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Vorwort

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Die Welt ist klein geworden. In wenigen Stunden kann man von einem Ende zum anderen fliegen, und täglich hören wir Nachrichten aus fernen Ländern. Aber auch in unserem Alltag leben und arbeiten viele Menschen aus allen Erdteilen unter uns. Auch sie verstehen wir oft nicht richtig.

Dieses Buch ist eine Übung im Verstehen. Es soll Ihnen Menschen aus einer anderen Kultur und einer anderen Zeit nahebringen: was sie taten und mehr noch wie sie dachten. Und wie spannend und aufregend es sein kann, sie verstehen zu lernen. Doch am Ende werden Sie sehen: so unterschiedlich wir sind, wir sind uns doch alle als Menschen sehr ähnlich.

Haben Sie Lust darauf? Sind Sie neugierig auf ferne Zeiten und fremde Kulturen? Dann kommen Sie, ich nehme Sie mit! Wohin? - Erinnern Sie sich an Afghanistan? Dahin soll es gehen. Nur hieß es damals noch nicht Afghanistan. Denn wir reisen zusammen ins 11. Jahrhundert und lernen dort einen außergewöhnlichen persischen Geschichtsschreiber kennen. Er lebte und arbeitete am Hof der Dynastie der Ghaznaviden (977-1186), die zu dieser Zeit über das heutige Afghanistan, aber auch über große Teile Irans, Teile des heutigen Turkmenistan, Tadschikistan, Pakistan und Nordindien herrschte. Der Name dieses Geschichtsschreibers ist Abo l-Fazl-e Beyhaqî, aber ich nenne ihn Bo l-Fazl. So nennt er sich in seinem Geschichtswerk nämlich selbst.

Dieses Geschichtswerk fasziniert mich schon seit achtzehn Jahren. Denn Bo l-Fazl hat sich ebenso sehr für Menschen interessiert wie ich. Deshalb stellt er uns viele seiner Zeitgenossen ausführlicher vor, als es irgendein anderer Geschichtsschreiber seiner Zeit getan hat: ihre Handlungen, ihre Aussprüche, ihre Persönlichkeit, manchmal auch ihre Beweggründe und Ziele. Bo l-Fazl erzählt uns zwar nicht alles, was wir von Geschichtswerken gern wissen möchten, denn er war ein Kind seiner Zeit – also denkbar weit von uns entfernt. Trotzdem erzählt er uns Dinge, die uns wirklich interessieren: wie die Menschen seiner Zeit dachten und fühlten, was sie antrieb und zerstörte. Denn er fand die Beobachtung anderer Menschen wichtig, um sich selbst zu verstehen. Dabei wollte er seinen Lesern helfen, indem er seine Beobachtungen über seine Mitmenschen aufschrieb. Jedenfalls sieht das einer der Forscher so (Kazemi, S. 134).

Wenn das stimmt, dann sind Bo l-Fazl und ich einer Meinung. Denn ich finde, wenn wir uns mit fremden Menschen, mit einer anderen Zeit und einer anderen Kultur befassen, lernen wir auch unsere eigene Zeit, unsere eigene Kultur und damit uns selbst besser kennen. Der Blick auf das Andere verändert auch den Blick zurück auf das Eigene. Und was ist in einer klein gewordenen Welt wichtiger als die Fähigkeit, andere Perspektiven einzunehmen und einen erweiterten Blick auf das Eigene zu bekommen? Das wollen Sie doch, nicht wahr? Mehr erfahren und Ihren Horizont erweitern?

Keine Sorge: Das werden Sie ganz sicher, wenn Sie dieses Buch lesen. Sie werden nicht nur Bo l-Fazl näher kennenlernen und erfahren, was er über seine Mitmenschen erzählt. Sie werden auch eine Geschichte lesen, die bis heute Spuren auf der Landkarte hinterlassen hat, zum Beispiel die heutige Türkei. Und Sie werden erfahren, wie Bo l-Fazl diese Geschichte erzählt. Wir werden gemeinsam darüber nachdenken, warum er sie erzählt und warum so und nicht anders. Dabei werden Sie feststellen, welche Herausforderungen die Geschichtsforschung birgt. Denn es ist nicht alles immer, wie es scheint. Leider ist Bo l-Fazls faszinierendes Werk noch längst nicht vollständig erforscht. Aber vielleicht ist das auch gut so, denn sicheres Wissen ist das Ende der Forschung.

Immerhin gibt es bisher zwei Bücher und eine Masterarbeit über Bo l-Fazls Werk. Nur ist keines davon auf deutsch und auch keines sehr umfangreich. Marilyn Robinson Waldmans Toward a theory of historical narrative von 1980 ist mit gut zweihundert Seiten das dickste der drei und eine Pionierarbeit auf englisch. Filippo Bertottis kleines italienisches Buch L'opera dello storico persiano Bayhaqî von 1991 enthält einige nützliche Beobachtungen. Und Ranin Kazemis Masterarbeit "Morality and idealism: Abu l-Fazl Bayhaqi’s historical thought in Tarikh-i Bayhaqi« von 2005 bietet einen sehr interessanten Interpretationsansatz. Deshalb habe ich sie alle diskutiert. Außerdem gibt es noch ein paar wichtige Artikel auf englisch und natürlich viele auf persisch (nur haben die unsere Erkenntnisse nicht allzu weit vorangebracht).

Doch dieses Buch präsentiert keine neuen Forschungsergebnisse. Ehrlich gesagt, ist mir erst beim Schreiben richtig klar geworden, wieviel Forschungsarbeit noch zu leisten ist. Seitdem hatte ich noch keine Gelegenheit zu einer systematischen Untersuchung. Von mir stammen deshalb keine Erkenntnisse, denn dafür wäre eine solche Untersuchung notwendig. Aber dieses Buch verfolgt ohnehin einen anderen Zweck: Ihnen die Gelegenheit zu geben, Bo l-Fazl, sein Werk und seine Zeit kennenzulernen. Dafür habe ich die interessantesten Erkenntnisse anderer Wissenschaftler zusammengestellt und meine eigenen Eindrücke und Ideen, meine Zweifel und Kritik an den Erkenntnissen anderer auf der Grundlage meiner Lektüre des Werkes hinzugefügt. Dabei habe ich mir ein paar Freiheiten genommen und auch auf Fußnoten verzichtet. So hatte ich mehr Spaß am Schreiben, und Sie haben hoffentlich mehr Spaß am Lesen. Von welchen Wissenschaftlern die Erkenntnisse stammen, kann man am Ende der Kapitel in der Liste der verwendeten Literatur sehen.

Und nun lassen Sie sich nicht länger aufhalten und legen Sie los! Ein wichtiges Ereignis, das Bo l-Fazl beschreibt, machte es möglich, daß aus Kleinasien die Türkei wurde ...

Das weinende Schreibrohr

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