Читать книгу Eingeäschert - Doug Johnstone - Страница 9
3 HANNAH
ОглавлениеHannah nahm Indys Hand, als sie durch den Garten vor dem Haus gingen. Sie schaute zu dem Fenster im ersten Stock zurück, von dem sie wusste, dass dort Gran stand. Sie lächelte und winkte und drehte sich wieder um. Es fühlte sich komisch an, sie allein zu lassen, aber Mum flitzte nur kurz rüber zu ihrer Wohnung in Portobello, um ein paar Sachen abzuholen, und kam anschließend sofort zurück. Es war gut, dass die zwei Zeit zusammen verbrachten, sie brauchten sich jetzt. Jeder braucht irgendwen. Sie beugte sich hinüber und gab Indy einen Kuss auf die Wange.
»Wofür ist der denn?«
»Darf ich vielleicht nicht einfach mal so das hübsche Gesicht meiner Freundin küssen?«
Indy schob sich zwei Finger in den Hals und tat, als müsse sie sich übergeben.
»Ach, verpiss dich«, meinte Hannah lachend.
Sie gingen an den Torpfosten am Ende der Einfahrt vorbei, und Hannah lächelte über die in den Mörtel eingeritzte Adresse: 0 Greenhill Gardens. Nummer null, nur eines der Dinge, die diesen Ort zu etwas Besonderem machten. Sie fragte Dorothy und Jenny danach, als sie noch jünger war, aber Gran schüttelte nur den Kopf, als wär’s ein kosmischer Witz, und Jenny zuckte mit den Achseln, als wäre ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass es merkwürdig war. Hannah hatte ein wenig nachgeforscht, und wie sich herausstellte, war ihr Haus Ende des 19. Jahrhunderts von einem exzentrischen Brauereibesitzer später zu der Straße hinzugefügt worden. Damals konnte man sich noch selbst eine Adresse geben, doch statt sich einen neuen Straßennamen einfallen zu lassen, entschied sich Mr Bartholomew für die Nummer null an der bereits vorhandenen Straße, direkt neben der dort stehenden Nummer eins. Die Briefträger hatte es seitdem immer wieder verwirrt.
Aber etwas daran war für Hannahs Verstand ausgesprochen reizvoll. Null war mathematisch schwer zu definieren, und sich danach zu erkundigen, führte schnell auf philosophisches Terrain, das sie liebte. Sie studierte Metaphysik in einem Wahlkurs, und manchmal besuchte sie Vorlesungen über Kategorientheorie, die Mathematik der Mathematik, um sich das Hirn brutzeln zu lassen. Sie stand auf diesen abstrakten Raum, die Art, wie Matrizen, Theorien und Gleichungen miteinander verflochten waren und ein Universum entwarfen, das man über die reale Welt legen konnte.
»Worüber lächelst du?«, fragte Indy.
Sie waren um die Ecke und im Park. Das Netz der Fußwege war voller Studenten und Angestellten auf dem Heimweh nach Vorlesungen und dem Büro. Hannah liebte es, dass hier alle Seite an Seite lebten und sie sich dazugehörig fühlte.
»Ich bin einfach nur glücklich zu leben«, sagte sie.
»Oh, mein Gott.«
»Welcher?«
Ein Running Gag, da Indy ehemalige Hindu war.
In Wahrheit war Hannah wirklich glücklich zu leben, auch wenn sie vorhin erst zugesehen hatte, wie ihr Grandpa eingeäschert wurde. Vielleicht auch gerade deshalb. Dorothy hatte ihr einmal erzählt, dass manche Leute bei Beerdigungen geil wurden, wild entschlossen, im Angesicht des Todes das Leben fortzusetzen. Hannah konnte das nachempfinden.
Sie überquerten die Whitehouse Loan in den nördlichen Teil der Bruntsfield Links mit den Trainingsgrüns zum Pitchen und Putten. Das sanft hügelige Gelände erinnerte Hannah immer an das uralte Gräberfeld unter der Oberfläche. Sie fragte sich, wie vielen der Kids und ihrer Eltern, die Golfbälle durch die Gegend schlugen, bewusst war, dass unter ihnen Hunderte Opfer der Pest im 17. Jahrhundert lagen. Eine weitere Schicht der Existenz unterhalb der Realität.
Sie kürzten am oberen Ende der Links nach Marchmont ab und bogen dort auf den Melville Drive ein. Die Sonne stand so früh im Herbst immer noch hoch am Himmel, und das durch die Kastanien einfallende Licht flackerte über ihre Augen. Sie betrachtete Indys Gesicht, das von Licht und Schatten ganz fleckig war. In der vierten Klasse auf der Schule ging Hannah kurz mit einem epileptischen Jungen, der die Straße überqueren musste, wenn die Sonne durch einen Zaun flackerte. Sie wunderte sich über diesen Kontrollverlust, Reaktionen im Gehirn machen einen zu dem, der man ist. Depression, Angst, Liebe, Hass, Wut. Sie dachte über feuernde Neuronen nach, Teilchen, die ihren Zustand änderten, Quarks, die ihre Verteilung änderten.
Der Duft von Holzkohle und Burgern von Barbecues auf der anderen Straßenseite zog ihr in die Nase. Die Meadows waren voller Studenten, die die letzten warmen Tage ausnutzten, bevor das Land für den Winter herunterfuhr. Frisbees, Fußball, in der Ferne spielten ein paar Mädchen Quidditch. Harry Potter war vor ihrer Zeit, sie bevorzugte The Hunger Games, schon allein wegen der stärkeren Frauen. Aber die Hunger Games konnte man nicht wirklich im Park spielen.
Sie erreichten die Wohnung und gingen in den obersten Stock. Indy öffnete die Tür, und sie stürzten hinein. Hannah war besorgt, dass sie sich wegen Grandpa niedergeschlagen fühlen sollte, aber sie fühlte sich voller Möglichkeiten. Jim würde nicht gewollt haben, dass sie Trübsal blies, obwohl sie ihn durchaus vermisste. Und vielleicht hatte Dorothy ja auch recht, vielleicht macht der Tod einen geil.
Sie packte Indys Taille und wirbelte sie herum, küsste sie, starrte in diese braunen Augen. »Ich liebe dich, Babe.«
Indy sah sie schräg von der Seite an. »Was ist denn in dich gefahren?«
Hannah küsste sie wieder, lange und heftig, drückte sie gegen die Wand.
Indy zog sich zurück. »Nur einen Moment.« Sie rief: »Mel?«
Sie warteten auf eine Antwort.
»Sie muss noch in den King’s Buildings sein«, sagte Hannah. Obwohl sie wusste, dass die Vorlesungen für den Tag zu Ende waren, auch ging Mel normalerweise anschließend nicht in den Pub wie einige ihrer Kommilitonen. Hannah hatte an diesem Nachmittag die Vorlesungen zur Speziellen Relativitätstheorie und zur Quantenfeldtheorie geschwänzt, und Mel hatte versprochen, es sie wissen zu lassen, sollte sie etwas verpasst haben.
Hannah küsste Indy wieder, und diesmal reagierte Indy. Dann klingelte ein Telefon. Es kam aus Mels Zimmer.
»Lass es«, sagte Indy, eine Hand auf Hannahs Rücken.
Hannah runzelte die Stirn. Die Vorlesungen waren vorbei. Mel war superzuverlässig und organisiert, und sie ging niemals ohne ihr Telefon irgendwohin.
Hannah löste sich von Indy und ging zu Mels Tür, klopfte zweimal an. Wartete. Das Telefon klingelte weiter. Sie drückte die Tür auf. Alles wirkte völlig normal, das Einzelbett war gemacht, auf dem Schreibtisch Stapel von Notiz- und Lehrbüchern, Mels Fotomontage an der Wand, Bilder von ihr mit Freunden und Familie.
Das Telefon lag auf ihrem Schreibtisch, klingelte immer noch.
»Mum« leuchtete auf dem Display.
Hannah spürte Indy in der Tür hinter sich, als sie das seltsamerweise nicht gesperrte Handy aufhob und den Anruf annahm.
»Hi, Mrs C, Hannah hier.«
»Ich hab’s dir doch schon mal gesagt, du sollst mich Yu nennen. Was hast du mit meiner Tochter gemacht?« Sie sprach mit deutlichem kantonesischem Akzent und klang quirlig, aber da war auch ein scharfer Unterton.
»Keine Ahnung, Indy und ich waren den ganzen Tag unterwegs und sind gerade erst reingekommen. Ich habe ihr Telefon in ihrem Zimmer gefunden.«
»Ich werde sie umbringen«, sagte Yu in einem Ton, der bedeutete, sie würde das Gegenteil tun. »Sie sollte sich mit ihrem Vater und mir zum Mittagessen treffen. Ich habe heute Geburtstag.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke, Liebes, aber ich hätte ihn gern mit meiner Tochter verbracht.«
Melanie versäumte ihre Verabredungen nie, und niemals würde sie den Geburtstag ihrer Mutter verpassen.
»Tut mir leid«, sagte Hannah und versuchte, ihre Stimme unbeschwert zu halten. »Wenn ich Mel sehe, werde ich ihr sagen, dass sie in Schwierigkeiten steckt.«
»Du hast keine Idee, wo sie sein könnte?«
Hannah warf einen Blick aus Mels Fenster. Ihr Zimmer lag zum Argyle Place, man konnte aber trotzdem ein Stück der Meadows sehen, ein Scheibchen der Salisbury Crags in der Ferne. »Wir hatten heute Nachmittag Vorlesungen. Ich war nicht da, weil ich zur Beerdigung meines Großvaters musste.«
»Oh, Baby, das tut mir leid.«
»Schon okay. Aber ich weiß, dass Mel zu den Vorlesungen wollte. Wahrscheinlich ist sie von irgendwas an der Uni festgehalten worden.«
Das war überhaupt keine Entschuldigung. Die Vorlesungen waren nachmittags, hatten nichts mit Mittagessen zu tun, aber Hannah wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
»Okay, Liebes«, sagte Yu. Ein Zögern am anderen Ende der Leitung. »Du sorgst bitte dafür, dass sie mich anruft, sobald sie nach Hause kommt, verstanden?«
»Mach ich«, sagte Hannah. »Bye.«
Sie legte auf und drehte sich zu Indy um, hob dabei die Augenbrauen.
Indy kam ins Zimmer. »Hab’s gehört.«
Sie ging zu Hannah, die auf das Display von Mels Handy starrte, ein Foto von ihr und Xander, beide aufgedresst für ein Essen am Valentinstag. Hannah erinnerte sich noch, wie sie Mel bei der Entscheidung geholfen hatte, was sie an diesem Abend anziehen sollte.
»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte Hannah.