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Einleitung

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Weshalb Kleinasien zur Türkei werden konnte und was das besondere an Abo l-Fazl-e Beyhaqîs außergewöhnlichem Geschichtswerk ist

Den wenigsten Menschen ist bewußt, daß im Jahr 1040 im Nordosten des damaligen Iran eine Schlacht ausgetragen wurde, deren Ausgang die politische und kulturelle Landkarte langfristig verändert hat. Weil der Seldschuke Toghril mit seinen nomadischen Turkmenen diese Schlacht gegen die Truppen Mas'ûds aus der persianisierten turkstämmigen Dynastie der Ghaznaviden gewonnen hat, stand ihm der Weg weiter nach Westen offen. So kamen die Türken schließlich in die Türkei. Oder vielmehr: So wurden die Weichen dafür gestellt, daß aus Kleinasien die Türkei werden konnte. Ohne diese im vollen Wortsinne bahnbrechende Schlacht nahe bei dem Ort Dandânqân könnte unsere Welt also heute anders aussehen.

Natürlich ist ein solches Gedankenspiel für Historiker problematisch. Die Frage: »Was wäre gewesen, wenn…?« läßt sich wissenschaftlich nicht beantworten. Dazu müßte es nämlich möglich sein, die Antwort zu überprüfen. Doch wer kann schon wissen, was gewesen wäre, wenn…? Jedes Ereignis beruht auf so vielen unterschiedlichen großen und kleinen Voraussetzungen und Geschehnissen, daß man sie nie alle überblicken kann. Also kann man auch nicht wissen, was passiert wäre, wenn eines dieser Elemente weggefallen und durch ein anderes ersetzt worden wäre. Es gibt unzählige Möglichkeiten, die man durchspielen müßte.

Man kann also darüber nachdenken, was gewesen wäre, wenn… Aber man kann nicht überprüfen, ob eine mögliche Antwort richtig oder falsch ist. Andererseits wimmelt die Geschichtsschreibung von Schlachten, Ereignissen und Situationen, die als Wendepunkte oder als Gründe für neue Entwicklungen gelten. Und wenn ein bestimmtes Ereignis tiefgreifende Folgen gehabt und wichtige Veränderungen in Gang gebracht haben soll, dann heißt das im Umkehrschluß, daß die Geschichte ohne dieses Ereignis anders verlaufen wäre. Sobald man also Einschätzungen vornimmt, setzt man immer eine Überlegung zu der Frage »Was wäre gewesen, wenn…?« voraus. Genau so eine Einschätzung habe auch ich vorgenommen, als ich zu Beginn dieser Einleitung geschrieben habe, der Ausgang der Schlacht von Dandânqân im Jahr 1040 habe die politische und kulturelle Landkarte verändert. So gesehen, ist es nicht abwegig, daß sich manche Historiker auch mit der Frage »Was wäre gewesen, wenn…?« beschäftigen. Man nennt das »kontrafaktische« oder »virtuelle« Geschichte.

Steht die Schlacht von Dandânqân also für einen Wendepunkt? Zumindest sprechen dafür ebenso gute Gründe wie bei vielen anderen Schlachten. Dandânqân gehört in dieselbe Reihe gewichtiger Namen wie Issos oder die Thermopylen. Trotzdem haben die wenigsten Menschen im Geschichtsunterricht von diesem Ort gehört. Die Anzahl derjenigen, die den Ort kennen, dürfte noch geringer sein. Dandânqân lag westlich von Marv – das ist Mary im heutigen Turkmenistan. Und was dort geschehen ist, erstaunt fast so sehr wie die rasanten Eroberungszüge Alexanders des Großen über den größten Teil der bekannten Welt: Mas'ûd von Ghazna, einer der mächtigsten Herrscher seiner Zeit, wird mitsamt seiner umfangreichen, schwer bewaffneten und gut ausgebildeten Armee von drei Männern aus der Familie Seldschuk – Toghril, Tschaghrî und Yabghû – mit ihrem vergleichsweise kleinen Häuflein leicht bewaffneter turkmenischer Reiternomaden vernichtend geschlagen und in die Flucht gejagt.

Wie konnte es dazu kommen? – Das fragen nicht nur wir uns, das haben sich auch die Zeitgenossen gefragt. Dergleichen Ereignisse sind schwer zu begreifen. Wer es trotzdem versuchen will, muß sich fragen, wer dieser Mas'ûd von Ghazna eigentlich war. Warum er nicht in der Lage war, seine überlegenen Kräfte zu nutzen. Wie er das Kernland seines Reiches, Chorâsân – das »Land des Sonnenaufgangs«, die riesige Ostprovinz des iranischen Kulturgebietes – an eine Horde von Reiternomaden verlieren konnte. Diesen Fragen hat sich schon lange vor uns jemand gewidmet: ein Zeitgenosse, ein Zeuge der Ereignisse. Ihm verdanken wir eines der originellsten Werke der muslimischen Geschichtsschreibung. Obwohl Mas'ûd von Ghazna nicht in die Legenden und in die persische Literatur eingegangen ist wie sein Vater Mahmûd, wissen wir durch dieses Werk viel mehr über ihn als über die meisten anderen Herrscher seiner Zeit. Wir wissen mehr nicht nur über sein äußeres Leben, sondern auch über seine Persönlichkeit. Denn durch einen grandiosen schöpferischen Akt entstand eine Dynastiegeschichte der Ghaznaviden, deren Umfang die bis dahin verfaßten persischen Geschichtswerke weit übertrifft. Der Schöpfer dieser Dynastiegeschichte war Abo l-Fazl-e Beyhaqî oder Bo l-Fazl. Bereits unter Mas'ûds Vater Mahmûd war er Sekretär in der ghaznavidischen Reichskanzlei gewesen. Sein monumentales Geschichtswerk ist unter vielen Titeln bekannt und nur in Bruchstücken erhalten.

Unter modernen Historikern hat sich der Titel Târîch-e Beyhaqî durchgesetzt. Das bedeutet »Geschichte des Beyhaqî«. Dieser Titel teilt also nur mit, wer der Verfasser war. Dagegen bezeichnet ein anderer Titel - Târîch-e Mas'ûdî oder »Geschichte Mas'ûds« - nur die erhaltenen Teile und beschreibt auch gleich deren Inhalt: die Herrschaftszeit des Mas'ûd von Ghazna, seine Persönlichkeit und Entwicklung als Herrscher, die Rolle seiner Ratgeber und natürlich die Hofintrigen, all das ausgeführt in nicht ganz sechs Bänden und auf knapp tausend Druckseiten. Doch das Besondere an diesem Werk ist nicht sein ursprünglicher Umfang oder daß nur ein kleiner Teil davon erhalten geblieben ist. Es ist noch nicht einmal sein Thema, denn so originell ist Dynastiegeschichte auch wieder nicht. Das Besondere an diesem Werk liegt in seiner Lebendigkeit.

Schon wenn man das Buch aufschlägt, kommt es einem vor, als läse man in einem Roman: Wir steigen sofort in die Handlung ein, genauer gesagt in einen Brief, den die besorgten Gefolgsleute des Thronfolgers Amîr Mohammad an dessen Bruder Mas'ûd schreiben, nachdem sie von seinem Herannahen gehört und deshalb Mohammad ab- und gefangengesetzt haben. (Eine deutsche Übersetzung des Brieftextes finden Sie kostenlos hier: http://de.berlin.icro.ir/uploads/tarihi_beyhaqi_in_deutscher_Uebersetzung_82897.pdf). Freilich kommt es zu diesem unmittelbaren Einstieg nur, weil der erhaltene Teil des Gesamtwerkes mitten im fünften Band und am Ende der Herrschaftszeit von Amîr Mohammad einsetzt. Er zeigt also nicht die Kompositionskunst des Verfassers, denn den ursprünglichen Beginn des Werkes kennen wir nicht.

Doch auch sonst sind die Zutaten für einen guten Roman vorhanden: In Mas'ûd haben wir einen Protagonisten vor uns, dessen Entwicklung und Schicksal wir über das gesamte Werk hinweg verfolgen. Es gibt einen bösen Geist, der schlechte Ratschläge erteilt, ebenso wie gute und treue Ratgeber, die immer wieder dabei helfen, Katastrophen abzuwenden. Wir finden äußere Feinde, gegen die der Protagonist kämpfen muß, doch auch familiäre Spannungen und Machtkämpfe, Kummer und Freude, Hoffnung und Enttäuschung kommen nicht zu kurz. Bo l-Fazl beschreibt die Kleidung der handelnden Personen, schildert ihr Verhalten, ihre Regungen, ihren Charakter, läßt sie miteinander sprechen und agieren. Er malt sorgfältig die Kulissen für uns aus und führt uns die Pracht der ghaznavidischen Hofhaltung und die Atmosphäre von Weingelagen vor. Wir erfahren, wenn es außergewöhnlich kalt ist und wann Feste gefeiert werden. Sogar unterschiedliche Berichte über ein und dieselbe Schlacht bietet er uns. Ein Günstling steigt hoch auf und stürzt danach in die Tiefe, nur um bald darauf die Gunst des Herrschers zurückzugewinnen. Geschichten von Verrat und unumstößlicher Treue, von Schmeichelei und Geradlinigkeit, von niederen Trieben und edler Gesinnung fesseln uns. Es gibt menschliche Tragödien ebenso wie biographische Abrisse mit glücklichem oder offenem Ende.

Aber wer uns da begegnet, das sind echte Menschen, nicht nur gut erfundene Figuren. Es sind Menschen mit Hoffnungen und Ängsten, mit Stärken und Schwächen, mit guten und schlechten Seiten. Sie haben wirklich gelebt, und dank Bo l-Fazl stehen sie uns lebendig vor Augen – so, wie er sie gesehen hat. Manche von ihnen würden wir ohne sein Werk heute nicht einmal dem Namen nach kennen. Sie wären tot und vergessen. Aus den Seiten von Bo l-Fazls Werk springt uns das pralle Leben an einem mittelalterlichen Hof im Osten der persischsprachigen Welt entgegen. Mit seinem Werk voll erlebter Menschen und Ereignisse übertrifft Bo l-Fazl also das, was ein Romanautor für gewöhnlich tut. Aber ebenso sehr übertrifft er das, was die persischen Geschichtsschreiber vor und nach ihm überliefern: Aufzählungen von Daten und Fakten, beispielhafte Typen statt individueller Persönlichkeiten oder im besten Fall kurze lebendig geschilderte Passagen hervorstechender Szenen. Schon deshalb kann jeder sein Werk mit Gewinn lesen, den das Leben in vergangenen Zeiten, außergewöhnliche Persönlichkeiten und eine gute Geschichte begeistern.

Noch viel spannender ist das Werk für all diejenigen, die wissen wollen, wer dieser Mas'ûd von Ghazna gewesen ist und wie er den größten Teil seines Reiches verlieren konnte, obwohl er als großartiger Krieger galt. Nicht ohne Grund schlugen sich die Anhänger seines Bruders auf seine Seite, sobald sie hörten, er sei im Anmarsch, um sein Recht auf den Thron einzufordern. Die Armee stellte sich hinter ihn. Er war für seine Eroberungen berühmt. Und doch führte er sein mächtiges Reich, sein aufstrebendes Herrscherhaus, das sich erst vor einer Generation unabhängig gemacht und gegen gefährliche Rivalen durchgesetzt hatte, an den Rand des Abgrunds. Auch Bo l-Fazl beschäftigt dieses Thema: In allen Einzelheiten zeichnet er die Entwicklung von dem vielversprechenden jungen Herrscher, der im Jahr 1030 den Thron erobert, bis hin zu dem tyrannischen Trunkenbold nach, der im Jahr 1040 seinen Platz im Machtgefüge Westasiens verspielt und schließlich das Leben verliert.

Denn für Bo l-Fazl ist Geschichte nicht nur von Gott vorherbestimmt, sondern auch von Menschen gemacht: von Herrschern und ihren Ratgebern. Geschichte ist geprägt von ihren Tugenden und Lastern, von ihren klugen Entscheidungen und ihren Fehlern. Deshalb beschäftigt ihn Mas'ûd. Und deshalb ist sein Geschichtswerk bevölkert von Menschen – von Persönlichkeiten und ihren Eigenarten nicht weniger als von ihren Handlungen. Und deshalb soll Geschichte, festgehalten in Büchern, nachfolgenden Generationen helfen, aus den Fehlern ebenso wie aus der Klugheit der Vorangegangenen zu lernen. Geschichte besteht aus den Geschichten von einzelnen Menschen, und jede Geschichte hat ihre Moral. Bo l-Fazl spart denn auch nicht mit moralischen Reflexionen, ebenso wenig wie mit persönlichen Einschätzungen, ausführlichen Wertungen und mit Kommentaren zum Los aller Menschen: ihrer Sterblichkeit, die all ihr Streben nach irdischen Gütern, nach Macht und Reichtum hinfällig macht.

So hören wir beständig die Stimme des Verfassers, der sich dem Leser immer wieder in Erinnerung ruft. Auch das ist ungewöhnlich: Der Verfasser bleibt sonst meist im Hintergrund, hat die monotone Stimme eines neutralen Erzählers. Da gibt es kein Ich, das persönlich beteiligt wäre und sein Innerstes preisgäbe. Bo l-Fazl ist anders: Sein Ich ist präsent, er steckt im Geschehen und läßt uns an seinen Gedanken und Gefühlen teilhaben. Kein Wunder, denn als Sekretär am Hof und Vertrauter des Kanzleileiters lebte er im Zentrum der Ereignisse und konnte vieles selbst beobachten, was er später in seinem Geschichtswerk niederlegte. Er ist vielleicht der subjektivste Berichterstatter, der je mit allen Mitteln versucht hat, objektiv zu sein.

Sein Werk ist voll vom pulsierenden Leben der Vergangenheit, voller Geschichte im besten Sinne, und zugleich ein wortgewaltiges Webstück persischer Literatur, ein sprachliches und kompositorisches Kunstwerk. Es ist einzig in seiner Art und einzigartig geblieben.

Schon deshalb hat es in der Forschung Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und wir werden uns den Ansichten und Einsichten der Forscherinnen und Forscher immer wieder zuwenden, um Bo l-Fazl und sein Werk kennen und verstehen zu lernen. Dabei werden Sie erfahren, wozu Geschichtsschreibung überhaupt gut ist und was man von ihr erwarten kann - und was nicht. Natürlich möchte ich auch Bo l-Fazls Werk immer wieder selbst sprechenlassen. Dazu habe ich Passagen wie Blüten für Sie herausgepflückt und im Text arrangiert.

In den folgenden Kapiteln treten wir also unsere Reise ins 11. Jahrhundert an: Wir wollen Bo l-Fazls Welt kennenlernen und erfahren, wie er den Ghaznaviden Mas'ûd und sein epochales Versagen gesehen hat. Wir wollen Bo l-Fazls Persönlichkeit nachspüren und seiner Kunstfertigkeit. Wie erschafft er eine schlüssige Erzählung über die Ereignisse? Wohin lenkt er unsere Gedanken? Können wir ihm einfach alles glauben, oder müssen wir vorsichtig sein? Und wer war dieser Abo l-Fazl-e Beyhaqî eigentlich? Was wollte er uns mit diesem einzigartigen Werk sagen?

Das weinende Schreibrohr

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