Читать книгу Was muss ich tun? oder Wer darf ich sein? - Dr. Hans Erich Müller - Страница 8
Freiheit und trotzdem Bindung.
ОглавлениеJeder Mensch braucht Bindung (Religio), auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Nehmen wir das mal wörtlich: Wenn wir uns auf die Skier stellen ohne Bindung, machen sie mit uns, was sie wollen, und wir fallen auf die Nase. Um die Richtung bestimmen zu können, brauchen wir eine Bindung, auf dem Ski-Hang genau wie im Leben.
Neulich las ich bei Christina Brudereck: Ich glaube an die Schönheit der Demokratie, weil sie schön ist. Meinungsfreiheit ist schön. Wählen zu können ist schön. Fairness ist schön. Augenhöhe ist schön. Zusammenarbeit ist schön. Transparenz und Respekt sind schön. Das hat mich beeindruckt. Und es ging mir schlagartig auf, dass das für die Religion ebenso zutrifft:
•Gemeinschaft Gleichgesinnter ist schön.
•Geborgenheit in einer Wertegemeinschaft ist schön.
•Dasein für Andere trotz Hass und Missgunst in der Welt ist schön.
•Glaube, dass es eine Kraft gibt, die will, dass es mich gibt, ist schön.
•Liebe, Nächstenliebe ist schön.
•Hoffnung über alles Bedrückende hinweg ist schön.
Aber ich will nicht so tun, als gäbe es in der Religion oder gar in der Kirche und im religiösen Handeln nur „Friede, Freude und Eierkuchen!“
Heute ist es nicht ganz leicht, von christlichem Glauben und von Gott zu sprechen. Leicht kommt man in Verdacht, zu den Spinnern zu gehören, die mit der Wissenschaft im Clinch liegen und an Zauberei glauben. Viele der unzähligen Glaubensgemeinschaften machen es ihren Kritikern auf diesem Gebiet auch leicht.
Reizwörter wie Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, christlicher Fundamentalismus, kirchlicher Amtsmissbrauch usw. machen sachliche Auseinandersetzungen oft schwierig.
Religion kann missbraucht werden, so wie ein Messer: als Mordwaffe. Werfen wir deshalb alle Messer über Bord?
Aber wenn auch die „Religion der Liebe“ über Jahrhunderte missbraucht und mit Füßen getreten worden ist, so haben sich immer wieder viele ihrer Vertreter auf ihre eigentliche Aufgabe besonnen; für mich eines der größten Wunder.
Die Ungerechtigkeit besteht darin, dass die schlimmen und skandalösen Dinge immer riesigen Krach verursachen, während die (Nächsten)-Liebe eher leise und wenig beachtet daherkommt.
Viele Glaubensgemeinschaften bieten ihren Anhängern ein rundes Bild mit klaren Ansagen für die wichtigsten Dinge im Leben. Das ist bequem. Allzu viel Denken stört da oft. (Ironie beabsichtigt).
DREWERMANN: Wenn Glaube wieder glaubhaft werden soll, dann nur, indem man ihn vom Leben her begründet.
Will man die Kinder «christlich» unterweisen, so sollte man in Form und Inhalt gerade in der Weise «lehren», wie Jesus selber es getan hat. Gleichnisse wie die vom verlorenen Schaf oder von dem gütigen Vater und den beiden Söhnen oder von dem barmherzigen Samariter oder das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat und viele andere, daneben auch Begebenheiten aus dem Leben Jesu: wie er die «Zöllner» und die «Sünder» aufnimmt; die Geschichte von Zachäus und die Geschichte von der Sünderin) oder wie er die Kranken heilt, selbst wenn er dabei das Gebot des Sabbats bricht. All diese Geschichten mögen zeigen und einüben, wie Jesus dachte und gelehrt hat; dann erst, für das erwachsene Bewusstsein, kann man die Frage einführen, wie man in einer Welt der Gnadenlosigkeit antworten kann auf eine Lehre und ein Leben reiner «Gnade»; und dann kann man und muss man weiterfragen, mit welcher Hoffnung auf die absolute Güte Gottes jemand wie Jesus in den Tod geht. Fest steht: man kann nicht annähernd auch nur versuchen, so zu leben, wie es Jesus tat, ohne wie er zu glauben.
Menschen müssen eine absolute Geltung haben. Es bedarf eines absoluten Gegenübers ihrer Anerkennung. Ein solches Gegenüber kann und darf nicht die Natur, nicht die Gesellschaft, nicht ein Zweckverband aus Industrie und Militär und Banken sein. Wie kann man aber an ein Absolutes glauben, damit Menschen nicht länger mehr als Mittel für die Zielsetzungen anderer herhalten müssen? Diese Frage wird uns zweifellos noch beschäftigen.
Ich selbst bin in die Evangelische Kirche hineingeboren. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich gemerkt, dass diese Kirche in brüderlicher Vielfalt die verschiedensten Gottesbilder zulässt, ohne bestimmte Ansichten zu verketzern.
Entscheidend ist, dass nicht der menschliche Egoismus und Machttrieb das letzte Wort haben, sondern die durch Jesus Christus verkörperte Nächstenliebe.
Auf dieser Basis kann man auch mit anderen Konfessionen und religiösen Sondergemeinschaften sprechen und zusammenarbeiten. Dabei gebe ich nicht gern meinen (hoffentlich) gesunden Menschenverstand in der Garderobe ab.
Nach der Konfirmation wäre ich in den „kirchlichen Ruhestand“ getreten, hätte mich nicht ein Schulkamerad (Pfarrerssohn) überall hin „mitgeschleppt“. So konnte ich mein Welt- und Gottesbild über Junge Gemeinde und Studentengemeinde bis heute weiterentwickeln, und ich will nicht behaupten, dass ich damit fertig bin.
Im Laufe meines Lebens habe ich mich durch manches theologische Werk gequält. Vieles hat mir weitergeholfen, aber vieles ist für uns Laien unverdaulich.
Aber ich habe immer wieder Pfarrer und Freunde erlebt, die es verstanden haben, mir die Kostbarkeiten der Religion nahezubringen, wozu persönliche Glaubwürdigkeit und eine tragfähige Gemeinschaft unumgänglich sind.
Erst die Beschäftigung mit dem Theologen EUGEN DREWERMANN und seinem Zusammenspiel von Theologie und Psychoanalyse hat mir die richtigen Antworten gegeben: Es geht nicht so sehr darum: „Was muss ich tun?“ sondern „Wer darf ich sein?“, die Fortsetzung der Frage Martin Luthers: Nicht die „guten Werke“, sondern die Annahme durch Gott rechtfertigen unser Leben. Keiner kann sich das „Himmelreich“ durch Wohlverhalten und gute Taten erwerben. Das weiß man schon seit Augustinus (4./5.Jh.) und davor, vergisst es aber immer wieder. Indem mir klar gemacht wurde, dass es in der Religion weniger um Moral und Ethik geht, sondern dass Annahme durch Gott und die Mitmenschen und das Grundvertrauen das Eigentliche sind, hat E. DREWERMANN meinen religiösen Glauben vom Kopf auf die Füße gestellt.
M.E. Drewermanns wichtigster Grundgedanke:
Wenn Gott doch die Liebe ist, warum predigt man ihn als einen Strafenden? Wenn Gott doch gütig ist, warum kann man dann Menschen, die offensichtlich verstrickt sind in Angst und Verlorenheit, ausstoßen? Wie ist es möglich, im Namen Gottes Menschen zu verdammen?
Daraus folgt logisch:
Die Hauptaufgabe der Religion ist es, das Grundvertrauen zu stärken und die Urangst zu beruhigen. Punktum!
Die Theologie tut sich schwer, tangierende Wissenschaften mit einzubeziehen. Die Psychoanalyse habe ich schon erwähnt. Mir hat aber auch die Verhaltensforschung (KONRAD LORENZ, „Das sogenannte Böse“) wichtige Dinge vermittelt, die unsere Menschwerdung und die Einbettung in die Natur und unsere Stellung darin verdeutlichen. Durch sie erscheinen die kostbaren Mythen am Anfang der Bibel erst im richtigen Licht und vervollständigen mein Menschenbild und die Probleme der Menschen untereinander. Aus all diesen Komponenten besteht ein für mich widerspruchsfreies Bild des Verhältnisses des Menschen zu einer höheren Kraft, die von den wenigsten Menschen vollkommen geleugnet wird, und die ich mit meinen Mitchristen - welcher Richtung auch immer – Gott nenne.
Ich bin mir meiner mentalen Grenzen bewusst. Natürlich bewundere ich viele bücherschreibende Leute, die selbst Kant, Heidegger und Wittgenstein nicht nur gelesen sondern auch verstanden haben. Trotzdem nehme ich mir heraus, mich mit religiösen Fragen zu beschäftigen und lebenslang ein auch für einfache wie hochfliegende Geister gleichfalls gültiges Gottesbild zu suchen.
Und so getraue ich mich heute, meinen Enkeln ein Glaubens-und Gottesbild zu bieten, das in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der (Natur)-Wissenschaft ist und ohne Zauberei (Durchbrechen von Naturgesetzen) auskommt. Es kommt auch bestens mit unserer modernen Gesellschaft aus.
Ich bin kein Theologe sondern Mediziner im Ruhestand. Aber religiöse Fragen haben mich immer interessiert. Ich muss mich sowohl gegen die evangelikalen Fundamentalisten als auch gegen militante Atheisten abgrenzen.
Für manchen Theologen mögen meine Ausführungen naiv und philosophisch eher einfach gestrickt daher kommen. Aber ich möchte ja auch nicht nur von Theologen verstanden werden, sondern von meinen Enkeln, Freunden und allen, die bei der wissenschaftlichen Theologie resigniert oder gelangweilt abwinken. Gesunder Menschenverstand ist, wie schon oben gesagt, mein Hauptinstrument.
Ein Vergleich der Theologie mit der Medizin: Den Kranken interessieren nicht vordringlich die chemischen und physikalischen Vorgänge in der Zelle, im Gewebe und im ganzen Körper, die die Voraussetzung für die richtige Behandlung sind.
Er will vielmehr gesund werden und sich wohlfühlen. Ebenso soll mir die Theologie zu einem sinnvollen Leben ohne Verzweiflung verhelfen, während die Frage, ob eine Bibelstelle ein echtes Jesuswort oder nur zugeschrieben ist, sekundär ist.
Meine (natürlich von Theologen vermittelte) Theologie ist einfach und unkompliziert, ohne die wesentlichen Probleme zu verflachen. Da die Theologie als Ganzes ein sehr differenziertes Gebäude ist und 99 Theologen mindestens 100 unterschiedliche Meinungen haben, erlaube ich mir, meine Überzeugung, um die ich auch heute noch ringe, in wenigen vom Hauptstrom teilweise abweichenden Punkten zu formulieren. Nicht viele sind bereit, ein 400-Seitenbuch eines Theologen zu lesen. Dagegen sind die ca. 112 Seiten, die vor Ihnen liegen, doch eher zu bewältigen.
Ich biete und erwarte Toleranz, soweit es geht: Gegenüber Intoleranz kann es keine Toleranz geben.
Von vielen Leuten habe ich schon gehört (u.a. von Prof. J. Hackethal persönlich): „Mit dem lieben Gott habe ich keine Probleme, nur mit seinem Bodenpersonal!“
Jeden, der sich, aus welchen Gründen auch immer, aus der Kirche heraustreiben lässt, kann ich nur bedauern. Innerhalb der Kirche habe ich eine Heimat gefunden und kann es nur jedem ebenfalls wünschen. Mir muss in der Kirche und Gemeinde nicht jeder sympathisch sein. Aber ich weiß, dass auch er ein „Kind Gottes“ ist. Da kann ich ihn annehmen mit all seinen Problemen, was auch immer diese Probleme beinhalten. (siehe später)
Ich wünschte mir, dass wir nicht so viel aneinander vorbeireden würden und lieber nach den Kostbarkeiten der Religion suchen und sie für das Gelingen unseres Lebens bewahren und nutzen.
Was ich meine, drückt am besten
Die Geschichte vom Elefanten und den blinden Kindern aus: In einer Stadt gab es eine Blindenschule. Als ein Zirkus in die Stadt kam, bat der Schuldirektor den Zirkusdirektor, er solle doch mal einen Elefanten auf den Schulhof bringen. Darauf durften die blinden Kinder den Elefanten „begreifen“. Bei dem beschränkten Platz konnten sie aber nicht jede Gegend des Elefanten erreichen. So setzten sie sich hinterher zusammen und erzählten sich, wie sie den Elefanten erlebt haben. Eins sagte: „Der Elefant ist wie ein Baum mit einer rauen Borke.“ Ein anderes: „Der Elefant ist wie ein dicker Feuerwehrschlauch.“ Das dritte: „Der Elefant ist wie ein hartes, glattes Horn und unten ganz spitz usw. Und dann machten sie etwas nicht, was wir so gern tun. Sie sagten nicht: „Was Du erlebt hast kann nicht stimmen. Nur was ich erlebt habe ist die Wahrheit.“ Sondern sie hörten aufeinander und konnten sich so ein Bild über die Größe und die Pracht des Elefanten machen. (Aus Südasien)
Für meine Enkel Charlotte und Nicholas habe ich, was ich an Glaubensinhalten in etlichen Jahrzehnten gesammelt und für mich als wichtig empfunden habe, aufgeschrieben in der Hoffnung, dass es für sie einmal eine Bedeutung bekommen kann. Falls dieses ursprünglich nur für die Enkel gedachte „Glaubensbekenntnis“ geeignet ist, auch bei manchem Mitmenschen ein Nachdenken und Überprüfen der eigenen Position anzuregen, wäre die Schreiberei nicht vergeblich gewesen.
Für die Allgemeinheit musste ich es gründlich überarbeiten. Sollte ich Sie, lieber Leser, neugierig gemacht haben, würde mich das freuen.