Читать книгу Was muss ich tun? oder Wer darf ich sein? - Dr. Hans Erich Müller - Страница 9
Einleitung für meine Enkel
ОглавлениеCharlotte und Nicki (inzwischen sind beide deutlich älter)
Meine liebe Charlotte, mein lieber Nicki,
ich bin stolz, Euer Großvater zu sein und Euch meine Enkel nennen zu dürfen. Oft ist es so, dass die jüngere Generation mit der älteren und auch umgekehrt nichts anfangen kann und sich nicht versteht, besonders wenn die Alten meinen, sie müssten die Jungen belehren. Sicher seht Ihr vieles anders, als ich es zu meiner Zeit erlebt habe, und manches werde ich auch an der jungen Generation nicht verstehen können. Das muss nicht schlimm sein, solange man sich miteinander Mühe gibt und nicht meint, nur man selbst habe Recht. Man muss Verständnis für den Andern haben und versuchen, sich in seine Lage zu versetzen.
Ich bin fest überzeugt, dass Eure Eltern Euch ein hervorragendes Rüstzeug auf den Lebensweg mitgegeben haben. Das Wichtigste ist die Liebe und ist die Menschlichkeit. Ich bin überzeugt, dass davon auch Euer Leben geprägt wird, da die Eltern sie Euch vorgelebt haben. Da wir das auch bei unseren Kindern versucht haben, natürlich nie fehlerfrei und vollkommen, haben wir an Eurer Lebenseinstellung auch ein bisschen Anteil.
Besonders gefällt mir Eure Lebendigkeit, Eure Menschenliebe und Lebensfreude. Toll ist Eure Sportlichkeit, die nie Langeweile aufkommen lässt, und Eure Tierliebe. Ach, ich könnte noch so viel aufzählen, aber das wäre sicher überflüssig, und außerdem solltet Ihr ja auch nicht übermütig und unbescheiden werden. Aber es ist eigentlich eine schöne Bilanz Eures bisherigen Lebens. Man könnte meinen, darin steckt schon viel Sinn. Das ist sicher auch so. Euer Tag ist mit mehr oder weniger erfreulichen Dingen ausgefüllt. Ihr seid „Manns“ genug, Eure Probleme zu lösen.
Trotzdem hat das alles den Menschen auch früherer Jahrhunderte und Jahrtausende nicht ganz genügt. Immer schon bewegte die Menschen: „Woher kommen wir, wohin gehen wir, und was ist der Sinn unseres Lebens?“ Und das ist ein wichtiger Teil der Religion, wenn nicht der wichtigste.
Da waren sich schon immer alle einig, dass man sich den Sinn des Lebens nicht selber geben kann, so wie Münchhausen sich aus dem Sumpf selbst am eigenen Zopf herausgezogen haben soll. Auch die Wissenschaft, die uns ja ein komfortables Leben schenkt, kann über den Sinn so gut wie nichts sagen. Sie sorgt für das Wohl des Menschen, die Religion aber für das Heil! Das ist die Quintessenz dieses Schriftstückes. (Siehe später)
Das „Warum“ meines Lebens, meinen Sinn, müssen mir meine Mitmenschen schenken. Dies kann ich nicht selbst herstellen bzw. erreichen.
Wie nötig ist Religion! Wer, wenn nicht sie, könnte den Menschen, uns allen, sagen, dass sie mehr sind als Übergangsgebilde im Stoffwechselhaushalt der Natur, dass sie zu schade sind, um sich als Konsumenten und als Produzenten im Wirtschaftskreislauf zweifelhafter Kapitalverwerter zu verschleißen, und dass es nicht ihr wichtigster Wert ist, Leistungsträger bei der Sicherung des Industriestandorts Deutschland oder irgendeines anderen Landes der Welt zu sein. Wir Menschen, und zwar alle, sind viel mehr wert! Darauf komme ich noch.
Wir haben wunderbare Fähigkeiten gegenüber den Tieren (Kultur, Kunst, Heilkunst, unglaubliche Erfindungen, die uns beglücken können und unglaubliche Möglichkeiten eröffnen).
Aber wir haben auch ein Problem, was die Tiere nicht haben. Wir wissen, dass wir sterben müssen. Wir entdecken notwendig unsere Endlichkeit; wir müssen nicht nur sterben, wir müssen mit dem Wissen um die Sterblichkeit leben. Dann aber ist es die Frage, ob wir bei der biologischen Sicht stehen bleiben und uns selber für nichts weiter als „Staubgeburten“ halten, oder ob wir unser Dasein als etwas Gewolltes, Berechtigtes, Erwünschtes zu betrachten lernen. Und am Ende unseres Lebens stellen wir uns, wenn wir noch dazu kommen, zwangsläufig die Frage, ob unser Leben einen Sinn gehabt hat.
Bei Leuten, die nichts anderes interessiert hat als Karriere und Geldverdienen, oder die sich immer nur um sich selbst „gedreht“ haben und denen ihre Mitmenschen weitgehend egal waren, können vielleicht gut funktioniert haben und für ihre Umgebung nützlich gewesen sein. Ob sie aber ein sinnvolles Leben geführt haben, ist damit noch nicht gesagt.
Ebenso bei Menschen, deren wichtigstes Ziel es war, andere zu beherrschen, Macht auszuüben, um selbst Befriedigung durch einen Machtrausch zu erleben. Im Gegenteil haben diese meist viele Menschenleben auf dem Gewissen.
Da denke ich an Napoleon, Hitler, Stalin und viele andere.
Ich selbst habe recht lange gebraucht, um mein (christliches) Weltbild abzurunden und es einigermaßen widerspruchsfrei zu formulieren. Eigentlich kann ich auch heute noch nicht sagen, dass sich da nichts mehr verändert. Ich bin nie fertig und immer auf der Suche.
Zu meiner Konfirmation war ich noch gar nicht fähig und willens, mich damit zu befassen. Zu dieser Zeit sind die wenigsten an solchen Fragen interessiert. Aber häufig kommt das dann später, und dann ist es vielleicht eine Hilfe, ein paar Antworten zu bekommen, oder wenigstens zu wissen wie jemand gedacht hat, der einem nahe steht, also z. B. der eigene Großvater, so „fossil“ er auch sein mag.
In meiner Oberschulzeit (9.-12. Klasse) habe ich durch Kontakt mit Mitschülern (Pfarrerskinder) und anderen mein Weltbild geformt und auch die christliche Gemeinschaft schätzen gelernt. Weitergabe von Glauben und Religion geht immer nur von Mensch zu Mensch.
Einen großen Sprung nach vorn brachte die evangelische Studentengemeinde (ESG) während des Studiums. Da habe ich Leute kennengelernt, die wirklich etwas Gutes zu sagen hatten, was das Leben prägen kann, und was oft noch unreife Ansichten reifen lässt.
Ohne ESG hätte ich Ebba auch nicht kennengelernt, und Euch würde es so wie Ihr heute seid, gar nicht geben. Aber das nur nebenbei.
Ich habe in der 6. Klasse mal den Katecheten (Christenlehre war außerhalb der Schule) gefragt, was ich denn machen könnte, damit Gott mich akzeptiert und gern hat. Er sagte: „Halte die 10 Gebote und besonders das Gebot der Nächstenliebe. Mehr kannst du gar nicht machen.“ Erst war ich ein bisschen unzufrieden mit der Antwort, aber dann ging mir auf: eigentlich stimmt es. Vielmehr können wir nicht tun. Das werde ich später noch erläutern.
Aber auf die Frage an meinen Katecheten habe ich sehr lange bis zu einer befriedigenden Antwort gebraucht.
Später habe ich mich gefragt, wie man einen Süchtigen oder einen anders seelisch problematischen Menschen beurteilen kann.
Nehmen wir einen Alkoholiker. Wenn wir moralisch an ihn herangehen, müssten wir ihn verurteilen. Er stiehlt und lügt, um an den Stoff zu kommen oder macht noch schlimmere Sachen. Dabei kann er ein begnadeter Künstler sein, Musiker, Maler, Schriftsteller, was gar nicht so selten ist. Wer will denn über solche Menschen urteilen wie Ingeborg Bachmann, oder Hans Fallada?
Es ist also manchmal kompliziert, wenn man gut sein will, aber nicht kann. An einer einzigen Stelle (Römerbrief) kommt das in der Bibel vor: …das Gute, das ich will, tue ich nicht, aber das Böse, das ich nicht will, tue ich.
Es nützt wenig, wenn man zu so einem Menschen sagt: „Du musst doch einfach nicht trinken!“ „Tu doch einfach nur das Gute!“ Das ist eine tragische Situation. Es kommt eben nicht nur auf den guten Willen an! Oder es gibt Situationen, wo Du Dich zwischen zwei Übeln entscheiden musst. Egal, wie Du Dich entscheidest, jedes Mal wirst Du schuldig. Auch das ist eine tragische Situation.
Z.B. könnte man Kenntnis haben von einer Straftat eines Menschen, z.B. Diebstahl durch einen Arbeitskollegen. Das müsste man natürlich melden. Damit macht man aber vielleicht dessen Leben kaputt, und möglicherweise hat der Täter längst bereut und will den Schaden wieder gut machen. Ihr könnt Euch solch eine Zwickmühle sicher vorstellen.
Die schweren, oben angerissenen Fragen, z.B. die der Tragik, der Angst vor dem Leben und deren Beruhigung, sowie das Grundvertrauen, das uns zur Liebe befähigt, hat mir EUGEN DREWERMANN beantwortet.
Die Beschäftigung mit dem in Paderborn lebenden Theologen hatte den größten und entscheidenden Einfluss, der mir die Verbindung der Religion mit der Psychologie (salopp „Seelenklempnerei“) deutlich gemacht hat. Leider hat seine katholische Kirche seine Größe und Wichtigkeit nicht erkannt und ihn ausgegrenzt.
Seine Auffassung ist für mich nicht nur einleuchtend und einfach, sondern sie hat mir auch den Sinn der Religion und damit meines Lebens deutlich gemacht. Ich möchte sogar so weit gehen: Religion kann nur dann sinnvoll sein, wenn sie die Psychologie als Grundpfeiler mit einbaut. Ein guter Seelsorger macht das sicher automatisch.
Natürlich wäre es besser, wenn wir diese Dinge besprechen könnten, wenn wir unter 4-6 Augen zusammensitzen würden und die Fragen von Euch kämen, denn dann wüssten wir, dass es Dinge sind, die Euch wirklich interessieren und angehen.
Aber leider wohnen wir so weit auseinander, und die wenige Zeit, die wir zusammen verbringen können, wie die schönen Urlaube, sollten erstens nicht überfrachtet werden, und zweitens dauert es auch oft länger, bis einem die richtigen Fragen kommen. Wenn man zusammen lebt, hat man es da leichter.
Außerdem weiß ich natürlich nicht, wie lange ich lebe und Euch zur Verfügung stehen kann. So habe ich mir die Mühe gemacht, das, woran ich glaube, was meine Religion ausmacht, aufzuschreiben, in der Hoffnung, dass Ihr vielleicht später etwas damit anfangen könnt.
Wenn Ihr jetzt erst einmal genug habt und sagt: „Alles gut und schön, aber das sind zurzeit nicht meine Probleme“, dann ist das durchaus in Ordnung.
Dann legt das Geschriebene erst mal zur Seite, vergesst es aber vielleicht nicht ganz. Es könnte ja mal im Lauf Eures noch jungen Lebens sein, dass diese Fragen für Euch interessant werden. Und dann guckt Ihr mal wieder rein. Später könnte vielleicht manches für Euch wichtig werden, was Euch heute noch trocken und uninteressant vorkommt.