Читать книгу Unterricht im digitalen Klassenzimmer - Doug Lemov - Страница 6
Sich der neuen Normalität stellen, und zwar sofort
ОглавлениеDurch die neuen Herausforderungen hat sich vieles verändert (zum Beispiel wissen wir alle jetzt, was Zoom ist), aber vieles bleibt auch gleich. Die Grundpfeiler des Unterrichtens und der Beziehungen, die wir aus unserem früheren Leben kennen, gelten weitgehend noch. Manchmal müssen wir nur genauer oder woanders hinsehen, um sie zu erkennen. Wie eine Freundin ihr Leben in Quarantäne beschrieb, ist es eine neue Normalität – völlig anders, aber immerhin mit einem Echo des Gewohnten.
Seit die neue Normalität begonnen hat, haben wir viele Baustellen im »Klassenzimmer« ausgemacht – schlechte Internetverbindung; gute Verbindung, aber einige Kinder, die kein Gerät haben, das ihnen den Zugang ermöglicht; Schüler, die aus Hausfluren ihrer Wohnblöcke teilnehmen; Lehrer, die mit ihren eigenen Kindern auf dem Schoß ihre Klassen unterrichten –, aber vielmehr noch haben wir eine Problemlösungsmentalität entdeckt, eine positive Herangehensweise an Situationen, die wir nicht kontrollieren können. Man blickt seltener zurück und stellt sich voll und ganz der Zukunft.
Es ist wichtig, die Notwendigkeit dieser Haltung hervorzuheben – die absolute Dringlichkeit, besser zu werden bei dem, was wir jetzt tun, unabhängig von den Umständen.
Kürzlich postete1 die Wirtschaftswissenschaftlerin Emily Oster von der Brown University eine Untersuchung ihres Kollegen John Friedman, die zeigt, wie wesentlich die nächsten Monate und Jahre unseres Unterrichtslebens sein werden. Friedman entnahm der Online‐Mathematikplattform Zearn Daten zum Fortschritt der Schüler, übertrug sie in eine Grafik (siehe Abbildung 1, Einleitung) und schlüsselte sie nach Einkommenshöhe auf.
Einleitung, Abb. 1: Fortschritt der Schüler bei Zearn, nach Einkommenshöhe gestaffelt (Klassen, die Zearn vor dem Shutdown verwendet haben)
Die Zahlen basieren darauf, wie Schüler, die schon Erfahrung mit Online‐Lernen hatten, durch das Erreichen von Punkten auf der Zearn‐Plattform Fortschritte machten. Das ist ein unzureichender Maßstab – einerseits gehört viel Selbststudium mit vorab produziertem Material (asynchrones Lernen) dazu, im Gegensatz zum Interagieren mit einem Lehrer via Live‐Übertragung (synchrones Lernen); andererseits sind das Zahlen von Schülern, die schon ausgiebig auf diese Weise gelernt hatten, also von Schülern, für die der Umstieg auf Online‐Unterricht wahrscheinlich eine viel kleinere Veränderung war als für andere. Die erreichten Punkte sind sicher kein idealer Maßstab fürs Lernen, aber sie zeigen sehr deutlich, wie es viele Schüler messbar beeinflusst hat, nicht im Klassenraum zu sein – und durch Aufschlüsselung nach Einkommen können mögliche Ungleichheiten und Unterschiede erkannt werden. So gesehen sind diese Daten erschütternd.
»Sogar Schüler aus den besten Gegenden – mit höherem Durchschnittseinkommen – haben zehn Prozent an Punkten verloren«, schrieb Oster, »und das hat sich anscheinend in den letzten Wochen noch verschlimmert. Für Schüler aus Gegenden mit mittlerem oder niedrigem Einkommen sind die Ergebnisse ein Desaster. Ihre erreichten Punkte sind um 60 Prozent gefallen. Das heißt, Kinder aus diesen Gegenden kommen mit dem Stundenplan nicht einmal halb so schnell voran wie zu Zeiten, in denen sie in der Schule waren«.
Die Situation ist akut, aber wir sind der Ansicht, dass für das Lösen der großen Probleme unsere Bereitschaft nicht unwesentlich ist, uns auf die »kleinen« Fertigkeiten zu fokussieren – um das zu verbessern, was wir als Lehrer jeden Tag tun.
Und letztendlich gibt es ein paar Silberstreifen am Horizont. Ein paar Dinge werden online besser funktionieren; einige Schüler werden dort mehr wachsen und gedeihen; einiges, was wir lernen, wird uns zu besseren Lehrern in allen Settings machen. Es wird ein paar Lektionen geben, die wir in unsere alten Klassenzimmer mitnehmen. Das wollen wir nicht ignorieren. Nur muss unserer Ansicht nach klar sein, dass alles, was wir übers Unterrichten wissen, darauf hindeutet, dass es online unterm Strich schlechter funktioniert, und am besorgniserregendsten ist, dass das fast zu 100 Prozent auf die Schüler zutrifft, die sich ohnehin schon schwertun.
Da müssen alle mit anpacken.
Ein Kollege, der Journalist ist, schrieb uns mitten in der Quarantäne im April 2020. Was sei unserer Ansicht nach das übereinstimmende Gefühl der Lehrer? Waren sie aufgeregt? Glaubten sie, die Zukunft wäre schneller gekommen als gedacht? Oder waren sie eher zynisch? Dachten sie: »Oh nein, nicht noch eine Sache, die wir können müssen!«?
Nun, es war nichts von alledem. Eine treffende Zusammenfassung der durchschnittlichen Meinung der Lehrer war für uns: »Das ist beängstigend und ich vermisse die Welt, wie sie war – mich, mein Klassenzimmer, meine Schüler. Aber das ist die Realität. Die Kinder brauchen mich, ich muss gut darin sein, also muss ich mein Bestes geben.«
Natürlich kann man die Meinungen so vieler Leute nicht so einfach beschönigen, aber dieses Buch ist für Lehrer, die sich, wie wir, diese Art des Unterrichts nicht ausgesucht haben, die aber, wenn sie damit konfrontiert werden, entschlossen sind, einfache, reproduzierbare Methoden zu finden, um es gut zu machen und die Schüler bestmöglich zu unterstützen. Anders ausgedrückt, wir sind keine Futuristen. Wir werden keine TED Talks darüber veröffentlichen, dass die nahtlose, reibungslose, automatische Zukunft des Lernens auf uns wartet, wenn wir nur die Technologie annehmen würden.
Wie viele von Ihnen (Die meisten? Alle?) hoffen wir, bald zurück in den Klassenzimmern zu sein. Wir haben einen großen Teil unserer Berufslaufbahn damit verbracht, sie zu erforschen, weil sie unserer Ansicht nach so wichtig sind und weil wir glauben, dass nur Klassenzimmer geeignet sind, eine Umgebung für die Schüler zu schaffen, die das Beste aus ihnen herausholt. Klassenzimmer können ein »Kosmetikspiegel« sein: ein Ort, der Schüler in ein Klima einhüllt, das das Beste aus ihnen herausholt, aber sie auch positiv verändert. Die ideale Lernumgebung ist ein Klassenzimmer, in dem die Mitschüler einen Schüler ansehen, während er eine Idee mit ihnen teilt. Man sieht an ihren Augen, dass sie das zu schätzen wissen. Sie hören aufmerksam zu und bringen ihre Argumente an. Sie helfen, die Idee weiterzudenken und zu präzisieren. Schnell ist es nicht mehr die Idee eines Einzelnen, sondern der kollektive Gedanke der Gruppe. Zusammen kommen sie zu einem tieferen gemeinsamen Verständnis.
Menschen haben ein hoch entwickeltes Sensorium dafür, andere Menschen um sich herum zu beobachten und auf sie zu reagieren, da sie als Spezies überlebt haben, indem sie soziale Gruppen bildeten. Wenn wir in einem sozialen Gefüge zusammen sind, können wir auf alle Tools in unserem Gehirn zugreifen, die uns auf ein positives Klima reagieren lassen. Und obwohl ein virtuelles Klassenzimmer nicht all diese Dinge erfüllen kann wie ein echtes Klassenzimmer – man kann zum Beispiel nie dieses Gefühl einfangen, wenn 30 Leute in einem Raum gebannt den Worten eines anderen lauschen oder wenn man tatsächlich spürt, wie sie Aha‐Erlebnisse haben –, muss das Ziel sein, Fernunterricht so zu gestalten, dass er diesem möglichst nahekommt. Er muss die Kraft des Zuhörens und Gehörtwerdens vermitteln, Schüler mitnehmen und anregen, sich einzubringen, teilzunehmen und sich zu verpflichten, auch wenn ihnen gar nicht danach ist.
Unterm Strich sind wir der Ansicht, dass das Online‐Lernen für die meisten Schüler weniger produktiv ist als das Lernen im Klassenzimmer. Diejenigen, die sich mit dem Lernen am schwersten tun, betrifft das noch mehr als alle anderen. Es ist eine Art zweite, eine Bildungspandemie, die wir, wie wir glauben, am besten bekämpfen können, indem wir uns auf den Kern des Handwerks konzentrieren: die grundlegenden Schritte, die jede Interaktion mit jungen Menschen beeinflussen, die Erfahrung verbessern und alle Begrenzungen so gut wie möglich verringern können. Das Wort »grundlegend« spielt eine große Rolle. Wir suchen in Online‐Klassenzimmern, was wir in ihren Cousins aus Beton und Mörtel gesucht haben: das, was relativ klar ist und leicht nachgemacht, und das, was wiederverwendet und angepasst werden kann, um die Lernerfahrung der Schüler zu bereichern. Diese Dinge sind äußerst wertvoll und ihre Zeit wert. Wie Chip und Dan Heath uns in einem unserer Lieblingsbücher über Veränderungsmanagement, Switch, ins Gedächtnis rufen, ist die Lösung oft größer als das Problem. Kleine Veränderungen können weitreichende Folgen haben. Wir haben versucht, uns hierauf zu fokussieren.
Letztendlich sind wir in Bezug auf das Online‐Lernen pragmatisch, mit einer gewissen Skepsis, aber einem tiefen Glauben an Menschen, sowohl Schüler als auch Lehrer, was uns vielleicht zu guten Guides macht. Und selbst für unsere skeptischste Seite ist nicht alles schlecht. Es gibt ein paar Lichtblicke. Wir werden neue Dinge über uns selbst herausfinden und im Online‐Unterrichten besser werden. Dem werden wir uns gleich zuwenden. Lassen Sie uns aber zuerst einen Schritt zurück machen und wir erzählen Ihnen, wieso wir ein Buch über etwas schreiben, woran wir vor einer Weile noch nicht im Entferntesten gedacht hätten.