Читать книгу Scriptor Praxis: Der Dialog als Schlüssel für guten Unterricht - Dr. Monika Wilkening - Страница 6

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1 Einleitung: Der Dialog mit den Schülerinnen und Schülern als Herausforderung

Seit der ersten PISA-Studie 2000 wurden verstärkt Verfahren zur Qualitätssicherung entwickelt. Die ab 2002 formulierten Bildungsstandards orientieren sich an Kompetenzen, die festlegen, über welche fachlichen und überfachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten die Lernenden zu bestimmten Zeitpunkten verfügen sollen. Über Inhalte hinaus werden methodische Strategien zum Erwerb und zur Anwendung des Wissens wichtig; Lernende üben auch personale und soziale Dispositionen, Einstellungen und Haltungen ein. Alle Kompetenzen helfen dabei, aktuelle Anforderungssituationen zu bewältigen, und fördern gleichzeitig die lebenslange Fähigkeit und Motivation, sich neuen Situationen auszusetzen und dadurch zu lernen.

Die dafür nötige „umfassende Persönlichkeitsbildung“ erhält in der PISA-Studie aus dem Jahr 2018 erstmals einen hohen Stellenwert. Auch das Thema „Wohlbefinden“ wurde in der Studie 2018 wesentlich auf Jugendliche und junge Erwachsene bezogen. Neu ist ebenfalls die Domäne „globale Kompetenz“: Dabei sind „Kommunikation und Teamfähigkeit“ soziale Kompetenzen, „Offenheit und Flexibilität“ und „emotionale Stärke und Selbstregulierung“ wiederum personale Kompetenzen. Diese drei von vier globalen Dimensionen liegen effektiven Gesprächen zugrunde.

Überfachliche Kompetenzen, insbesondere personale Kompetenzen, sind schwer zu fördern. Die Schule kann den Lernenden lediglich Gelegenheit bieten, eigenverantwortliches Handeln aktiv selbst zu regulieren und eigene Potenziale weiterzuentwickeln. Dafür ist es notwendig, mit den Lernenden entsprechende Verfahren einzuüben, durch die sie ihre Lernprozesse selbst steuern und reflektieren können. Ein zentrales Verfahren sind gute Gespräche beim und über das Lernen. Beide Ebenen sind Themen dieses Buches und eng miteinander verwoben.

Viele Lernende meinen, die Unterrichtsgespräche seien bereits gut.

Aus der Praxis: Betrachten wir die Analyse meiner Umfrageergebnisse dazu.1 Die Schüler/-innen sind keinesfalls der Ansicht, dass im Unterricht zu wenige Gespräche stattfinden (Schulnote 4,5), aber sie nehmen nur mittelmäßig gern selbst an diesen teil (Schulnote 2,37) und haben Schwierigkeiten auszudrücken, was sie möchten (Schulnote 2,5) bzw. ihre Lernbedürfnisse zu formulieren (Schulnote 2,75).

Es gilt also einerseits, die Gründe für diese Zurückhaltung herauszufinden sowie die persönlichen und sozialen Gesprächskompetenzen der Lernenden zu fördern. Andererseits sollten methodische Strategien angeboten werden (Instrumente und Aktivitäten), die gezielter zur aktiven Teilnahme und Gestaltung der Gespräche motivieren.

Von diesen allgemeinen Fragen ausgehend möchten wir herausfinden, ob die Gespräche im Unterricht wirklich Lernprozesse anstoßen. Und warum erscheint es so schwer, solche Gespräche zwischen Lehrenden und Lernenden und zwischen den Schüler/-innen untereinander umzusetzen?

Hier werden Inhalte und Verfahren eng miteinander verknüpft: Warum ist das Hauptanliegen von Schule, das Lernen, so selten Thema, warum geht es so selten um das Wie? Der neuseeländische Bildungsforscher Hattie kritisiert: „Weder die Lehrpersonen noch die Lernenden [reden] über das Lernen, obwohl die Unterrichtsaktivität eigentlich Lernen produzieren sollte.“2

Unsere Lernenden denken bereits über Schule und Unterricht nach. Doch bedeutet dies, dass der effektive Kompetenzerwerb anhand von Inhalten im Zentrum ihrer Gedanken und Bestrebungen steht? Wohl kaum, orientieren sie sich doch aufgrund ihrer Sozialisierung eher an Leistung und Bewertung.

Zum Ersten ist es verständlich, dass sich die Eltern um die Zukunft ihrer Kinder sorgen und die Qualität der Ausbildung anhand der Notengebung beurteilen. Schließlich sollen die Kinder später gute Chancen haben. Mit dieser Prägung betreten die Lernenden dann die Schule. Es ist daher kein Wunder, dass sich viele von ihnen eher auf das durch Noten ausgewiesene, erfolgreiche Ergebnis konzentrieren und weniger Aufmerksamkeit auf das Lernen selbst und das Nachdenken über Lernprozesse richten. Dies führt dazu, dass viele gute Schüler/-innen nach Lob und Erfolg streben, während Schwächere eher an Selbstvertrauen verlieren und unter steigenden psychischen Belastungen leiden. Earl spricht davon, dass wir uns bemühen sollten, die Sozialisation unserer Schüler/-innen „umzukehren“3, indem wir „das Lernen“ thematisieren.

Zum Zweiten ist Lernen kognitiv anspruchsvoll und anstrengend. Sind die Lernenden hierzu bereit? Verfügen sie über ausreichend soziale und methodische Kompetenzen, um sich mit anderen gewinnbringend über ihre Lernprozesse auszutauschen? – Und drittens: Haben sie die persönliche Stärke, sich mit Rückmeldungen zu ihrem eigenen Lernen offen und ehrlich auseinanderzusetzen, sei es im Selbstfeedback, im Dialog mit Lehrenden oder im Dialog mit Mitlernenden? Es könnte nämlich auch manchmal schmerzhaft werden … Aus diesem Grunde beginnt dieses Buch mit zen­tralen Kapiteln zu den Voraussetzungen eines erfolgreichen Dialogs: den Lernhaltungen und -einstellungen.

Auch für uns Lehrende ist dies eine große Herausforderung: Wir motivieren immer wieder zum Dialog im Unterricht und zum metakognitiven Dialog, die beide das „Lernen“ zum Thema haben. Wir leiten die Lernenden an, das große Angebot an Feedbackinstrumenten gewinnbringend zu nutzen, und wir lernen alle aus Feedback. Aufgrund unserer professionellen Überzeugung und Verpflichtung gibt es nur diese eine Richtung, in die wir gemeinsam mit unseren Lernenden gehen können.

Wir bemühen uns, mit unseren Lernenden einen effektiven Dialog zu üben; deshalb benötigen wir Impulse und Beispiele. Aus der Praxis für die Praxis werden im vorliegenden Band verschiedene Verfahren beleuchtet, mit denen wir guten Dialog in unserem Unterricht noch weiter verbessern können. Wenn dies gelingt, kann dadurch auch das Lernen verbessert werden.

Backwash-Effekte, das heißt der Einfluss, welchen ein künftiges Ergebnis auf den Prozess hat, können den Dialog unterstützen. Jedes verbal oder nonverbal begleitete Handeln eines Menschen im täglichen Leben hat in Bezug auf seine Umgebung einen Backwash-Effekt zur Folge. So schätzen etwa Lernende eine Handlung oder ein Thema als wichtig ein, wenn die Lehrkraft Zeit und Aufmerksamkeit darauf verwendet.4

Aus der Praxis: zunächst einige Negativbeispiele:Eine Referendarin verteilt Süßigkeiten an diejenigen, die sich beteiligen. Die Mitarbeit ist gut. Als sie eines Tages keine Süßigkeiten dabei hat, macht niemand mehr mit …Ein Lehrer lässt die Seiten aus dem Lehrbuch auswendig lernen und vergibt für das richtige Aufsagen gute mündliche Noten. Alle bemühen sich, den Wortlaut korrekt zu lernen. In der folgenden Klassenarbeit jedoch können die Lernenden die inhaltlichen Fragen gar nicht beantworten …Ein Lehrer beschäftigt sich anderweitig, während seine Lernenden Aufgaben bearbeiten. Sie schließen daraus, dass diese nicht wichtig sind.5

In diesen Extrembeispielen werden den Lernenden „falsche“ Signale gegeben, die mit Lernen nichts zu tun haben.

Aber auch Lernen und Nachdenken über Lernprozesse kann misslingen, selbst wenn man Zeit dafür einräumt.

Zunächst ein Beispiel zum Online-Lernen in Pandemiezeiten: Zusätzlich zu den Aufgaben und Arbeitsmaterialien, die ich meinen Abiturientinnen und Abiturienten wöchentlich für ihre letzten Vorbereitungen schicke, bitte ich sie, einen Text von 100 (!) Wörtern zu schreiben und mir zurückzusenden. Die Hälfte der Lernenden leistet dem Folge. (Hintergrund: Das Kultusministerium hat verfügt, dass die „Hausaufgaben“ nicht notenrelevant sind.) – Interessieren sich zumindest diese wenigen Schüler/-innen für meine unterstützenden Hinweise?Weitere Beispiele aus der Praxis: Nachdenken über Lernen: Lernende sollen sich selbst einschätzen. Der Katalog mit Erfolgskriterien aus der Lerneinheit liegt ihnen vor. Sie kreuzen an allen Stellen „sehr gut verstanden“ an.Beim Partnerfeedback erhält ein sehr beliebter Mitschüler auf seine nach den allseits bekannten Kriterien sehr schlechte Präsentation überwiegend 14 und 15 Punkte …

Wir sehen: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Feedback und Backwash-Effekt. Letzterer muss von uns daher in allen Phasen der Planung, Durchführung und Rückmeldung intensiv gelenkt werden. Auf diese Weise können gute Gespräche beim und über das Lernen stattfinden, und zwar zwischen allen Beteiligten: Lehrkraft – Lernende, Lernende – Mitlernende, Lernende „mit sich selbst“, Metareflexionen. Dadurch können wir das individuelle Lernen so verbessern, dass Lernende positive Erfahrungen damit machen. Ein Motivationsschub beflügelt sie, sich bereitwillig auf die nächste Lern- und Reflexionsrunde einzulassen.

Dieses Lernen ist Teil eines Prozesses und wird auch in der Reflexion prozessorientiert gesehen: Es geht um die Effektivität aller Aktivitäten, die zum Etappenziel (zur jeweiligen Lernaufgabe) hinleiten. Im Gegensatz zur summativen Haltung, die sich auf die Benotung am Ende des jeweiligen Lernprozesses konzentriert, nennt Wiliam diese Lehrhaltungen „formative assessment“ oder „assessment for learning“.6 Dabei bedeutet „assessment“ nicht unbedingt „Leistung“, sondern „Einschätzung, Auswertung u. v. m.“.

Den Unterschied zwischen der formativen und der summativen Haltung kann man sich durch Bilder vor Augen führen: „Formativ“ bedeutet, das Lernen, d. h. den gesamten (lebenden) Prozess, im Spiegel anzuschauen; dieses Lernen kann man optimieren, insofern ist es zukunftsorientiert. Nimmt man eine summative Haltung ein, so macht man sich ein Bild vom Lernergebnis; da dieses nicht mehr optimiert werden kann, orientiert sich eine solche Haltung an der Vergangenheit.

Häufig wird „assessment for learning“ falsch verstanden. Wiliam erklärt: „Afl is about better teaching.“ 7 Es geht also um die gesamte Lehrhaltung, um ein Lehr-Lernkonzept. Aus diesem Grunde betrachtet dieses Buch nicht „nur“ gute Gespräche im Unterricht im engeren Sinne (Teil 3), sondern setzt mit den Voraussetzungen einen Schritt früher an, denn dadurch kann erst ein umfassendes Lehr-Lernkonzept entstehen. (Teil 2).

Und selbst wenn das Programm Ihrer Schule / Ihres Bundeslandes sehr auf summatives Arbeiten abzielt, können Sie dennoch Voraussetzungen für „gute Gespräche“ schaffen und in Ihrem Unterricht formative Techniken anwenden.8 Interaktive Formen sind dafür besonders geeignet.

Die theoretischen Überlegungen zu „gutem Unterricht“ von Meyer 2004, Helmke 2005 und Hattie 2009 (der sich nicht in einem Kriterienkatalog dazu äußert) beziehen sich ebenfalls in allen Aspekten auf Gespräche beim und über das Lernen. Die wesentlichen Punkte werden hier zusammengestellt. Auch für Gespräche ist erforderlich, dass Lernende ihr Lernen aktiv und selbstständig steuern können (Helmke) und an ihrem Lernprozess partizipieren dürfen (Hattie).

Dies können Lehrende durch folgende Verfahrensweisen besonders gut erreichen:

Freude und Mut zur Innovation und „Anstecken“ der Lernenden (Hattie)Gestaltung eines lernförderlichen Klimas (Helmke, Meyer); Stärkung einer guten Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernenden, unter anderem durch gegenseitiges Zuhören (Hattie)effiziente Nutzung der Lernzeit (Helmke, Meyer), Klassenführung (Helmke), Vorbereitung der Lernumgebung (Meyer)bewusste Steuerung der Strukturiertheit, Klarheit, Verständlichkeit (Hattie, Helmke, Meyer)Schülerorientierung, Motivation, Vielfältigkeit (Helmke); „mit den Augen der Lernenden gestalten“ (Hattie)Abwechslungsreichtum der Methoden (Helmke, Meyer) und Sozialformen (Helmke)individuelle Förderung (Helmke, Meyer)transparente Leistungserwartungen (Helmke), die ziel-, wirkungs- und kompetenzorientiert sind (Helmke) und ständig Lernstände erheben (Hattie)Üungen, Wiederholungen, Sicherungen (Hattie, Helmke, Meyer); auch Lernen anhand sozialer Beispiele (Hattie)Feedback an und von der Lehrkraft, an „sich selbst“, an Mitlernende; Metakognition (Hattie)

Daraus entwickelt sich sinnstiftende Kommunikation im Unterricht (Meyer).

Hattie zeichnet einen ganzen „Weg guten Lernens“ 9 auf, den die Lehrkraft gestalten soll. Er bezieht auch viele nicht-kognitive Faktoren ein.

Das Gegenstück guten Unterrichts (und damit auch guter Gespräche) haben Studierende meines Hauptseminars Fachdidaktik Englisch zusammengestellt und im Plenum erörtert. Die folgende Abbildung fasst die Ergebnisse zusammen.


Abb. 1

An den Aussagen von Lernexperten, die ich hier exemplarisch vorgestellt habe, zeigt sich deutlich, dass Lernen auch maßgeblich von nicht-kognitiven Faktoren abhängt. PISA 2018 wiederum hat den Lernenden viele Fragen hierzu gestellt. Die von diesen Fragen angesprochenen Lerneinstellungen und -überzeugungen, Leistungsziele und Motivatoren10 liegen auch Gesprächen beim und über das Lernen zugrunde; deshalb werden sie – unter Hinzuziehung relevanter Lerntheorien – im nächsten Kapitel ebenfalls angesprochen.

Scriptor Praxis: Der Dialog als Schlüssel für guten Unterricht

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