Читать книгу Wie Menschenbilder Personen und Unternehmen verändern - Dr. Hans Rosenkranz - Страница 5
ОглавлениеI. Die anthropologischen Betrachtungsweisen in dieser Arbeit
Barnard stellt am Anfang seiner Untersuchung »The Functions of the Executive« fest, dass das Studium der Organisation und des menschlichen Verhaltens in Organisationen nicht auf einige so einfache Fragen verzichten kann wie: »What is an individual?« »What do we mean by a person?« »We answer them implicitly in whatever we say about human behavior« (Barnard 1956, S. 8). Die Beschäftigung mit dem Menschen ist in dieser Auffassung nicht nur Voraussetzung der Wissenschaften, die sich mit der betrieblichen Organisation befassen. Sie gibt den Organisationswissenschaften und ihren Aussagen anthropologischen Charakter (Portmann 1960, S. 12)1.
Mit den Fragen: Wie der Mensch im Betrieb wirtschaftet, organisiert, wie er sich verhält und wie er erzogen wird, beantworten die Betriebspsychologie und -Soziologie, die Betriebswirtschaftslehre, die Betriebspädagogik und andere Disziplinen auch anthropologische Fragen. Über das Wie des Menschen erfahren wir aber nur etwas, indem wir auch fragen, wer er ist (Habermas 1958, S. 19). Diese weite Auffassung von der Anthropologie rechtfertigt sich aus der Eigenart des Forschungsgegenstandes Mensch, der in seiner Vielfalt — als Wesen, »das wünscht und hofft, denkt und will, fühlt und glaubt, um sein Leben bangt und in allem den Abstand zwischen Vollkommenheit und seinen Möglichkeiten erfahren muss« (Pleßner 1953a, S. 117) — nur durch ein umfassendes methodisches Instrumentarium erforscht und erkannt zu werden vermag. Von dieser Erkenntnis her kommt Pleßner (1953a) zur Überzeugung, dass »jedem Aspekt, von dem aus der Anspruch erhoben werden kann, dass in ihm menschliches Wesen erscheint, ob der physische, psychische, geistig-sittliche oder religiöse, der gleiche Wert für die Aufdeckung des ganzen menschlichen Wesens zuzubilligen ist« (Pleßner 1953b, S. 270 f.)2.
Dieser wissenschaftstheoretische und -methodische Ansatz wird als sogenanntes »Prinzip der offenen Frage« dieser Arbeit zugrundegelegt. Eine methodisch offene Haltung entspricht dem interdisziplinären Charakter des Themas und der Auffassung, dass lediglich eine ganzheitliche, zugleich aber auch analytische Betrachtungsweise das Attribut anthropologisch verdient (Dörschel 1962a, S. 87). Als anthropologisch sind die empirischen Beiträge der einzelnen Wissenschaften vom Menschen zu bezeichnen, ebenso aber auch die Analyse der in wissenschaftlichen Theorien und kulturellen Objektivationen zugrundeliegenden Auffassungen und Bilder vom Wesen des Menschen sowie ihr Vergleich und ihre Beurteilung von einem ganzheitlichen Menschenbild her.
Die methodisch-anthropologischen Grundlagen, die für das Thema dieser Untersuchung infolgedessen von Bedeutung sind, lassen sich nach drei Richtungen unterscheiden.
1. Die Darstellung einzelner Beiträge zur Theorie der formalen und informalen Organisation
Dabei wird auf die Entstehung und die weitere Entwicklung dieser Theorie eingegangen. Die Entwicklung der Theorie von formaler und informaler Organisation hat bei der sogenannten Hawthorne-Studie begonnen, auf die im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird.
Im Rahmen der Hawthorne-Untersuchung wurden »Methoden und Techniken anthropologischer Feldarbeit“ angewandt, die über Elton Mayo von der Kultur- und Sozialanthropologie übernommen worden waren (Stirn 1952, S. 32). Sozial- und Kulturanthropologie haben auf die Entwicklung der Theorie der formalen und informalen Organisation auch über die amerikanischen soziometrischen Community-Studien (Pflaum 1953, S. 21) sowie über den sozial- und kulturanthropologischen Funktionalismus Einfluss genommen (Stirn 1952, S. 54). Dieser besagt, dass sozial-kulturelle Bewegungen im Zusammenhang mit einer größeren Einheit stehen und nur als Teil von ihr verstanden werden können. Eine gewisse Ähnlichkeit hat im Ansatz auch die Gestaltpsychologie Lewins, wonach seelische Vorgänge und ihr Ausdruck im Handeln im Ganzen der Person zu sehen und zu begreifen sind (Francis 1965, S. 41; Stirn 1952, S. 56). Auch in der personalistischen Pädagogik gelten die Idee und die Forderung, die Ganzheit der Person bei Maßnahmen der Erziehung und der Forschung zu beachten, als anthropologisches Leit- und Sinnmotiv (Dörschel 1962b, S. 28f; Baumgardt 1967a, S. 64).
2. Die Analyse der Theorie der formalen und informalen Organisation mit Hilfe anthropologischer Modellvorstellungen
Als solche werden das Polaritäts-, das Schichten- und Rollenmodell betrachtet. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass sie als empirisch-anthropologisch fundiert gelten. Zum anderen dienen sie als Kriterien und Aspekte anthropologischer Analyse.
Aus der menschlichen Veranlagung »zum Denken in Dualismen, in Paaren und Gegensatzbegriffen« (Pflaum 1953, S. 8) und aus der bipolaren Struktur menschlicher Seinsweise selbst (Schlieper 1962, S. 34) werden polare Kategorien gewonnen (z.B. die Kategorien des Subjektiven und des Objektiven, des Heteronomen und Autonomen, des Individualen und Sozialen usw.) und mit ihrer Hilfe menschliche Seinsbereiche analysiert (Baumgardt 1967a, S. 64 ff; 1967b, S. 25 ff; 1967c, S. 180 ff)3.
Es kann als Vorteil einer polaren Betrachtungsweise gelten, dass aufgeworfene Probleme von zwei gegensätzlichen Positionen her gesehen werden. Dadurch ist der Gefahr vorgebeugt, einseitig Züge des Menschen zu verabsolutieren. Das Denken in Polaritäten wird dadurch zwar zu einer analysierenden, aber doch ganzheitlichen Sichtweise.
Auch in der Unterscheidung nach formaler und informaler Organisation kommt die polare Struktur menschlicher Seinsweise zum Ausdruck. Formale und informale Organisation sind daher selbst als spezielles Polaritätsmodell zu begreifen, in dessen Einheit die Wirklichkeit, in dessen Trennung nur ein Aspekt der Wirklichkeit erscheint.
Zur Erkenntnis seiner selbst ist der Mensch darauf angewiesen, die komplexe Wirklichkeit mit Begriffen aufzugliedern, die einmal seinen sprachlichen Möglichkeiten, zum anderen seinem Bedürfnis nach Anstauung entgegenkommen. Für eine anthropologische Analyse der Betriebsorganisation gewinnen Schichtenmodelle, wie sie z.B. von Rothacker (1953) und Lersch (1962) aufgestellt worden sind, hohe Bedeutung. Dies beweist die Untersuchung von Arthur Mayer, der die betriebliche Realität unter schichtentheoretischen Gesichtspunkten untersucht, wobei das Formale und das Informale jeweils unterschiedliche Affinität zu einzelnen Schichten tragen. In einer weiteren Differenzierung nach Gesellungs-, Führungs-, Unterordnungs-, Fürsorge-, Nachahmungs- und Geltungsstreben, unter dem Gesichtspunkt der Neugier und des Spieltriebs analysiert er die Vielfalt der Motive, die auf die soziale Ordnung des Betriebes Einfluss nehmen. Seine These geht dahin, dass Betriebsprobleme ihre sicherste Klärung vom Persönlichkeitsproblem her erfahren (Mayer 1951, S. 102 f, 222).
Möglichkeiten eines Rollenmodells liegen in der Analyse menschlichen Lebens, nämlich wie der Mensch »zu sich, zur Gesellschaft, zu Natur und Gott ein Verhältnis findet« (Pleßner 1953c, S. 181). Die soziale Rolle ist nach Dahrendorf lediglich ein Bild der Erwartungen der Gesellschaft an das Verhalten der Menschen (Dahrendorf 1967a, S. 128 ff). Menschliches Verhalten ist aber nicht nur durch mitmenschliche Bedingungen bestimmt, sondern auch durch kulturelle und durch spontan-individuelle. Eine anthropologische Analyse formaler und informaler Rollen in der Betriebsorganisation ist daher nicht nur auf ein begriffliches Instrumentarium zur Bestimmung sozial-vorgeprägten Handelns, sondern auch auf Begriffe zur Kennzeichnung individuell-eigenständigen Handelns und seiner Wirkung auf Organisationen angewiesen. Zur Kennzeichnung des Gegenpols der sozialen Rolle könnte reales Verhalten, das Erwartungshaltungen des Individuums an sich selbst und gegen die Umwelt entspringt, als individuale Rolle, als Wunschrolle (Lersch 1965, S. 165), als Persönlichkeitsbegriff der Rolle (Fend 1969, S. 133) oder im Sinne von Wurzbacher und Scharmann als Personalisation bezeichnet werden (Scharmann 1966a, S. 70 ff; Wurzbacher 1963).
3. Die Interpretation der Theorie der formalen und informalen Organisation
Im Sinne von Lersch, der sich an Windelband anlehnt, übernimmt die Anthropologie als Philosophie die Aufgabe des Zusammen- und Zuendedenkens von Tatsachen (Lersch 1957, S. 16). Als »Synthese der wesentlichsten Aussagen über den Menschen« ist sie dann nicht »Grundwissenschaft«, sondern »Gipfel- und Abschlusswissenschaft« (Mayer 1951, S. 12).
Eine methodische Konkretisierung dieser Art philosophisch-anthropologischen Vorgehens nimmt Bollnow (Bollnow 1965, S. 30 ff) in Anlehnung an Pleßner vor, indem er drei sich wechselseitig ergänzende und sich überschneidende Prinzipien erläutert, die im Folgenden dieser Arbeit zugrundeliegen.
a) Die anthropologische Reduktion: Die objektiven Gebilde der Kultur, in dem konkreten Fall, die Wirtschaft, der Wirtschaftsbetrieb, die Organisation des Wirtschaftsbetriebes in der Differenzierung nach formaler und informaler Organisation, und die Betriebserziehung werden rückbezogen auf den Menschen als ihren Initiator und Schöpfer.
b) Das Organon-Prinzip wird als die zur anthropologischen Reduktion inverse Operation betrachtet. Menschliches Leben wird von seinen kulturellen Objektivationen her verständig gemacht. Einmal werden also die kulturellen Gebilde vom Menschen her verstanden, zum anderen der Mensch von seinen Kulturschöpfungen her.
c) In einem weiteren Verfahren werden Phänomene des menschlichen Verhaltens, die u.a. auch im Organisationsbereich des Betriebes auftreten, anthropologisch interpretiert.
Anthropologische Darstellung, Analyse und Interpretation ermöglichen eine Betrachtungsweise des Wirtschaftsbetriebes, seiner Aufgaben und seiner Organisation, bei der der Mensch Ausgangs- und Endpunkt aller Überlegungen ist.
1 «Wer vom Menschen spricht, auch wenn er von der Zoologie herkommt, betritt anthropologischen Boden und muss sich dessen bewusst sein.«
2 Zur Interpretation des Prinzips der offenen Frage siehe Loch (1963).
3 Diese Methode wird besonders von Johannes Baumgardt gepflegt.