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Kapitel 3

Die drei möglichen Reaktionen auf ein traumatisches Ereignis


Es ist wichtig, genau zu entschlüsseln, was vor sich geht, wenn ein Mensch einem traumatischen Ereignis ausgesetzt ist, sei es nun eine Naturkatastrophe oder ein zwischenmenschlicher Vorfall. Der Behandlungserfolg hängt nämlich von dem genauen Verständnis der Mechanismen ab.

Im Angesicht einer Gefahr reagieren Menschen und Tiere gleich; es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen. Drei Arten zu reagieren sind möglich:

❶ Angriff

❷ Flucht

❸ Schockstarre

Diese Reaktionen sind nicht erlernt oder erworben, sondern angeboren, sie erfolgen automatisch. Das analytische Gehirn (der Neocortex) spielt in diesem entscheidenden Moment überhaupt keine Rolle. Es ist wichtig, das hervorzuheben. Die Auswahl zwischen diesen drei Reaktionen findet also nicht auf der Grundlage einer Analyse oder eines Denkvorgangs statt; sie ist ein reiner Reflex.

Betroffene können zwei der Reaktionen zeigen. So kann man zuerst die Flucht ergreifen und in Schockstarre verfallen, sobald man spürt, dass Ersteres nicht weiterführt. Oder jemand geht zum Angriff über und erstarrt dann. Angriff und Flucht sind bekannte Reaktionen, die Schockstarre ist weit weniger bekannt.

Peter A. Levine bringt die Situation, in der sich ein Opfer gegenüber einem Angreifer wiederfindet, sehr gut auf den Punkt:

„Bei primitiven und universellen Verteidigungsmethoden spricht man von ‚Flucht- und Angriffsstrategien‘. Sie geschehen reflexhaft … Wenn Flucht oder Angriff die Sicherheit des Tieres nicht länger gewährleisten können, gibt es eine weitere Verteidigungsstrategie: das Nicht-Bewegen (Schockstarre), das genauso universell und essenziell für das Überleben ist. Aus unerklärlichen Gründen wird weder in biologischen noch in psychologischen Abhandlungen groß über diese Verteidigungsstrategie gesprochen. Sie ist genauso wirksam wie die beiden anderen und kann sich in vielen Situationen sogar als bessere Wahl erweisen. Auf biologischer Ebene ist Erfolg nicht gleichbedeutend mit Gewinnen, sondern mit Überleben, egal wie. Die Natur fällt kein Urteil über die gewählte Strategie. Kein Tier und auch kein Mensch kann bewusst kontrollieren, ob man angesichts der Bedrohung in Schockstarre fällt oder nicht.“11

Angriff und Flucht

Was geht im Körper eines Menschen vor sich, der ein Trauma erlebt? In Sekundenbruchteilen laufen eine ganze Reihe von Reaktionen simultan ab. Nehmen wir als Beispiel ein plötzlich auftretendes Geräusch: Der Kopf dreht sich in die Richtung, aus der es kommt; das Gehör wird in Alarmbereitschaft versetzt; die Muskeln in den Extremitäten und im Rücken werden angespannt; Adrenalin wird ausgeschüttet und führt zu erhöhter Blutzufuhr in den unteren und oberen Extremitäten (so wird der Mensch darauf vorbereitet, zu fliehen oder anzugreifen); die Verdauung wird eingestellt, da sie jetzt ein zweitrangiger Vorgang ist; in der Bauchspeicheldrüse wird mehr Insulin produziert (denn davon hängt die erhöhte Nährstoffausschüttung ab, um den Körper mit der Energie zu versorgen, die er zum Handeln benötigt); der Puls steigt, der Blutdruck geht nach oben.

All das geschieht sehr schnell, diese Abläufe können im Labor nicht nachgestellt werden. Injiziert man zum Beispiel Adrenalin in den Körper, kann nicht nur die Gleichzeitigkeit der Vorgänge nicht reproduziert werden, sondern die injizierte Dosis wäre zu groß und würde zu einer Art Tetanie und dadurch zum Tod führen. Man kommt nicht umhin anzuerkennen, dass der menschliche Körper perfekt darauf ausgerichtet ist, ohne Hilfe des Gehirns zu reagieren. Er häuft Energie an, um zu fliehen, anzugreifen oder – falls das nicht möglich ist – in Schockstarre zu verfallen.

Im selben Augenblick fokussiert sich die Wahrnehmung, die ein jeder von seiner Umgebung hat, um die ganze Aufmerksamkeit auf die Gefahr zu richten. Der Betroffene ist voll und ganz im Hier und Jetzt; all seine Sinne sind geschärft, was ihm erlaubt, seine Umgebung mit einem Maximum an Schärfe wahrzunehmen. Sein angeborenes Wissen (und nicht Vernunft oder Denkkraft) diktiert ihm, was er tun kann, um der Gefahr so gut wie möglich zu entkommen, um seine Haut zu retten und die Risiken zu begrenzen. In diesem Moment ist er frei von Angst; ihm stehen maximale Aufmerksamkeit und eine große Energiemenge zur Verfügung. Gleichzeitig verspürt dieser Jemand Emotionen, vor allem eine große Wut, die umso stärker ist, je unmöglicher es wird, sie rauszulassen – dadurch würde man sein Leben ja noch mehr gefährden. So kommt es gleichzeitig zu einer übermäßigen Aktivierung und einer Verengung.12

Ich habe drei Absätze gebraucht, um zu beschreiben, was blitzschnell im Körper und im Kopf eines Menschen abläuft. Das in den drei Absätzen Beschriebene – und das möchte ich noch einmal betonen – dauert nicht länger als ein Schnipsen mit den Fingern! Ein Sekundenbruchteil genügt, damit ein Mensch zur Tat schreitet, also angreift, flüchtet oder vor Schreck erstarrt.

Angriff und Flucht setzen einen guten Teil der verfügbaren Energie frei, was es dem Opfer erlaubt, sein Leben zu retten. Während des Angriffs oder der Flucht empfindet ein Mensch keinerlei Angst, er ist total in den Moment eingebunden. Jeder hat schon einmal von Menschen gehört, die unglaubliche Lasten hochstemmen, um ihr Leben rennen oder Hindernisse überwinden, die sie unter normalen Umständen nicht bewältigen würden. Im Nachhinein sind sie oft selbst davon überrascht. Dann wird ihnen klar, dass sie über zahlreiche Fähigkeiten verfügen, von denen sie gar nichts wussten. Sie machen sich bewusst, wie viel Energie sie angesichts solcher Bedrohungen mobilisieren können.

Die Schockstarre

Neben Angriff und Flucht gibt es eine dritte Möglichkeit, die einem Betroffenen das Leben retten und die Schäden angesichts eines traumatischen Ereignisses begrenzen kann: erstarren. Diese automatische Abwehrreaktion führt zu einer Art Lähmung, die teilweise oder total ist. Noch einmal: Der Betroffene verspürt im Moment des Geschehens keinerlei Angst, da er komplett im Hier und Jetzt ist und all seine Sinne maximal geschärft sind.

Es kommt vor, dass bestimmte Menschen sich alles vonseiten des Aggressors gefallen lassen und keinerlei Widerstand zeigen. Bei anderen geht es sogar so weit, dass sie körperlich nichts fühlen und manchmal aus sich heraustreten, das heißt, sie sehen ihrem Tun oder dem des Aggressors zu, als seien sie nicht mehr im eigenen Körper. Wieder andere reden, um den Aggressor zu beruhigen. Fachsprachlich wird so etwas Dissoziation genannt. Sie bewirkt, dass das Nervensystem vergleichbar ruhig bleibt, damit das Phänomen der Verengung nicht in Gang kommt. Tritt ein lebensbedrohliches Ereignis ein, schützt die Dissoziation vor Todesangst. In ihrer leichtesten Form äußert sie sich als eine Art von Distanzierung. Im schlimmsten Fall kann sie zu einer Persönlichkeitsspaltung führen. Sie führt immer zu einer Verzerrung der Zeit und der Wahrnehmung. Die Dissoziation ist ein subtiler Abwehrmechanismus, der von Opfern immer wieder und mit dem Ziel angewendet wird, eine traumatische Erfahrung zu überleben, die das Erträgliche übersteigt. Menschen, die in ihrer Kindheit geschlagen wurden, gelingt es mithilfe der Dissoziation, Schläge nicht mehr zu spüren. Die Dissoziation ist dann eine Art spontaner Schutz und eine Überlebensstrategie.

Die Schockstarre ist eine Handlung, die man automatisch vollzieht, genau wie Flucht oder Angriff. In den Augen eines Beobachters sieht das Ganze vielleicht eher nach einem Nicht-Handeln aus. Man hat den Eindruck, der Betroffene unterwirft sich oder akzeptiert die Aggression. Dabei ist das überhaupt nicht der Fall! Eine solche Wahrnehmung erklärt aber, warum Menschen, die erstarrt sind, sich ihre Reaktion allzu häufig im Nachhinein vorwerfen oder – was noch schlimmer ist – von ihrem Umfeld oder bestimmten Therapeuten Vorwürfe zu hören bekommen.

Die meisten Menschen sehen in Flucht und Angriff logische und rationale Entscheidungen, während die Schockstarre unlogisch und irrationell erscheint. Diese Urteile entbehren jeder Grundlage und kommen von Menschen, die nichts über die Mechanismen wissen, welche beim Menschen die Reaktion auf ein traumatisches Ereignis regeln.

Nehmen wir das Beispiel einer Person, der eine Vergewaltigung droht. Im Moment der Gefahr empfindet sie keinerlei Angst. Sie ist ganz im Hier und Jetzt, hellwach, voll einsatzbereit. Sie ist nicht in der Zukunft, denkt nicht rückblickend an ihre Ängste und weilt nicht in der Vergangenheit, um sich zu fragen, was sie getan haben könnte, um sich in dieser Situation wiederzufinden. Sie ist da, voll und ganz da. Im Bruchteil einer Sekunde begreift sie, dass weder Flucht noch Angriff möglich sind, um ihr Überleben sicherzustellen. Ihr bleibt eine dritte Möglichkeit: erstarren, wie gelähmt innehalten. Diese Entscheidung geschieht nicht willentlich, sie drängt sich ihr ganz selbstverständlich auf, um ihr zu ermöglichen, die eigene Haut zu retten. In diesem Moment ist die Schockstarre die geeignetste Reaktion, um die Vergewaltigung mit einem Minimum an Schaden zu ertragen, sowohl in körperlicher als auch in psychischer Hinsicht. Dieser ganze Prozess läuft automatisch und rein instinktiv ab. Das Erstarren drängt sich unter diesen Umständen förmlich als sinnvollste Reaktion auf. Sie ermöglicht es dem betroffenen Menschen, so wenig wie möglich zu leiden. Jedes Opfer von körperlicher Gewalt, das mit Schockstarre reagiert hat, kann das bezeugen.

Auch emotional erstarrt man

Verfällt ein Mensch in Schockstarre, blockiert er alle zur Verfügung stehende Energie und kann sie weder teilweise noch ganz freisetzen, wie das bei jemandem ist, der flieht oder angreift. Das erstarrte Opfer steht also nach dem traumatischen Ereignis mit der festgesetzten, blockierten Energie da und riskiert so, allerlei Komplikationen davonzutragen, von denen wir später sprechen werden.

Was verspürt das Opfer während des Übergriffs, egal, welche automatische Reaktion sich ihm aufdrängt? Meistens oder sogar immer empfindet es ein starkes Gefühl der Erniedrigung, das absolut nicht mit dem vergleichbar ist, was man im Alltag verspürt, wenn man uns herabsetzt. Dieses Gefühl ist widerlich und furchtbar destruktiv, denn es kommt von der Ohnmacht des Opfers gegenüber dem Aggressor, davon, dass es ihm ausgeliefert ist, während der andere die Macht hat. Das Opfer wird zum Spielball, mit dem der Aggressor sich amüsieren und den er all seinen Launen unterwerfen kann, ohne dass eine Reaktion möglich wäre. Die Erniedrigung ist bei Opfern, die erstarren, noch ausgeprägter; sie prägt sich sehr tief ein. Welche durch die Erniedrigung hervorgebrachte Emotion verbirgt sich letztendlich hinter dieser Schockstarre? Eine enorme, kolossale, riesige Wut, die in der Regel nicht zum Ausdruck gebracht, nicht ausgelebt und nicht gezeigt wird. Mit anderen Worten: Auch sie erstarrt im Innern der Betroffenen.

Es mag überraschen, dass die Opfer bei und nach dem traumatischen Ereignis Wut empfinden und nicht Angst oder Kummer. In der Tat tritt keine Angst auf, denn der Betroffene konzentriert sich ganz auf den Augenblick, das haben wir gesehen. Angesichts des Aggressors empfindet das Opfer keine Traurigkeit, sondern heftigen Zorn, eine unbändige Wut und das starke Verlangen, ihm die Macht zu nehmen, die er über das Opfer hat.

Alle Opfer von Gewalt und alle Menschen, die ein traumatisches Ereignis durchlebt haben, reagieren nach den in diesem Kapitel beschriebenen Mechanismen.

Wie aber sieht es bei Menschen aus, die von Berufs wegen regelmäßig traumatische Szenen miterleben müssen?

Es ist natürlich und angeboren, dass auch sie genau auf die gleiche Art reagieren wie Normalsterbliche. In Ausübung ihres Berufs haben sie allerdings gelernt, ruhig und professionell zu reagieren. Flucht und Angriff sind keine Optionen (abgesehen von der besonderen Situation eines Soldaten). Sie müssen vor allem eine gewisse Effizienz anstreben. So wird einem Soldaten beigebracht, wie er angesichts einer Gefahr reagieren soll, einem Feuerwehrmann, welche Handlungen genau er auszuführen hat, und einem Ersthelfer oder Notarzt wird beigebracht, wie er einem Verletzten helfen kann. Mit anderen Worten: Im Beruf „erstarrt“ man auf antrainierte Art und Weise. Ein Teil der Wut, welche durch die Taten, die sie bezeugen, ausgelöst wird, bleibt auch in ihnen eingeschlossen, aber das geht nicht so tief wie bei einem Opfer, das erstarrt. Schließlich bringt die Tatsache, dass man handelt, die zur Verfügung stehende Energie wieder in Bewegung. Nichtsdestotrotz bleibt ein Rest Energie – ein Rest Wut – auch bei solchen Personen stecken. Und diese Reste sammeln sich an, werden mehr – wie bei einem Schneeball, den man rollt.

Auch solche Profis haben Emotionen, schließlich handelt es sich um Menschen. In der Ausbildung bringt man ihnen bei, dass Emotionen im Einsatz nicht gezeigt werden dürfen. Das ist vollkommen normal, denn sie sollen ihre Aufgaben ja so gut wie möglich erfüllen. Dafür wurden sie ausgebildet, dafür werden sie bezahlt. Folglich müssen auch sie diese Emotionen im Einsatz verdrängen, denn dann müssen sie funktionieren. Sie begeben sich freiwillig in die gleiche Situation wie die Opfer, die ein traumatisches Ereignis durchstehen mussten. Die Erniedrigung, von der weiter oben bereits die Rede war, ist hier nicht so ausgeprägt, aber die Empörung, die Wut und der Abscheu, die durch die Erlebnisse ausgelöst werden, stecken in ihnen fest, sie erstarren in ihnen.

Das gleiche Phänomen tritt im Tierreich auf. Wird ein Tier von einem Raubtier verfolgt, flieht es Haken schlagend, um der Bedrohung zu entkommen. Wird es aber zu Boden geworfen, verhält es sich reglos und stellt sich tot: Es erstarrt. Dank dieser Haltung spürt es entweder nichts, falls das Raubtier es zu Nahrungszwecken tötet, oder es profitiert von der Tatsache, dass der Räuber es für tot hält und beschließt, ein weiteres Tier zu jagen, bevor er zurückkommt, um es zu fressen. Tritt dieser Fall ein, erhebt das Tier sich zitternd und läuft taumelnd und ungeschickt davon. Und was tut es, sobald es außer Gefahr ist? Es schüttelt sich am ganzen Körper. Diese Handlung führt zum sofortigen und kompletten Verschwinden des Zitterns, das Tier findet wieder zu seinen normalen Bewegungen zurück. So kehrt es aus dem Zustand der Schockstarre zurück in den Normalzustand, in dem ihm all seine Fähigkeiten wieder zur Verfügung stehen, als sei nichts geschehen. Dieses Schütteln ist entscheidend, um vom einen Zustand in den anderen zu gelangen; Tiere machen das ganz automatisch und instinktiv.

Die PTBS „abschütteln“?

Wie den Mechanismus auf den Menschen übertragen, der es den Tieren erlaubt, nach einem Angriff wieder einen Zustand des Wohlbefindens zu erreichen? Wie es anstellen, dass auch ein Mensch so etwas „abschüttelt“ oder – mit anderen Worten – die Energie freisetzt, die nach dem Trauma in seinem Körper eingesperrt ist? Denn ist nicht diese festsitzende Energie die Ursache für die Symptome der PTBS? Außerdem können die starken Emotionen wie Wut, Ohnmacht und Erniedrigung, die im Augenblick des traumatischen Ereignisses unterdrückt werden, zur Ursache zahlreicher Leiden auf körperlicher und seelischer Ebene werden. Damit es zur gewünschten kompletten Genesung kommt, müssen Menschen, die an einer PTBS leiden, diese „körperlich wie auch emotional abschütteln“.

Wie das funktioniert, wollen wir im zweiten Teil des Buches genauer zeigen.

Das Ende des Tunnels

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