Freund, der sich fragte, wo sie steckte. Oder ein Sohn. Er schaltete das Gerät wieder aus und steckte es ein. Falls man bereits versuchte, das Telefon zu lokalisieren, würden sie jetzt einen Ping des Mastes in Prestonfield erhalten.
An der Dalkeith Road verließ er den Bus und schlenderte an den wuchtigen Häusern der Blacket Avenue vorbei. Er wechselte zur Grange Loan, dann weiter rauf zum Dalrymple Crescent, dem Ort des ersten Bruchs vom Vorabend. Er atmete tief ein und aus, ging aber ganz normal weiter. Nur ein Teenager, der eine Straße hinunterging und Musik hörte, mehr nicht. Im Vorübergehen warf er einen Blick auf Hausnummer dreizehn. Kein Lebenszeichen, keinerlei Hinweis darauf, dass sie dort eingestiegen waren. Er dachte an die Polaroidkamera, die sich jetzt in Beans Schultasche befand. Er ging weiter, schluckte schwer, blinzelte. Wenn er die Augen schloss, spürte er den Schlafmangel, während gleichzeitig sein Adrenalinspiegel stieg, weil er wieder hier war.
Er trottete am Dick Place entlang und an der Blackford Road, noch mehr luxuriöse Häuser mit Preisschildern jenseits der Million, der Bürgersteig überschattet von Baumkronen, die über hohe Mauern und dichte Hecken hinausragten. Er stellte sich die Menschen darin vor, wie sie in ihren Gartenhäusern saßen, sich in einem begehbaren Kleiderschrank etwas zum Anziehen heraussuchten, auf einem Home-Entertainment-System ein Autorennspiel zockten.
Sein Herz blieb ihm im Hals stecken, als er die Whitehouse Loan hinaufging und die St. Margaret’s Road erreichte. Ohne Zögern bog er in die Straße ein. Man wusste nie, ob man von einer Überwachungskamera erfasst wurde, und jedes Herumlungern war verdächtig. Solange man aussah, als hätte man ein Ziel, konnte man praktisch alles tun. Er sah im Vorbeigehen verstohlen zu den Häusern hinüber, und erst jetzt fiel ihm auf, dass die Hausnummern auf der einen Straßenseite anstiegen – eins, zwei, drei – und auf der anderen dann wieder kleiner wurden. Es war eine winzige Straße mit gerade mal acht Häusern. Er ging noch mal in Gedanken durch, warum sie sich für keines der anderen entschieden hatten. Das eine besaß eine anscheinend erst kürzlich installierte Alarmanlage, ein anderes hatte zu wenig abschirmende Bäume und Autos in der Einfahrt, direkt vor dem dritten war eine Straßenlaterne.
Dann war er auch schon auf Höhe von Nummer vier. Er ging minimal langsamer, nicht genug, um dadurch aufzufallen, aber doch ausreichend, um sich zu konzentrieren und mit großen Augen alles aufzunehmen. Er sah die beiden steinernen Torpfosten der Zufahrt, die Kletterpflanze an der Seitenwand, die ordentliche Garage direkt neben dem Haus, die weiße geschlossene Haustür. Er stellte sich vor, zu dieser Tür zu gehen und zu klingeln, sich irgendeinen Scheiß auszudenken von wegen Marktforschung oder Fenster verkaufen. Er stellte sich die Frau vor, die ihm die Tür aufmachte, ein Geschirrtuch in den Händen oder ein Glas Saft, wie sie ihn anlächelte und dankend ablehnte, dennoch ein freundlicher Blick in ihren Augen. Sie erkannte ihn nicht wieder, einfach, weil in der letzten Nacht überhaupt nichts passiert war. Sie war vom Sport zurückgekommen, hatte geduscht, sich ein Sandwich gemacht, vielleicht ein Glas Rotwein getrunken, war dann mit einem Buch ins Bett gegangen, wartete darauf, dass ihr Mann nach dem gemeinsamen Kneipenausflug des Büros, vor dem ihm gegraust hatte, nach Hause zurückkehrte.
Dann erinnerte er sich wieder an die Schrotflinte unter dem Bett, an den Stapel Smartphones, die Geldklammer. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie blutüberströmt dalag.
Er war zu diesem Zeitpunkt bereits um die Ecke, fast am Ende des Greenhill Place. Er beugte sich vor und kotzte hinter einen elektrischen Verteilerkasten an der Ecke, wischte sich den Mund ab und ging weiter.
Wie benebelt setzte er seinen Weg fort, als hätte er keine Macht über seine Bewegungen. Er fand sich auf dem Strathearn Place wieder, dann Greenhill Gardens, Church Hill und schließlich Clinton Road, wobei die Häuser immer größer wurden. Er ging weiter, achtete dabei auf die Sicherheitsvorkehrungen der Gebäude. Es war heller Tag, und doch fühlte er sich unsichtbar, fast wie ein Geist, der durch die Leben reicher Leute wandert. Der Lieferjunge, der Uber-Fahrer, der Gebäudereiniger, der Handwerker, der Gärtner. Kein Teil dieser Welt, also wurde man ignoriert, bis sie einen brauchten.
Es gab Häuser mit Türmchen und Türmen, zinnenartige Silhouetten, die an Burgen erinnerten. Es drängte ihn heftig, nicht mehr länger nur Beobachter zu sein, sondern etwas zu tun. Er erkannte dieses Gefühl, es überkam ihn nach jedem der nächtlichen Brüche. Seine Antennen kribbelten. Da war ein Haus, damit konnte er etwas anfangen. Keine Alarmanlage, alte Fenster und Türen, jede Menge Deckung. Er ging die Einfahrt hinauf, das Knirschen seiner Schritte wie Gewehrschüsse. Er erreichte die Haustür, überladene Musselin-Glasscheiben in massiver Eiche. Er klingelte mit zugeschnürter Kehle. Er schluckte schwer, bekam einen zugeschnürten Hals. Wartete. Klingelte wieder. Legte den Kopf schief und lauschte. Ein leises Blätterrascheln in den Birken. Er trat zwei Schritte zurück und schaute nach oben. Viktorianisch, mindestens fünf Schlafzimmer, das Mauerwerk unlängst gereinigt und neu verfugt. Mehrere Mansardenzimmer mit kleinen Fenstern etwas zurückgesetzt im Obergeschoss. Er drehte sich um und betrachtete den Garten. Tyler befand sich bereits gut fünfzehn Meter von der Straße entfernt, eine hohe Steinmauer und mehrere Ahornbäume versperrten den Einblick von der Straße aus.
Er ging um die Seite des Hauses und versuchte die hintere Tür der angrenzenden Garage. Offen. Er ging durch die Garage, vorbei an Regalen mit Farbe und Dünger, und versuchte sein Glück an der Verbindungstür zum Haus. Abgeschlossen. Er ging wieder hinaus. Über der Garage befand sich ein Flurfenster, klein, aber doch groß genug, um durchzukommen. Er kehrte in die Garage zurück, holte eine Leiter heraus und lehnte sie gegen die Wand. Tyler kletterte hinauf, stieg aufs Garagendach, versuchte das Fenster. Unverriegelt. Er drückte es auf, atmete tief ein und sprang, packte den Sims und zog sich mit Schwung auf die Ellbogen hinauf. Er tastete mit den Turnschuhen über den Stein, zog sich hoch und rüber, stützte sich mit den Händen auf der inneren Fensterbank ab, schob sich zappelnd durch den offenen Spalt und fiel wie ein neugeborenes Fohlen innen auf den Boden.
Er kauerte eine ganze Minute dort, lauschte auf seinen Atem und sonst nichts.
Er war drin.