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Kapitel 2

Die Ursprünge der PTBS


Zu einer PTBS kommt es immer infolge eines Traumas, das bei einem Ereignis erlitten wird, das Elemente der Gewalt aufweist. Sie ist die direkte Folge davon. Was aber ist ein Trauma?

Trauma ist nicht gleich Trauma

Laut Definition hat das Wort „Trauma“ zwei Bedeutungen: eine medizinische und eine psychologische.

► Wird es im medizinischen Sinn verwendet, steht es synonym für „körperliche Verletzung oder Verwundung“.

► Wird es im psychologischen Kontext verwendet, handelt es sich um einen „heftigen emotionalen Schock“. Parallel spricht man von seelischer Verletzung, Aufruhr, Erschütterung oder Störung.

Betrachten wir zunächst einmal die unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter „Trauma“ und „traumatisiert“:

► Ein Trauma ist eine physische oder psychische Verletzung, die einem Körper zugefügt wird, oder die Einzelverletzung, die daraus resultiert. Diese Einzelverletzung oder Läsion kann durch mechanische oder andere Einwirkung zustande kommen.

► Spricht man von traumatisiert, sind damit die lokalen oder allgemeinen Folgen eines Traumas gemeint.

Gewalt wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO wie folgt definiert: „Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“2

Das Nachschlagewerk Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (kurz: DSM) definiert mentale Störungen und wird von der Vereinigung der amerikanischen Psychiater (APA) herausgegeben. Hier wird ein seelisches Trauma definiert.

Folgende Kriterien werden aufgelistet:

► Erleben eines traumatischen Ereignisses mit Todesgefahr, ernsthafter Verletzung oder jeder anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit

► Beobachten von Tod, ernsthafter Verletzung oder jeder anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit von anderen

► Kenntnis erhalten vom plötzlichen, gewaltsamen Tod, einer ernsthaften Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit eines Familienmitgliedes oder Nahestehenden

Als Reaktion auf dieses Ereignis muss der Betroffene intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken empfunden haben. Handelt es sich um ein Kind, muss seine Reaktion sich in übererregtem, desorientiertem Verhalten äußern.3

Es existieren auch andere Definitionen für psychische Traumata, unter anderem die von Louis Crocq, Honorarprofessor an der Universität René Descartes (Paris V): „Zusammenbruch der Psyche und Überforderung ihrer Verteidigungsmechanismen durch gewaltsame Übererregung im Zusammenhang mit dem Auftreten eines Ereignisses, bei dem das Leben oder die (körperliche oder psychische) Unversehrtheit eines Menschen in Gefahr ist, der Opfer, Zeuge oder Handelnder bei diesem Ereignis ist.“4

Für dieses Buch halten wir uns an folgende Definition eines psychischen Traumas: „Die Gesamtheit der unmittelbaren, mittelbaren und später chronischen Symptome, die ein Mensch nach einem traumatischen Ereignis entwickelt, das seine körperliche oder psychische Unversehrtheit bedroht hat. Diese Symptome können über Monate, Jahre oder sogar ein Leben lang anhalten, wenn sie nicht behandelt werden.“5

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, habe ich beschlossen darzulegen, was die Medizin unter einer PTBS versteht, indem ich den DSM-5 verwende, denn dieser wurde 2013 veröffentlicht und ist damit aktueller als die Klassifikation, die von der Weltgesundheitsorganisation verwendet wird. Außerdem wird im DSM-5 die PTBS in einer eigenen Kategorie von Störungen aufgelistet, die einem Trauma oder posttraumatischem Stress folgen (trauma and stress related disorders). Sie gehört nicht länger zu den Angststörungen, denen sie zu lange zugeordnet war. Denn auch wenn Angst eines der Symptome ist, das Betroffene zeigen, so steht sie doch keineswegs im Zentrum dieses Krankheitsbildes.

Ein sehr verbreitetes Krankheitsbild

Hier einige Daten und Fakten über die PTBS, die überraschen könnten.

► Schätzungen zufolge ist jeder Zehnte von einer PTBS betroffen. Sie gehört zu den verbreitetsten gesundheitlichen Problemen, wird aber immer noch viel zu selten erkannt.

► Man trifft sie genauso häufig bei Erwachsenen wie bei Kindern.

► Frauen haben ein beinahe zweifach erhöhtes Risiko, an einer PTBS zu erkranken.

► Fast neunzig Prozent der Bevölkerung durchleben mindestens einmal im Leben ein traumatisches Ereignis.6

► Laut jüngsten Studien erleben vierzig Prozent der Menschen einen körperlichen Übergriff, neunundzwanzig Prozent sind anwesend, wenn jemand anderes stirbt oder ernsthaft verletzt wird, achtundzwanzig Prozent haben einen schweren Autounfall und siebzehn Prozent werden Opfer einer Naturkatastrophe.

► Eine von drei Frauen und einer von fünf Männern sind in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Missbrauchs geworden.

► Wie zu Beginn des Buches erwähnt, sind Menschen bei der Ausübung bestimmter Berufe anfälliger für eine PTBS. Bei diesen Risikoberufen handelt es sich um folgende: Militär, Polizei, Feuerwehr, Gefängniswärter, Sanitäter, Notarzt, Pflegepersonal, Mitarbeiter von humanitären Hilfsorganisationen, Busfahrer, Lokführer genau wie alle Menschen in der Justiz und im Sozialwesen, die mit Problemen wie Vergewaltigungen und Missbrauch zu tun haben, deren Opfer ihre Klienten sind (Erwachsene und Kinder). In all diesen Berufen entwickeln ein Viertel oder sogar ein Drittel der Beschäftigten eine PTBS.

► Bei der kanadischen Polizei waren 2016 etwa dreimal mehr Mitglieder von einer PTBS betroffen als 2008: Rund viertausend aktive und pensionierte Polizisten litten daran und wurden medizinisch betreut. Man geht aber davon aus, dass zwei- bis dreimal mehr Personen betroffen sind und dass die meisten es nicht öffentlich machen wollen, weil sie Angst haben, ihre Anstellung zu verlieren oder von den Kollegen schief angesehen zu werden. Dabei hat die kanadische Polizei 2014 einen Fünfjahresplan aufgestellt, um gegen die aus einer Stigmatisierung der geistigen Gesundheit resultierenden Probleme vorzugehen. Für die kanadische Polizei werden elf Gesundheitszentren betrieben und neun Kliniken für diejenigen, die an einer PTBS leiden.7

► Bei den kanadischen Streitkräften sind angeblich 6,6 Prozent der Angehörigen von einer PTBS betroffen.8 Glaubt man den Instanzen, die diese Schätzungen erstellt haben, ist die Dunkelziffer höher.

► Flüchtlinge aus Kriegsgebieten und Ländern mit bewaffneten Konflikten sind häufig von einer PTBS betroffen. Eine in Deutschland durchgeführte Studie schließt daraus, dass ein Großteil von ihnen Gewalt erlebt hat: Krieg (72,5 Prozent), gewalttätige Angriffe (67,9 Prozent), andere belastende Ereignisse (51,4 Prozent), Folter (50 Prozent), Gefängnis (47,9 Prozent) und sexuelle Gewalt (11,1 Prozent). Die PTBS vieler Flüchtlinge wird von Erlebnissen im Herkunftsland, auf der Flucht oder am Zufluchtsort verursacht.9

► Auch Tiere können von einer PTBS betroffen sein: „Laut Schlussfolgerung einer Studie, die in der Militärbasis Lackland in den USA durchgeführt wurde, zeigen zehn Prozent der Hunde, die an der Front in Afghanistan und im Irak eingesetzt werden, nach ihrer Rückkehr ‚ins zivile Leben‘ die charakteristischen Symptome.“10

Ein Krankheitsbild mit vielen Ursachen

Zu einer PTBS kommt es infolge eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse, zum Beispiel, nachdem ein Mensch einer realen Gefahr mit großem Verletzungsrisiko ausgesetzt war, einen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit erlitten hat oder Zeuge eines Todesfalles wurde.

Je nach Art des Erlebens können zahlreiche Ereignisse mit Verzögerung traumatische Reaktionen hervorrufen. Es ist wichtig zu betonen, dass ein Mensch einem Trauma direkt oder indirekt ausgesetzt sein kann.

Hier eine sicher nicht vollständige Liste von Traumata, in deren Folge es zu einer PTBS kommen kann:

► ein fötales Trauma (in utero)

► ein Geburtstrauma

► der Verlust eines Elternteils oder eines nahen Familienmitgliedes

► wenn man nach der Geburt wegegeben oder emotional vernachlässigt wurde

► eine schwere Erkrankung, starkes Fieber oder eine versehentliche Vergiftung

► eine längere erzwungene Ruhigstellung, ein Gipsverband oder ein geschientes Körperteil bei kleinen Kindern

► bestimmte medizinische oder zahnmedizinische Behandlungen

► ein chirurgischer Eingriff

► eine Narkose

► ein Unfall mit dem Auto, Flugzeug, Schiff etc.

► sexueller Missbrauch, körperliche und seelische Misshandlung, wozu auch Verlassenwerden und Schläge gehören

► ein Raubüberfall oder eine Geiselnahme

► ein bewaffneter Konflikt

► ein Gewaltverbrechen, das man mit ansieht

► eine Naturkatastrophe wie Erdbeben, Großbrände, Überschwemmungen oder starke Stürme

In bestimmten Fällen reicht es, Zeuge eines traumatischen Ereignisses oder einer Gewalttat zu sein, um eine PTBS zu entwickeln. Oder von einem Trauma zu hören, das Menschen erlitten haben, denen man sich verbunden fühlt, um selbst an einer PTBS zu erkranken.

Es ist möglich, dass eine Krebsdiagnose und die anschließende Behandlung Hoffnungslosigkeit und Angst auslösen, die auch mit der Zeit nicht vergehen, sondern eher schlimmer werden. Dann nimmt auch das Risiko zu, eine PTBS zu entwickeln. Eine PTBS kann auch Jahre nach der Behandlung auftauchen. Die Symptome ähneln dann denen, die Menschen haben, welche Zeugen schmerzlicher Einschnitte im Leben wurden, also von Naturkatastrophen, Gewaltverbrechen, Bombardierungen oder Kriegen.

Festzuhalten ist, dass die Ursachen für eine PTBS vielschichtig sind. Es gibt keinerlei Systematisierung. In der Tat erleben die einen bestimmte traumatische Ereignisse, ohne anscheinend Schaden zu nehmen, während andere zutiefst darunter leiden. Auch heute noch hat die Wissenschaft keine Erklärung dafür. Man weiß auch nicht, warum bei manchen Menschen die Symptome erst Jahre später auftauchen, während andere kurz nach dem traumatischen Ereignis daran leiden, und warum manche mehrere traumatische Ereignisse durchleben, ohne jemals Symptome zu zeigen, während bei anderen ein Trauma ausreicht, um Symptome zu entwickeln. Die Wissenschaft informiert uns höchstens darüber, dass das Risiko, eine PTBS zu entwickeln, mit der Anzahl der traumatischen Ereignisse steigt.

Eine viel zu selten gestellte Diagnose: Warum?

Um die vergleichbar geringe Zahl an PTBS-Diagnosen zu rechtfertigen, bieten sich verschiedene Erklärungen an. Hier die wichtigsten:

Die Weigerung, Traumata anzuerkennen

Es ist die bittere Realität, aber in ihrer Gesamtheit neigt die Gesellschaft dazu, Gewalt gegen andere, hauptsächlich gegen Kinder und Frauen, kleinzureden oder zu unterschätzen. Auch wenn eine gewisse Entwicklung der Ansichten zu erkennen ist, bleibt es doch wahr: Schwere und Häufigkeit von Traumata werden unterschätzt und sogar verharmlost.

Als Allgemeinmediziner praktiziere ich seit dreißig Jahren in Genf in der Schweiz: Meine Patienten geben einen recht guten Querschnitt durch die Bevölkerung ab. Ich habe es mir von Beginn an zur Gewohnheit gemacht, jede neue Patientin bei ihrem ersten Termin zu fragen, ob sie in ihrem Leben Belästigungen oder gar Vergewaltigungen durchgemacht hat: 60 Prozent meiner Patientinnen haben das bejaht, und mehr als die Hälfte sprachen zum ersten Mal in ihrem Leben davon. Schockiert von diesem Ergebnis habe ich nach einigen Jahren damit begonnen, auch männlichen Patienten diese Frage zu stellen. Ungefähr 40 Prozent haben die Frage bejaht. Ein nicht unwesentlicher Teil dieser Patienten hat irgendwann versucht, mit Mutter oder Vater darüber zu sprechen, ohne dass ihnen geglaubt wurde. Folglich haben diese Männer ihre Leiden für sich behalten – mit all den dramatischen Folgen, die so etwas hat.

Gewalt in der Familie wird meistens totgeschwiegen oder geleugnet. Es gibt zahllose Kinder, die Opfer von Misshandlungen werden (Schläge, Prügel oder anderes), und die Gesellschaft schert sich wenig um sie. Manche geben zu bedenken, dass man nicht alles dramatisieren oder psychiatrisieren sollte. In Bezug auf den letzten Punkt bin ich vollkommen einverstanden, aber es besteht ein Unterschied zwischen einer Ohrfeige, die in einem Moment der Verzweiflung ausnahmsweise gegeben wird, und systematischen und regelmäßigen Bestrafungen, ob körperlicher oder psychischer Art.

Das Gleiche gilt für Gewalt in der Ehe, zu der auch sexuelle Gewalt gehört. Viele Leute wenden ein, dass es zwischen einem Mann und seiner Frau keine Vergewaltigung geben kann. Dabei sind genau solche Traumata sehr wohl die Ursache einer PTBS.

Mobbing und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz werden ebenfalls unterschätzt. Dabei sind sie Gründe für schwere Traumata.

Das Schweigen der Opfer

Eine Großzahl der Opfer verschweigt die Leiden, die zu einer Diagnose führen könnten. Für dieses Schweigen gibt es verschiedene Gründe:

► Sie haben Angst, denn sie denken, in ihrem Umfeld werde man sie verdammen oder tadeln. Das trifft sowohl auf Personen zu, die vergewaltigt oder belästigt wurden, als auch auf Menschen, die eigentlich aufgrund ihrer Berufsausbildung gegen solche Leiden gewappnet sein sollten.

► Die Opfer schämen sich oft dafür, was ihnen widerfahren ist, und sehen den Fehler bei sich. So kommt es zu starken Schuldgefühlen.

► Sie neigen dazu, sich zurückzuziehen, sich von ihrem Umfeld abzukapseln und sich folglich nicht mitzuteilen.

► Sie denken, andere können sie nicht verstehen, da sie nicht das Gleiche durchgemacht haben und sich also nicht vorstellen können, was das bedeutet. Ein Feuerwehrmann wird seiner Frau oder seinen Freunden nicht erklären, wie das ist, jemandem nach einem Unfall aus einem Auto zu schneiden, denn das erscheint ihm für jemanden, der es nicht selbst erlebt hat, nicht nachvollziehbar. Genauso wenig wird ein Vergewaltigungsopfer jemandem, der so etwas nicht erlebt hat, genau beschreiben können, was dabei in seinem Körper und seinem Kopf vorging.

► Im Beruf gilt es häufig als Schwäche, nach einem Einsatz selbst zu leiden. Folglich wird der Betroffene es nicht wagen, seinen Kollegen einzugestehen, was er wirklich empfindet. Und sicher wird er auch nicht mit Vorgesetzten darüber reden, aus Angst, verurteilt zu werden oder als unfähig zu gelten, sich auf allen Ebenen weiterzuentwickeln. Die allermeisten Menschen werden also im beruflichen Umfeld ihre Symptome verbergen, solange es geht.

► Menschen, die ein Attentat oder eine Geiselnahme überlebt haben, wagen es eher nicht, sich zu beklagen: Entweder schätzen sie sich glücklich, noch am Leben zu sein, oder sie finden, dass sie hätten sterben sollen, weil die Verstorbenen es angeblich eher verdient hätten zu überleben.

Das mangelnde Verständnis des Umfeldes

Das soziale Umfeld ist ein wichtiger Faktor für das Schweigen der Opfer. Die Haltung Nahestehender kann sie aus verschiedenen Gründen zu der Überzeugung bringen, dass Schweigen die beste Strategie ist.

► Das Umfeld kann dem Opfer dieses oder jenes Verhalten vorwerfen. „Warum bist du nicht weggelaufen? Warum hast du nicht anders reagiert?” Eine solche Reaktion vergrößert das Schuldbewusstsein und die Scham des Opfers noch, und zwar umso mehr, als es sich diese Fragen auch selbst stellt.

► Das Umfeld versucht vielleicht, dem Opfer gut zuzureden, indem man als Außenstehender logisch oder rational argumentiert, was aber in den Augen des Opfers keinerlei Sinn ergibt: „Du hast dein Möglichstes getan, da solltest du dir dieses oder jenes nicht vorwerfen.” – „Du hast Glück, dass du dieses Trauma überlebt hast, sei lieber dankbar, als dir vorzuwerfen, überlebt zu haben.” Als Opfer weiß man das auch, was aber nicht verhindert, von irrationalen Gedanken oder Reue heimgesucht zu werden.

► Das Umfeld kann Verhalten und Aussagen des Opfers nicht nachvollziehen, die oft als „total übertrieben und exzessiv” empfunden werden.

► Das Umfeld kommt eine Zeit lang damit klar, dass ein Opfer sich nicht gut fühlt, verliert aber irgendwann die Geduld, weil die Dinge mit ein bisschen gutem Willen und weniger Verzagtheit für das Opfer doch nach und nach besser laufen sollten. Was sich als Irrtum erweist. Um den offensichtlich mangelnden Willen zur Genesung und zum Blick nach vorn hervorzuheben, werden dem Opfer gegenüber offen Vorwürfe erhoben oder auch nur Andeutungen gemacht, was oft noch schlimmer ist.

► Das Umfeld kann ungeduldig sein und verlangen, dem Opfer möge es sofort besser gehen. Durch das bestehende Trauma beim Gegenüber fühlt man sich gezwungen, sich mit einem kranken Menschen abzugeben, der anscheinend nichts tut, damit es ihm besser geht, der sich zurückzieht und abkapselt, und das trotz aller Fürsorglichkeit.

Das Gesetz des Schweigens im Beruf

Es ist schon verblüffend, wie selten die PTBS in den sogenannten „Risikogruppen“ thematisiert wird.

In der Ausbildung wird das Risiko PTBS in der Regel nicht angesprochen, oder aber es wird nicht mit dem ausgeübten Beruf in Verbindung gebracht. Dieses „Versäumnis“ war nachvollziehbar, solange es noch gar keine Bezeichnung für die PTBS gab. Aber heutzutage ist es unentschuldbar. Eines der gern angeführten Argumente ist das folgende: Lieber klärt man das Personal nicht über das Risiko auf, an einer PTBS zu erkranken, weil die Rekruten sich sonst beim geringsten Verdacht krankschreiben lassen. Diese Sichtweise ist häufig die ranghöherer, altgedienter Kollegen, die „das selbst durchmachen mussten und sich auch nicht wegen jeder Kleinigkeit haben krankschreiben lassen“. Sie werden einem erklären, dass sie angesichts der Probleme, mit denen sie es zu tun hatten, hart sein oder reagieren mussten. Die Neuen auf die Möglichkeit einer PTBS vorzubereiten, sei nicht der beste Weg. Lieber behandeln als vorbeugen, heißt es dann!

Mit einigen solchen Personen hatte auch ich ernsthaft zu tun, und ich konnte feststellen, dass auch sie an einer PTBS litten, sich dessen aber gar nicht bewusst waren (oder zumindest so taten). Dabei waren sie wegen Bluthochdrucks, chronischer Rückenbeschwerden oder anderer Krankheiten in Behandlung. Den Zusammenhang zwischen ihren gesundheitlichen Problemen und der Ursache erkannten sie nicht. Ich werfe ihnen das wahrlich nicht vor, schließlich hat es ihnen niemand gesagt, schon gar nicht ein Arzt!

Von so manchem Vorgesetzten wird es gar nicht gern gesehen, dass Mitarbeiter sich beschweren oder von sich sagen, dass bestimmte berufliche Einsätze ihnen Probleme bereiten. Das kommt einem Eingeständnis von Schwäche gleich, was sanktioniert wird: durch Ausschluss, Karrierestopp oder Ausgrenzung unter dem Vorwand, Betroffene zu schützen. Ein Polizist sagte mir, „es kommt ja einem Eingeständnis der eigenen Schwäche gleich, die Treppen zu dem Stockwerk hochzusteigen, in dem die Seelenklempner sitzen. Und das führt früher oder später zu irgendeiner Sanktion, alles unter dem Deckmantel des Schweigens.“ Ob diese Einschätzung des Opfers nun zu Recht oder zu Unrecht besteht, sie kann einen Teufelskreis in Gang setzen: Die Kollegen decken den angeschlagenen Mitarbeiter und machen seine Arbeit mit, was zu Überlastung führt. Dadurch kann die ganze Gruppe geschwächt werden. Oder aber der Betroffene verbirgt seine Krankheit, indem er auf Medikamente oder Substanzen zurückgreift, die es ihm ermöglichen durchzuhalten, bis die Nebenwirkungen die Oberhand gewinnen oder sich das Leiden nicht länger verstecken lässt. In beiden Fällen leidet nicht nur die Umgebung, sondern die Betroffenen erleben auch eine Verschlimmerung ihres Zustands. Die finanzielle Belastung für das Umfeld ist bedeutend, was wiederum den Druck auf die Mitarbeiter erhöht. Dieser Teufelskreis findet sich leider in vielen Berufen.

Im Gespräch mit verschiedenen Arbeitgebern habe ich dreierlei feststellen können.

❶ Bei den meisten heißt es, sie stellen dem Personal Ansprechpartner zur Verfügung, erfahrene Mitarbeiter (peer support), mit denen Betroffene über ihre Probleme sprechen können. Solche Ansprechpartner sind natürlich sehr nützlich, vor allem in der kritischen Phase direkt nach einem traumatischen Ereignis. Sie können aber keinesfalls die therapeutische Betreuung ersetzen, die von Fachleuten erbracht wird, welche sich gut mit der PTBS auskennen. Solche Ansprechpartner dienen den Arbeitgebern eigentlich nur als Ausrede. So können sie vorgeben, sich um ihre Mitarbeiter zu kümmern.

❷ Wenn ich mit Angestellten sprach, erwähnten die meisten Kollegen, die nach einem schlimmen traumatischen Erlebnis an Depressionen oder anderen Erkrankungen litten. Diese Kollegen waren angeblich bei ihrem Hausarzt in Behandlung. Das Problem war bekannt und schien relativ häufig vorzukommen. Doch diese Angestellten vertrauten sich mir nur an, weil sie wussten, dass ich nicht offiziell mit der Unternehmensleitung sprechen würde …

❸ Nach zahlreichen Gesprächen mit leitenden Mitarbeitern konnte ich feststellen, dass die Aussagen manchmal radikal voneinander abweichen. So kommt es zum Beispiel vor, dass die offizielle Abwesenheitsquote nicht dem entspricht, was man aus informellen Gesprächen mit den Angestellten heraushört, denn aufgrund unterschiedlich gehandhabter Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall ergibt es sich, dass die Fehltage nicht immer in den Statistiken auftauchen. Es kommt auch vor, dass solche Statistiken einfach nicht zur Verfügung stehen – nicht, weil der jeweilige Arbeitgeber das nicht will, sondern weil die Zahl der Mitarbeiter, die an einer PTBS erkrankt sind, einfach nicht bekannt ist.

Leider gilt auch im Beruf eine schnöde Wahrheit: Die Angestellten wissen sehr wohl um die Tatsache, dass sie bei ihrer Arbeit schwierige und potenziell traumatisierende Szenen erleben können, sie haben diesen Beruf aus freien Stücken gewählt und erhalten ein entsprechendes Gehalt. Der Arbeitgeber seinerseits ist für strukturelle Fehlfunktionen verantwortlich, nicht aber für die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit seiner Angestellten, von Arbeitsunfällen einmal abgesehen. Mit Ausnahme bestimmter Berufsgruppen wie Soldaten, die aus Kriegsgebieten zurückkehren, gilt eine PTBS nicht als Berufskrankheit. Ein Mitarbeiter einer humanitären Hilfsorganisation mag von einem Einsatz zurückkehren und Symptome zeigen, die auf eine PTBS hindeuten. Aber sein Arbeitgeber wird sich nicht für ihn verantwortlich fühlen, denn er ist der Ansicht, seine Krankheit sei eine Privatangelegenheit, und der Erkrankte müsse sich allein um sich kümmern. Daraufhin fühlen sich Betroffene natürlich isoliert, nicht anerkannt und im Stich gelassen. Und das verstärkt wiederum die spezifischen Symptome bei den Betroffenen zusätzlich.

Die Unkenntnis der Ärzteschaft

Wir haben bereits gesehen, dass die PTBS eine neue und folglich nicht gerade bekannte Krankheit ist. Das erklärt zum Teil, warum die Diagnose nicht häufig gestellt wird. Außerdem hat die Schulmedizin die ärgerliche Angewohnheit, nicht nach den für die Symptome verantwortlichen Ursachen zu forschen, sondern sich mit der Behandlung derselben zu begnügen. Sicher, wenn jemand verkündet, er sei Opfer eines Attentats oder als Soldat verletzt worden, wird eine PTBS erkannt. Aber es geht um Ursachen, die subtiler sind oder nicht so direkt mit den Symptomen zusammenhängen. Dann kommt es oft zu einer falschen Diagnose … Und dann wird der Patient auch falsch behandelt.

Psycho-traumatische Erkrankungen werden verkannt, unterschätzt und selten von der Ärzteschaft aufgespürt und richtig diagnostiziert. Letztere wurde nämlich während ihres Studiums nicht für diese Art Erkrankung geschult. Es handelt sich ja um spezifische Störungen; wer sie diagnostizieren will, bedarf genauer Kenntnisse der Zusammenhänge zwischen Trauma und Gedächtnis, die sich hauptsächlich in teilweise vagen Erinnerungen an die Gewalt zeigen, die das Opfer direkt oder indirekt erlebt hat. Sie können sehr weit zurückreichen, man denke nur an misshandelte Kinder.

In jedem Fall muss eine Behandlung so schnell wie möglich erfolgen, denn mit der Zeit tauchen mehr und mehr Symptome auf, es kommt zu immer mehr und immer hartnäckigeren Komplikationen. Die Folge davon ist, dass zum Beispiel Jugendliche Schwierigkeiten beim Lernen haben, verringerte kognitive Fähigkeiten, Probleme im sozialen Umfeld, ein erhöhtes Risiko, abhängig oder kriminell und erneut Opfer von Gewalt zu werden oder selbst darauf zurückzugreifen. All das erschwert ein Leben und führt zu Verletzungen und schwerwiegenden Benachteiligungen.

Ein wohlwollender, aber ahnungsloser Arzt mag aus bestimmten Symptomen gar auf eine psychotische Persönlichkeit schließen. Das führt zu einer irrigen Diagnose und absolut desaströsen Behandlungsmethoden. Nicht ungewöhnlich ist auch, bestimmte Reaktionen oder Verhaltensweisen eines Betroffenen zu verharmlosen: Der Arzt schreibt sie fälschlicherweise der Persönlichkeit zu oder der Tatsache, dass das Opfer eine schwierige Phase durchmacht, dass es sich vielleicht um einen hochsensiblen Menschen handelt, etc.

Ein weiterer Faktor spielt bei der geringen Zahl an PTBS-Diagnosen eine Rolle: Die bekannten Behandlungsmethoden wirken nicht, und das macht den behandelnden Arzt noch ratloser. Was tun, um dem Patienten zu helfen? Ihn zum Psychiater schicken, in der Hoffnung, dieser möge seinen seelischen Zustand verbessern? Ihm Arzneimittel verschreiben, damit er weniger Angst hat oder weniger Rückenschmerzen?

Ein letzter Punkt macht alles noch komplizierter: Der Patient möchte, dass es ihm so schnell wie möglich besser geht und er so wenig wie möglich leidet, und er möchte nicht einhundert Mal erklären müssen, was sein Problem ist. Er neigt also zu immer knapperen Aussagen, um schneller an die Behandlung zu kommen, die er für die wirksamste hält. „Ich schlafe schlecht, also brauche ich ein Schlafmittel“ – „Mir tun die Gelenke weh, also brauche ich Entzündungshemmer“ usw. In seinem Umfeld rät man ihm zu dieser und jener Therapie, weshalb er sie ausprobiert, ohne Erfolg. Da sich innerhalb kurzer Zeit keine Besserung einstellt, gibt er auf. Vertraut er sich seinem Arzt an, meint dieser, einen Medizintouristen vor sich zu haben, der alles ohne große Überzeugung ausprobiert. Natürlich neigt er dazu, ihn nicht allzu ernst zu nehmen.

Die Unkenntnis der Öffentlichkeit

Es gibt noch einen letzten Faktor, um die wenigen PTBS-Diagnosen zu erklären: Die breite Öffentlichkeit hat keine Kenntnis von diesem komplexen Krankheitsbild. Die Medien fangen gerade erst an, sich für die PTBS zu interessieren, vor allem aufgrund der terroristischen Anschläge, die verschiedene Teile der Welt erschüttert haben: Amerika, Europa, Afrika, Russland, Asien und den Mittleren Osten. Sind diese tragischen Ereignisse noch frisch, werden sie ausführlich abgehandelt. Man konstatiert aber auch eine gewisse Zurückhaltung, wenn es darum geht, über bestimmte Tatsachen zu sprechen, die oft Monate oder gar Jahre nach diesen Ereignissen auftauchen: Dann ist es ja nicht mehr aktuell, und man braucht viel mehr Fingerspitzengefühl. Manche Medien rühren auch nicht gern an eine düstere Vergangenheit. Sie finden, dass man nach vorn blicken sollte, um die Bevölkerung nicht zu traumatisieren. Dieses Argument leuchtet aber nicht ein, denn schließlich ist die Bevölkerung ja bereits traumatisiert.

Nach den New Yorker Anschlägen von 2001 haben verschiedene Studien gezeigt, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung an Schlafstörungen litt und Angststörungen entwickelt hatte. Es scheint mir doch wichtig, dass die Medien ihre Rolle spielen, um die Situation zu entspannen. Sie sollten ihre Leser, Hörer oder Zuschauer über die Tatsache aufklären, dass es in Folge eines direkt oder indirekt erlebten Traumas zu solchen Erscheinungen kommen kann. Viel zu viele Medien verschweigen die Informationen, die sie erhalten, und zwar aus Gründen, die für sie stichhaltig, in meinen Augen aber nicht zielführend sind. Wie viele Polizisten oder Notärzte werden krankgeschrieben und müssen sich behandeln lassen, nachdem sie ein Attentat oder dessen Folgen erlebt haben? Was tut man für sie? Wie wird ihnen geholfen? Sind sie wieder in den Beruf zurückgekehrt?

All diese Fragen könnten einer breiten Öffentlichkeit helfen, sich die reale Existenz der PTBS vor Augen zu führen. Es ist notwendig, sich damit zu beschäftigen, damit konkrete Taten angestoßen werden, die den Opfern helfen. Das würde natürlich Geld kosten, aber mittelfristig könnten auch große Summen eingespart werden. Denken wir nur an den Rückgang der Fehltage …

Das Ende des Tunnels

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