Читать книгу Eingeäschert - Doug Johnstone - Страница 17
11 DOROTHY
ОглавлениеCraigentinny sah völlig anders aus als alles, was man sich unter Edinburgh vorstellen konnte. Es waren nicht das Schloss und die Turmspitzen des Touristenzentrums oder das Durcheinander der Mietshäuser in der Old Town. Es waren nicht die georgianischen Stadthäuser der New Town oder die zusammengestückelten Siedlungen aus Trainspotting. Das hier waren breite, nichtssagende Straßen voller 1930er Bungalows, kleiner Gärten und angebauter Garagen, vereinzelt mal ein Wohnwagen in einer Einfahrt. Das hier war ein Vorort nahe am Meer, eingerahmt von einem kommunalen Golfplatz und einer Wertstoffsammelstelle. Dorothy sah auf die Rückseite von Arthur’s Seat, auf die sanften, mit Ginster bewachsenen Hänge, die im Kontrast zu den Steilhängen der Vorderseite standen, und es war, als sehe man Edinburghs großer alter Dame unter die Röcke.
Sie überprüfte die Adresse, die Thomas ihr gegeben hatte, 72 Craigentinny Avenue. Grauer Backstein, Mansardenfenster zur Straße, ein weißer Ford Ka vor der Tür. Das perfekte kleine Heim von irgendwem. Dorothy konnte sich nie an den Platzmangel in schottischen Häusern gewöhnen. Die Menschen hier schienen glücklich zu sein mit einem winzigen Stückchen Land, wo sie eng aufeinanderhockten. Zu Hause in Pismo Beach waren sie nicht wirklich reich gewesen, aber sie wuchs in einem Haus so groß wie das der Skelfs auf, ausladend, eingeschossig mit neuen Anbauten in allen Richtungen. Schottische Häuser wirkten vergleichsweise düster, verklemmt. Vielleicht genau wie die darin lebenden Menschen.
Sie verschränkte einen Moment die Finger über ihrem Herz, atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus, versuchte, ihre Mitte zu finden. Sie ermahnte sich, dass diese Frau sie nicht erwartete, es würde ein Schock sein. Und was die Frau zu sagen hatte, könnte Dorothy ebenfalls schockieren.
Sie öffnete das schwarze Törchen, ging den Weg hinauf und klingelte an der Haustür.
Wartete.
Sah eine Bewegung durch das strukturierte Glas der Tür, die schließlich geöffnet wurde von einem vielleicht zehnjährigen Mädchen in Schuluniform, weißes Polohemd mit kastanienbrauner Strickjacke. Auf dem goldenen Wappen der Strickjacke stand oben »Craigentinny« und »I Byde it« darunter. Dazwischen ein Jagdhorn, etwas, das wie zwei gekreuzte Zuckerstangen aussah, und die Palette eines Malers. Dorothy kannte genug Schottisch, um zu wissen, dass »byde« so viel wie »leben« bedeutete, aber das ergab keinen Sinn. »Ich lebe es« – was für ein Schulmotto war das denn?
Sie lächelte. »Hi, wie heißt du?«
»Natalie.«
»Ist deine Mum oder dein Dad zu Hause?«
Sie nickte und drehte sich um. »Mum!« Das brüllte sie die Treppe hinauf. »Sie kommt gerade.« Natalie blieb in der Tür stehen und starrte das Muster von Dorothys blauem Kleid an.
Dorothy hörte Schritte, dann wurde die Tür weiter geöffnet.
Rebecca Lawrence war etwa in Jennys Alter, jung genug, um Jims Tochter sein zu können. Dorothy sah Natalie hinterher, die im Wohnzimmer verschwand, und versuchte, keine düsteren Gedanken zuzulassen. Rebecca hatte Kurven, die keine Skelf-Frau je haben würde. Breite Hüften, volle Brüste, ein rundes Gesicht. Wenn eine Skelf-Frau zulegte, wurde sie pummelig, aber Rebecca war eher sexy als pummelig. Ihre Haarfarbe changierte zwischen blond und brünett, und sie trug ein graues Kostüm, Kleidung fürs Büro. Schwarze Strumpfhosen, aber keine Schuhe, was seltsam intim wirkte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Ihr Akzent wies auf gebildeteres Edinburgh hin, war höflich, zugänglich.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung, mein Name ist Dorothy … Skelf.«
Rebeccas Gesicht verhärtete sich bei Erwähnung des Nachnamens. »Was wollen Sie?«
»Ich möchte über Ihren Mann sprechen, über Simon.«
»Simon ist tot.«
Es klang, als versuche sie sich immer noch davon zu überzeugen.
»Mein Mann ebenfalls, vor einer Woche.« Dorothy berührte die Wand neben der Tür, woraufhin sich Staub löste. »Darf ich reinkommen?«
Rebecca seufzte, trat einen Schritt zur Seite und führte Dorothy in die Küche.
Schränke und Herd waren alt, schon sehr lange nicht ersetzt worden. Mehrere Risse in den Bodenfliesen neben dem Kühlschrank. Zeichnungen von Natalie waren mit Magneten an der Kühlschranktür befestigt, daneben Zettel über Schulsport und Cheerleading.
Rebecca lehnte sich mit verschränkten Armen an die Arbeitsfläche. »Und?«
»Es ist ein bisschen unangenehm.«
»Ja, ist es.«
»Wir sind uns nicht begegnet, als Simon bei uns arbeitete.«
»Nein«, sagte Rebecca. »Er hat Arbeit und Freizeit gern auseinandergehalten. Wollte den Tod nicht mit nach Hause bringen.«
In Dorothys Zuhause war der Tod allgegenwärtig. »Das verstehe ich.«
»Was wollen Sie, Mrs Skelf?«
»Bitte, Dorothy.«
Rebecca rümpfte darüber die Nase, als Natalie hereinkam und am Ärmel ihrer Mutter zog. »Darf ich bitte was zu naschen haben?«
Rebecca sah hinunter, ihre Körpersprache war sofort offener und freundlicher. »Gleich, okay?«
Natalie schlenderte wieder hinaus. Dorothy hörte aus dem anderen Zimmer den Ton eines Zeichentrickfilms.
»Sie ist bezaubernd«, sagte Dorothy.
»Sie ist eine ziemliche Nervensäge, wie alle Kids.«
»Und Sie haben sie allein großgezogen.«
»Worum geht’s hier?«
Dorothy schaute sich um. Küchengeräte, ein halb volles Weinregal, Kochbücher von Jamie und Nigella. »Wie ich schon sagte, Jim ist letzte Woche gestorben.«
»Tut mir leid, das zu hören.«
Dorothy winkte ab. »Ich bin Papierkram durchgegangen, persönliche Sachen von Jim, die Geschäftskonten und so weiter.«
»Hm-hm.«
Die Luft hatte sich plötzlich abgekühlt, Dorothy spürte das Kribbeln einer Gänsehaut.
»Ich habe entdeckt, dass von unserem Geschäftskonto Zahlungen auf Ihr Girokonto erfolgt sind. Jeden Monat fünfhundert Pfund. Seit Jahren.«
»Das ist richtig.«
»Ich weiß nichts davon. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir den Grund zu verraten?«
Rebecca zuckte mit den Achseln. »Es ist Simons Lebensversicherung.«
Dorothy rieb ihren Ellbogen. »Wir haben keine Lebensversicherung für unsere Mitarbeiter, Rebecca.«
Die Verwendung ihres Namens schien sie in Harnisch zu bringen, als wäre es zu locker, zu persönlich.
»Das ist aber nicht, was Ihr Mann gesagt hat.«
»Wann?«
Rebecca schloss die Küchentür, und die Geräusche des Zeichentrickfilms verstummten. »Das ist schon viele Jahre her, es ist Vergangenheit.«
Dorothy berührte ihre Schläfe. »Bei allem Respekt, das ist es nicht. Das Geld wird immer noch von unserem Konto überwiesen.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, das ist meine Lebensversicherung, für Simon.«
»Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Dorothy. »Selbst wenn wir so ein Arrangement hätten, würde das Geld doch nicht direkt von uns kommen, es würde von der Versicherung angewiesen.«
»So hat Mr Skelf es mir aber nicht gesagt, als er hier war, um es zu erklären.«
Dorothy sah sich um, als könnte Jims Geist womöglich aus einem Schrank springen. »Er ist hierhergekommen?«
Rebecca nickte. »Im Anzug, mit einer Aktentasche. Ich musste verschiedene Dokumente unterschreiben.«
»Was für Dokumente?«
Rebecca verschränkte die Arme. »Kann mich nicht erinnern, irgendein rechtlicher Kram. Das ist gut zehn Jahre her.«
»Besitzen Sie eine Kopie dieser Dokumente?«
»Irgendwo, ja.«
»Kann ich sie mal sehen?«
»Nein.«
»Ich habe in unseren Papieren keinerlei Dokumentation zu dieser Sache gefunden.«
Rebecca hob die Augenbrauen. »Das ist Ihr Problem.«
Dorothy rieb ihren Nasenrücken. »Vielleicht könnten Sie mir sagen, was Ihrem Mann zugestoßen ist.«
»Vielleicht könnten Sie sich um Ihren eigenen Kram kümmern.«
»Ich möchte es nur verstehen«, sagte Dorothy. »Sie sagen, Ihr Mann sei tot, aber das ist streng genommen nicht die ganze Wahrheit, oder?«
»Haben Sie mir nachspioniert?«
»Bitte.«
Rebecca ging zum Wasserkocher, als wollte sie ihn auf den Herd stellen, berührte aber nur seine metallene Seite. »Für mich ist er tot.«
»Er ist verschwunden.«
Rebecca lehnte sich an die Arbeitsplatte, diesmal als benötige sie den Halt. »Ich weiß nicht, warum Sie das jetzt ausgraben. Eines Tages ist er zur Arbeit aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. An dem Abend habe ich bei Skelfs angerufen und mit Ihrem Mann gesprochen, der sagte, Simon sei an diesem Tag nicht zur Arbeit erschienen. Es fehlte keine Kleidung, keine Taschen, er hat nichts mitgenommen. Er hat auch nie auf unser Konto zugegriffen. War einfach weg.«
»Was hat die Polizei gesagt?«
Rebecca lachte bitter auf. »Es ist nicht verboten zu verschwinden. Tausende tun das jedes Jahr. Die Schlussfolgerung lag nahe: Er hatte genug von mir.«
»Und Ihre Tochter?«
Das entlockte ihr einen eisigen Blick. »Ich war schwanger mit ihr, als es passierte.«
»Haben Sie versucht, ihn zu finden?«
»Wie denn?«
»Durch einen Privatdetektiv.«
»Ich hatte kein Geld.«
»Wussten Sie, dass Jim nicht nur Bestattungsunternehmer, sondern auch Privatdetektiv war?«
Rebecca sah sie an, als wäre sie verrückt. »Nein.«
Dorothy versuchte, es richtig auf die Reihe zu bekommen. Etwa zu dieser Zeit hatte er mit der Detektei begonnen, daher war sie nicht ganz sicher, ob das schon lief, als Simon verschwand. Scheiße, vielleicht war Simons Verschwinden ja der Grund, warum Jim damit angefangen hatte. Ergab das einen Sinn? Jim hatte ihr immer gesagt, die Sache mit der Detektei hätte sich ergeben, weil ein Hinterbliebener, ein Kunde des Bestattungsunternehmens, einen lange verschollenen Cousin finden wollte. Aber Dorothy begann, alles infrage zu stellen. Jim hatte definitiv gelogen, was Simon betraf, denn zu Dorothy hatte er gesagt, Simon habe einfach gekündigt, während er Rebecca sagte, er sei nicht mehr zur Arbeit erschienen. Warum sollte er lügen? Warum sollte er nicht anbieten, Simon zu suchen? Warum gab er Rebecca Geld?
»Erzählen Sie mir von dieser Lebensversicherung«, sagte Dorothy.
»Jim ist hergekommen, als Simon für vermisst erklärt wurde. Er sagte, Simon habe bei der Firma eine Versicherung abgeschlossen, dass die Skelfs mir Geld schuldeten.«
Dorothy schüttelte den Kopf. »Sie wissen selbst, wie dünn sich das anhört.«
Rebecca drückte sich von der Arbeitsplatte ab, hatte die Arme gesenkt. »Sie sollten jetzt gehen.«
»Ich vermute, Sie wollten nicht zu viel über Geld nachdenken, das einfach so kam.«
Rebecca öffnete die Küchentür. »Gehen Sie.«
»Was macht mein Knabberzeug?«, fragte Natalie aus dem anderen Raum.
»Gleich«, rief Rebecca zurück.
»Es sei denn, da ist noch etwas, das Sie mir verheimlichen.«
Rebecca schüttelte den Kopf. »Wie können Sie es wagen, hierherzukommen und mich eine Lügnerin zu nennen? Wenn Sie nicht sofort gehen, rufe ich die Polizei.«
Was hatte Dorothy denn in der Hand – außer verworrenen, zehn Jahre alten Erinnerungen und einer Aufstellung von Zahlungen? Sie ging an Rebecca vorbei, spürte die von ihr ausgehende Wut. Sie stellte sich vor, wie schlechtes Juju durch ihre eigene Haut hindurch in ihre Seele sickerte.
In der Tür zum Wohnzimmer blieb sie stehen, sah, wie Natalie irgendetwas mit sprechenden Tieren und Geistern anschaute.
»Nett, dich kennenzulernen, Natalie«, sagte sie.
Natalie drehte sich zu ihr um. »Bye.«
Dorothy spürte Rebeccas Berührung auf ihrer Schulter und ging zur Haustür weiter. Rebecca führte sie hinaus, eine feste Hand auf ihrem Rücken.
»Kommen Sie nicht wieder«, sagte sie, als die Tür sich schloss.