Читать книгу neukunst oder der Maulwurf - Dr. Wolfgang Mehringer - Страница 5
2 Persönliche Rückschau
ОглавлениеPhilip kämpfte in den nächsten Tagen mit seiner ziemlich wirren Gefühls- und Gedankenwelt. Es war, als befinde er sich irgendwo in den Bergen, in einer äußerst nebligen Gegend. Es gab keine Wegweiser, alles was er genauer betrachten wollte, verschwand in diesen Nebelschwaden. Endlich sah er doch etwas klarer. Er mu0te zwei Dinge voneinander trennen. Zum einen musste er in sein Inneres blicken und herausfinden, was seine Kunstwahrnehmung ihm bedeutete und dabei vor allem auch, wie sie im Laufe seines Lebens zustande gekommen war. Dies musste er dann sozusagen als ein Vorurteil betrachten - von dem er sich lösen mu0te - um? - ja, um auf einem rational - logischen, wissenschaftlich gesehen also tadelsfreiem, Wege die allgemeinen Kennzeichen für eine gewisserma0en objektivierte Bewertung von Kunst zu erarbeiten. Aber - was bedeutete da „erarbeiten“? Und für welche Kunst? Für die bildende Kunst, gewiss - dabei für die alte ebenso wie für die ganz neue! Aber - eben nicht nur für die bildende Kunst. Es müsste ein Dach für alle Arten von Kunst sein. Das war so ein etwas springender Punkt. Ich postuliere also, sagte Philip zu sich selbst - aber vielleicht gibt’s da auch ganz andere Postulate - ich postuliere: Es gibt nur eine Kunst. (Er bedauerte fast, in diesem Moment eine Assoziation „beiseite schieben“ zu müssen, die sich ihm - dabei aber auch irgendwie „gewaltsam“, fand er - aufdrängen wollte: die Religion als Parallele zur Kunst, oder dabei wiederum das Postulat eines einzigen Gottes. Das ging dann wohl wirklich in Richtung Kulturtheorie - - -). So gesehen irgendwie logisch, dachte er, denn es gibt ja auch nur eine species homo sapiens. Philip geriet dann doch ein wenig ins Grübeln,, als die ganze Vielfalt von Kunstformen vor ihm auftauchte, für die seine Bewertungskriterien „zuständig“ sein sollten, also ganz gleich ob es sich um Musik, Literatur, Theater, Architektur, ja aber auch die tausenderlei Mischformen handeln sollte, die da ständig kreiert wurden - mit Hilfe irgendwelcher elektronischen Medien, Performances. Installationen - alles irgendwie weit weg, und doch ganz nah bei der bildenden Kunst?! Mit einem mal türmten sich vor ihm - die bereits erwarteten - zwei Schwergewichte auf: mit einander Hand in Hand, in bewährter Verbundenheit, die Wissenschaft mit dem rational-logischen Denken. Sollte er denn nun, um wissenschaftlich arbeiten zu können, erstmal ein kunstwissenschaftliches, dabei auch kunstphilosophisches und natürlich kunsthistorisches Studium in sich aufnehmen? Er musste fast schon gequält lachen, als er daran dachte, wie viel Zeit und Energie das wohl in Anspruch nehmen würde. Dies im Vergleich mit der - hoffentlich eintretenden - Restphase seines Lebens. Andererseits: Wo waren denn speziell im Feld der neuen oder gar neuesten Kunst überhaupt klare Lehrmeinungen zu finden, zu erkennen? Klar zu erkennen war jedoch, dass sich eigentlich niemand auf Kunst bewertende Kriterien wirklich einließ, vielmehr phantastisches Zeug formuliert wurde, wobei vieles weder von der Wortbedeutung noch von irgendeiner Logik her zu begreifen war. Er konnte sich sogar an einen Zeitungsartikel erinnern, in dem eine Diskussion über solche Fragen strikt abgelehnt worden war! Es sei einfach kontraproduktiv - und könne ja auch auf gar keinen Fall in der Praxis objektiv richtig sein – an so etwas überhaupt nur zu denken, geschweige denn es anzuwenden! Und es sei vielmehr nötig, die Kunst zu befreien aus den Gefängnissen, in die sie im Lauf ihrer Geschichte eingesperrt wurde und somit ihren Fortschritt zu ermöglichen.
Philip zuckte ein wenig zusammen. War es überhaupt sinnvoll, für die Kunst so etwas wie „Fortschritt“ zu postulieren, ja sogar ihn zu fordern?! Erkennbar waren doch nur kulturbedingte Formen von Kunst - und mit den kulturellen Wandlungen die daran orientierten Veränderungen. Aber was trieb nun, genauer betrachtet, gerade die neueste Kunst zu derart grotesken Erscheinungen, wie er sie (bislang sicher nur sehr beschränkt!) wahrnehmen konnte und in deren Erzeugung sich offensichtlich große Massen - und dabei besonders die etabliert -arriviertesten - von Künstlerinnen und Künstler (bedenkenlos? - fragte sich Philip) irgendwie hineinzustürzen schienen und dabei sicher auch zu profilieren suchten. Oder aber hineingestürzt wurden?
Wie konnte er denn nun die vielen „Stolpersteine“, die er vor sich liegen sah, aus dem Weg räumen? Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig - aber damit konnte er sich gerade auch viel Sucherei in der Literatur und Auseinandersetzungen mit irgendwelchen „Schulen“ oder „Strömungen“ ersparen, wie sie eine Tätigkeit in der Wissenschaft erzwingt - als eben, ganz simpel, sprich logisch-rational von den allgemein bekannten Eigenschaften und Eigenheiten, der Beschaffenheit von Kunstwerken auszugehen Sie waren aufzulisten und führten dabei auf einige Sammelbegriffe, die justament als Kriterien, als sinnvolle sowie ausreichende Kennzeichen zur Bewertung von Kunstwerken dienen konnten. Wenn in der Kunstwissenschaft bereits eine solche Liste existierte, umso besser! (Aber wo, im Rahmen der „neuen Künste“ wäre dann von ihr eine Anwendung zu erblicken?!). Das könnte der nötigen Diskussion ja wirklich nur förderlich sein! Er erinnerte sich auch an verschiedene immer wieder einmal zitierte oder geforderte Eigenschaften von Kunst - wie „Schönheit“, „Ebenmäßigkeit“ oder „kunstvolle Arbeit“. Tatsächlich konnte er nun dagegenhalten, dass ähnliche Begriffe nur jeweils eine Qualitätsrichtung innerhalb einer größeren Palette im Rahmen eines einzelnen Kriteriums anzeigten konnten. Eine Gesamtbewertung musste dann aus den verschiedenen Kriterien, sprich den ihnen zugeordneten Qualitätsmerkmalen entstehen. „Schönheit“ mochte man für so etwas wie ein Gesamturteil halten. Allerdings war ein solcher Begriff nur schwer zu definieren und dabei auch sehr abhängig von den jeweiligen kulturellen, also auch historischen und insbesondere auch individuellen Voraussetzungen. Gerade im Hinblick auf solche Beschreibungen wurde Philip die Bedeutung seiner Forderung nach Rationalität, nach Einsichtigkeit von Kriterien zur Bewertung von Kunst noch klarer. Es wurde ihm dabei nämlich auch bewusst, dass dieser ganze „Komplex“, der einer Abwehr von rationalen Kriterien zu dienen schien, in einer engen Verbindung stehen musste mit einer Mystifizierung von Kunst - einem Punkt, dem er sicher noch nachgehen musste! Und dabei - das musste wirklich klar sein - durften in „seinem“ Kriterienkatalog auch eben keineswegs diejenigen Aspekte fehlen, bei denen alle möglichen irrationalen, insbesondere also psychisch - unbewusst begründete Wahrnehmungen einbezogen wurden. Gerade auch die Wahrnehmung „Schönheit“ käme dabei infrage.
Getrennt von solchen Überlegungen schien es Philip ja auch wichtig zu sein, sein eigenes Kunstverständnis kritisch zu überprüfen. Wie und wo war es überhaupt entstanden?! In Gedanken setzte er Kunstverständnis bereits in Anführungszeichen, denn zunehmend hielt er es für ein „irgendwie produziertes Vorurteil“. Er zog aus einer Schublade der alten im Flur stehenden Kommode eine Sammelmappe heraus. Im Zeichenunterricht, wie das damals noch im Gymnasium hieß, in der vierten Klasse, hatte es ihm Spaß gemacht, sie zu basteln: aus Pappe. Danach wurde sie mit weißen Papierbögen überklebt und mit einem aus einer Kartoffel geschnitzten Stempel farbig bedruckt. Ein Himmel von bunten Sternen war so auf der Mappe entstanden. Viele Jahrzehnte hatte die Mappe schon unbeschadet überstanden. Sie enthielt die gesammelten „Kunstwerke“ aus seiner Schulzeit. Dazu noch ein paar Kritzeleien und Malereien aus seinen Kindertagen. Keine Frage, die technischen Fahrzeuge hatten ihn fasziniert, neben den Autos ganz besonders auch knatternde, stinkende Motorräder und - unübertrefflich eindrucksvoll - die gigantischen, fauchenden, zischenden, ratternden Dampflokomotiven. Motorräder - mit Tankstellen im Hintergrund - bezog er auch in den Zeichnungen der ersten Jahre seiner Gymnasialzeit mit ein . Das heißt, wenn es sich, thematisch gesehen irgendwie machen ließ. Schwierig wurde das dann etwa beim Malen von Christi Geburt. (Traditionellerweise musste zunächst alles gezeichnet und durfte dann ausgemalt werden). Später hatten ihn dann die Seen und Berge in Bayern sehr beeindruckt, die im Urlaub mit seinen Eltern im Voralpenland vor ihm auftauchten. Diese Objekte tauchten wiederum sehr oft - fast wie bei manchen Renaissance - Malern - im Hintergrund seiner, von dem auf Kunst bezogenen gymnasialen Erziehungsplan geforderten Werke auf. So etwas wie eine Entscheidungsschlacht, seinen Zugang zur Kunst betreffend, schien sich dann bei seinem Eintritt in die Pubertät mit fünfzehn Jahren abzuzeichnen. Der Kunsterzieher (er hieß inzwischen nicht mehr Zeichenlehrer), ein noch jugendlich wirkender Herr namens Lenz, trennte im Unterricht, so erkannte es Philip, seine „Schafe“, das waren die mit den guten Noten, von den Böcken. Philip erinnerte sich an dessen übermäßig großen kugeligen Kopf, und dass er überdies auch fast ständig in seltsamster Weise lächelte. Philips Widerstand gegen ihn wuchs. Fraglos spielte dabei auch der Umstand eine Rolle, dass Philip für seine, durchaus mit einer gewissen Hingabe fabrizierten Werke meist mit der Note „mangelhaft“ oder, wenn es mal „gut“ ging, gerade mal mit „ausreichend“ bedacht wurde. Eines Tages dann, beim Thema „Käfer“, die mit Tusche und Feder gezeichnet werden mussten, beschloss Philip zu rebellieren. Er kreierte zwei Typen von Phantasiekäfern, längliche und rundliche, teilweise auch irgendwie auf dem Rücken liegend und strampelnd. Und dabei stets lächelnd. Herr Lenz stellte sich neben ihn. Philip arbeitete ruhig an seinen Käfern weiter. Er hörte, wie Herr Lenz einen unruhigen Atem bekam. Und plötzlich - Philip konnte sich noch genau daran erinnern (es war wirklich sehr eklig) - flog ein kleines grünes Etwas auf seinen Zeichenblock. Im Augenblick musste Philip lachen, als er daran dachte. Damals hatte aber nur sein Unterbewusstsein reagiert und ihn dabei nicht zum Denken kommen lassen, etwa zur Behandlung der Frage, ob er dieses Ding, diesen „Beitrag“ zu seinem Werk vielleicht dem Klassenlehrer oder gar dem Schulleiter vor Augen führen sollte.
Sein Instinkt hatte vermutlich das Ergebnis einer solchen Aktion blitzschnell erkannt: Man würde aus einer solchen „Fliege“ keinen Elefanten machen. Im Grunde seines Herzens war ihm Herr Lenz ja auch völlig „wurscht“. Das heißt, er wollte eigentlich nur seine Ruhe vor ihm haben und alle Probleme, die dessen Existenz mit sich brachten, möglichst schnell loswerden. In diesem Sinne erfolgte dann auch seine Reaktion. Mit dem Mittelfinger der linken Hand (in seiner rechten ruhte die Zeichenfeder) schnippte er das grüne Ding einfach weg - es war wirklich weg! Philip wusste in diesem Augenblick allerdings nicht, ob Herr Lenz den Ablauf des Verfahrens registriert hatte. Nach einer Weile - Philip hatte inzwischen seine Arbeit fortgesetzt – fragte ihn Herr Lenz dann ganz plötzlich: Was?! - wollen Sie denn mal werden? Philip blickte kurz zu ihm hoch und sagte trocken: Zeichenlehrer. Worauf sich Herr Lenz eilends von ihm wegbewegte. Für die Käfer gab es dann - natürlich - die schlechtest mögliche Note, eine sechs, „ungenügend“, ebenso wie für eine weitere Zeichnung. In dieser ließ Philip auf einer Bühne zwei Degenfechter einander umarmen. Als Kommentar hatte Herr Lenz darunter geschrieben: Quatsch! (Die künstlerische Freiheit wurde also durch weitgehendst unbekannte Vorschriften infrage gestellt). Immerhin war Philip Herrn Lenz zum Ende des Schuljahres auch schon wieder los.
Und es begannen . - es war kaum zu glauben - paradiesische Zeiten in Sachen „Kunsterziehung“! La mer von Claude Debussy gurgelte Philip und seinen Mitkämpferinnen und -kämpfern um die Ohren und sie malten das so, ganz ohne irgendwelche Vorschriften, unglaublich! Impressionismus pur! Dann folgte das Thema „Flucht“ - irgendwelche davoneilende Wesen also, in allen möglichen Farben. Es folgten dann auch einige ruhigere Geschichten - Stilleben sozusagen, in verschiedenen Variationen. Das Malfieber grassierte. Da gab es dann plötzlich - quasi völlig neu geborene - Malköniginnen und auch einen Malkaiser. Philip zählte nicht zu diesen - dank ihrer Fähigkeiten - Auserwählten, genoss aber doch auch sehr die Begegnung mit dieser neuen Welt, die zu entdecken, zu erfahren war. Ihr „Meister“ (wie sie ihn nannten) machte mit ihnen zudem Ausflüge in vergangene Kunst – Zeiten, die sie wahnsinnig spannend fanden. Dann wieder ein neues Thema: Plakate entwerfen. Auch für Philip wieder „viel Spaß“ (wie man das heute so nennt). Philip ließ abstrahierte Figuren und ihre Schatten ineinandergleiten. Die Ergebnisse in der Klasse wurden dann - bereits beim ersten Mal - an die Wand „gepinnt“ und gemeinsam, freundschaftlichst und konstruktiv besprochen. Ja, sagte der der Meister, da ist ein Plakat - das ist anders. Das springt ins Auge, das überstrahlt halt alle anderen. Philip konnte es kaum fassen. Das war - sein Plakat!! Von da an war auch er ein „König“. Bei jedem Thema - tatsächlich! - ein Plakat betreffend, war er „Spitze“. Und niemand neidete ihm das! „Kunsterziehung“ wurde in dieser Zeit für Philip etwas völlig anderes als nur ein Schulfach. Der Expressionismus, allen voran Franz Marc - „die roten Pferde“! - war eine unbeschreibliche Entdeckung für ihn. Philip begann nachzudenken, als er in der Mappe blätterte. Damals hatte er erfahren, dass es viele Arten von „Schönheit“ gab. Auch die während der Zeit des Nationalsozialismus verfemten Malarbeiten und Zeichnungen von Karl Hubbuch, der die brutalen Seiten des gesellschaftlichen Lebens zum Ausdruck brachte, waren „schön“: mit der darin vermittelten „Spannung“, mit der Gruppierung von Menschen in ihrer Lebenswelt, mit der detaillierten handwerklichen Durchführung der künstlerischen Arbeit. Genau das traf den Punkt. Eben dieses war ihm in der Ausstellung, die er vor kurzem besucht hatte, praktisch nicht begegnet. Dennoch musste man auch den Werken solcher „Neukunst“ mit den gleichen Maßstäben begegnen können! Langsam wurde ihm klarer, worauf es hinauslief. Es ging um eine Fortsetzung, um die präzise Klärung jener Wahrnehmungen, wie er sie in der Schule erfahren hatte Er lächelte bei dem Gedanken, dass er mit solchen Maßstäben dann auch seine eigenen „Werke“ zu beurteilen hätte. Es war natürlich auch klar, dass bei allen in späterer Zeit besuchten Ausstellungen seine in der Jugend geprägten Vorstellungen eine entscheidende Rolle spielten. Sicherlich, es war zu wenig um zu einer einigermaßen gerechten Beurteilung zu gelangen. Es würde nunmehr seine Aufgabe sein, an einer Präzisierung der bereits schemenhaft vorhandenen Maßstäbe zu arbeiten. Damit würde auch genauer jener „Knick“ in der Entwicklung der modernen Kunst zu orten sein, der wegweisend wurde zu jener „Kunstwelt“, wie sie ihm jüngst begegnet war. (Dabei war ihm klar, dass eine Beschreibung der Phänomene jenes Knicks - oder Bruches ! - etwas anderes war als das Eindringen in ein ursächliches Verständnis). Ein Punkt, der dabei eine Rolle zu spielen schien, lag - so vermutete Philip – im Entstehen und in der Entwicklung der „Abstraktion“. Er kannte verschiedene Bilder von Kandinsky, die frühen gegenständlichen und die späteren abstrakten. Es gab dazu Parallelen in der kulturellen Entwicklung, die Entdeckung etwa der Relativitätstheorie und der Quantenphysik, oder auch, um im Bereich der Kunst zu bleiben, Strawinskys „Sacre du Printemps“ (Man hat das Werk „Atombombe“ der Musik genannt; es gab Tote bei seiner Uraufführung). Aber - und Philip fand das doch ziemlich verblüffend und beachtenswert bei der Entwicklung von Kriterien zur Bewertung von Kunst - er hatte eigentlich kaum Probleme bei der Beurteilung der Qualität beider Richtungen bei Kandinsky gehabt; salopp gesprochen fand er sie „ähnlich“ (Er musste noch herausfinden, worauf das beruhte - -).
Philip begann zu sinnieren - über den Aspekt eines „Bruchs“ in der modernen Kunst. Die Veränderungen in der Kunst betreffend, da gab es in der Moderne wohl so etwas wie einen ganz spezifischen, besonderen „Antrieb“. Wenn er es überlegte: Die Zielsetzung, etwas „neues“ zu schaffen war eigentlich nicht neu. Schwerwiegend waren dabei die tief reichenden kulturellen Wandlungen. Davon abgesehen, waren die alten Meister ja bemüht, thematisch und künstlerisch - handwerklich besonderes zustande zubringen. So etwas wie ein von der Natur für den Menschen - gleichermaßen übrigens auch für alle Säugetiere - entwickeltes Prinzip zur Optimierung des Überlebens steckte dahinter. Durch das Aufspüren von Möglichkeiten auf der Basis steter Suche verbessern sich die Lebenschancen. Letzten Endes ist dies die Ursache auch für die menschliche Kulturgeschichte. Mit dem Ziel einer möglichst raschen Erweiterung aller Möglichkeiten - dies also ist eine Spezialität der Moderne - wurde dann ein vermeintliches Hindernis beseitigt: die Anbindung der Kunst an Gegebenheiten der Kultur, die man als eine Art von Gefängnisaufenthalt (in irrigster Weise!) interpretierte. Mit dem Ruf „Freiheit für die Kunst“ zog man somit in die (vermeintliche) Schlacht Vermeintlich - und ebenfalls irrigerweise - dachte man dabei natürlich an die „totale Freiheit“, die stattdessen durch die Anpassungszwänge in ein lebloses Gespenst verwandelt wurde. Aber - wie gesagt - Kunst bleibt immer an der Hand der sie speisenden Kultur.
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Von den „Freiheitskämpfern“ wurde selbstredend auch eine Kunstbetrachtung in Form von ernsthafter Kritik als Hemmschuh verabscheut. Doch - was hatte Kritik eigentlich mit Handlungsfreiheit zu tun? War es nicht vielmehr so, dass Kritik sich mit ihren Kriterien verantworten musste - oder sollte! - also im Grunde viel mehr im Fokus kritischer gesellschaftlicher Wahrnehmung stand als etwa neue künstlerische Richtungen? Denn diese mussten ja im allgemeinen - wenn sie nicht grob gegen verbreitete sittliche „Normen“ verstießen - in freiheitlich - demokratischen Staaten keinerlei Einschränkungen befürchten. Dabei waren sie auch nicht auf die positive Resonanz irgendeines Teils der Öffentlichkeit angewiesen.
Andererseits hatte es aber zu allen Zeiten in der Vergangenheit Auseinandersetzungen über die Qualität einzelner Kunstwerke oder auch der sie schaffenden Künstler gegeben. (Auf Künstlerinnen wurde allerdings meistens - aus uns heute nicht mehr verständlichen Gründen - „verzichtet“). Für Philip stand somit allmählich unabdingbar fest: Es musste Kriterien geben zur Qualifizierung einer jeglichen Art von Kunst - gerade auch für die allerneueste, auch wenn darüber, wie es schien, niemand wirklich sprach. (Die Gründe dafür, ganz gleich ob es sich um mystisch - religiöse oder auch um so etwas wie eine Schockstarre handeln sollte, oder sogar um ein außerordentlich komplexes Phänomen, würde er „ein andermal genauer inspizieren wollen“). Oder auch umgekehrt: Mit einem Satz solcher Kriterien musste man Kunst geradezu „definieren“ können. (Er war sich im klaren, dass wohl die meisten Kunstwissenschaftlerinnen, gemeinsam mit ihren Kollegen, beim Ausdruck „definieren“ sich mit einem Wutschrei der Empörung auf ihn stürzen oder aber ihn hohnlachend in eine Ecke schieben würden). Mittels des Spielraums innerhalb der verschiedenen Kriterien würde man alles Schöpferische einstufen und zu einem Gesamturteil über ein Kunstwerk führen können. Alles übrige, was mit solchen Kriterien nicht erfa0bar war, gehörte dann eben auch nicht zur Kunst.
Mit dem Blick auf eine solche Aussage fühlte sich Philip plötzlich sehr erleichtert. Seinen Träumen würde er nunmehr sehr ruhig entgegensehen können. Er hatte sich nämlich nächtens von merkwürdigen Fabelwesen umstellt gesehen, die von irgendwelchen exotischen Kulturen stammend, auf ihn deutend auf ihn zu gekommen waren. Mit rollenden Augen hatten sie ihn angeglotzt und ihn - er konnte ihre spitzen weißen Zähne dabei deutlich sehen - angeschrien: Und wir? Sind wir denn nichts wert? Es würde ihm bei einer Wiederholung der Vorstellung mit ziemlicher Sicherheit gelingen, diesen Kobolden Beruhigendes mitzuteilen - jetzt, da er glaubte, dem Problem „globaler“ Kunstrichtungen, sprich den Kunstrichtungen aus den verschiedensten Kulturbereichen unserer Welt, in einem wahrhaft globalen Sinne „gerecht“ werden zu können. Schon wieder so ein dummes Wort - was sollte „gerecht werden“ denn für einen Kulturbereich bedeuten, der mit unserem - oder eben Philips - „Kunstbegriff“ überhaupt nichts anfangen konnte. Erfand der Westen nun auch in der Kunst seinen Imperialismus? Philip ergriff an diesem Punkt die Flucht - nach vorn! Kunst - für uns zumindest, die wir Kunst als solche wahrnehmen, ist eben Kunst, wer auch immer sie gemacht hat, oder was auch immer jener oder jene das Werk Erschaffende sich dabei gedacht hat oder gedacht haben sollte - Kunst. Und ein solches Werk würde eben qualitativ nach verschiedenen Kriterien und in deren Zusammenhang beurteilt, bewertet werden können. Oder, für jene, die es nun sehr genau wissen möchten, - für jene definieren eben diese Kriterien die Kunst - - - .
Sie trafen sich Montag Abend um zwanzig Uhr dreißig, wie stets, im „Pfännle“ - einem winzigen Gasthaus. Der Tisch war vorbestellt. Es war eine Gruppe von einem halben Dutzend kontakt - und diskutierfreudigen Teilnehmern aus einem Französischkurskurs der Volkshochschule („Aspects de notre temps“ ). Auch die Leiterin des Kurses, Mireille, kam oft noch hinzu. Dass sie eine waschechte Pariserin war, konnte niemand feststellen - sie sprach ein in jeder Hinsicht perfektes Hochdeutsch. Sie lebte zusammen mit Jean, einem Deutschen, der ihr geholfen hatte, aus ihrem Elternhaus zu entfliehen. Jeglicher Versuch, bei ihr einen Akzent aufzuspüren, der so typisch französisch sei, scheiterte kläglich. War dies letztlich eine - fast unerwartet positive - Folge des ziemlich gnadenlosen Drills, dem sie in ihrer Kindheit und Jugend ausgesetzt war? - einer Sequenz von Ballett, Theaterkursen, Klavier, Schwimmen und einigem mehr: Sie durfte sogar Deutsch lernen (was ihre Eltern dann wohl bereuten), dies im Hinblick auf Karrierechancen im Nachbarland. Bei alledem hatte man jedoch vergessen, ihr beizubringen, wie man Karriere macht. So war es für sie zunächst auch sehr schwer gewesen, in der Gilde der Französisch - Deutsch - Übersetzer Gnade in Form einer Aufnahme zu finden. Dabei war wohl auch kaum die Tatsache hinderlich gewesen, dass sie alle Prüfungen mit Glanz bestanden hatte. Aber - Merkwürdigkeiten der verschiedensten Art findet man in allen Berufssparten, und über die Probleme, die es in diesem Zusammenhang gab, war wenig bekannt .Zu ihrer Leidenschaft wurde dann etwas, was man in Frankreich aus irgendeinem Grunde weggelassen hatte: eine aktive Beschäftigung mit der bildenden Kunst, im Sinne einer Autodidaktin. Sie sprach aber fast niemals darüber. An diesem schönen Frühsommerabend war sie mit dabei im „Pfännle“. (Nicht dabei - und zwar ständig - war etwa die Hälfte der anderen Beteiligten an ihrem Kurs)
Nachdem die Mägen dieser durstigen - und teilweise auch hungrigen - Gruppe besänftigt und somit auch überschäumende Erregungen, das aktuelle politische Minenfeld betreffend, abgeklungen waren, zog Eva eine Illustrierte aus ihrer Tasche. (Eva arbeitete als Diplom-Kauffrau in einem kleineren Betrieb). „Speziell für Mireille“, sagte sie. Dann las sie einige Teile aus einem längeren Artikel vor, wobei alle geduldig zuhörten. Anschließend wurde die Illustrierte herumgereicht, um die - leider nur recht kärglich Informationen vermittelnden - Fotos genauer betrachten zu können. In dem Artikel berichtete die Autorin von der Entdeckung - genauer gesagt von der außerordentlich geschickten und dabei gerade auch sehr lukrativen Vermarktung - der malerischen Werke eines fünfjährigen Mädchens, der als „Malgenie“ (von einigen Seiten) bezeichneten Änn. „Der nächste Picasso?“ war die Überschrift zu diesem Bericht. Da das Mädchen mehr oder weniger abstrakte Bilder malte, schien es „somit“ den Werdegang Picassos, mit einer abstrakten Verarbeitung des Gegenständlichen, „irgendwie“ „fortsetzen zu wollen“. Jedenfalls war dies eine gängige Sichtweise. (Literaturzitat 1). Was dieses - oder vielmehr so ein Kind! - dann aber „wirklich“ will, war ein Punkt unter anderem in der nun folgenden Diskussion. Kärglich war zunächst, wie schon angedeutet, die im Hintergrund von einem der Fotos lediglich als Ausschnitt erscheinende Wiedergabe von Bildern der Kleinen. Kontrastierend hierzu ein Foto der glücklichen Eltern, zugeneigt dem in ihrer Mitte eingezwängten und dabei strahlenden Genie, umgeben von einem Wust ziemlich unstrukturiert vollgekleckerter Malgründe. Als Krönung dann ein Porträt von Änn: zweiseitig, lachend, mit einem farbgefüllten Pinsel in der Hand, ölfarbverschmiert an den Händen, am Pullover und am Mund.
Nachdem zunächst einmal geschwiegen wurde - das war so üblich - „stapfte“ Berhtold als erster los. Berthold, ein höherer Beamter im Kommunalbereich, Jurist, war im Zweitberuf „Eisenbahner“. Zum einen hatte er eine Eisenbahnanlage, die mehrere Zimmer umfasste, in einer Zweitwohnung installiert. Zum anderen hatte er Daten aller Eisenbahnnetzwerke dieser Welt und zudem noch die wichtigsten Details aller jemals gebauten Lokomotiven in seinem Hirn gespeichert. Sein Französisch war gleichermaßen hervorragend, abgesehen vielleicht von seiner ausgeprägt deutschen Aussprache. Die Tonlage des Juristen war nicht zu verkennen, als er nun sagte: Einer sachlichen Klärung bedarf zunächst die Produktion der Bilder. Über eine derartige Ausdauer eines Kindes, das eckenfüllend, wohlgemerkt, aus eigenem Antrieb mehrere Quadratmeter einer Leinwand mit Farbe bepinselt, wird im Allgemeinen nur in Märchen berichtet. Diesbezüglich existieren Videos eines solchen Prozesses auch nur von irgendwelchen Ausschnitten, die sich jeglicher Kontrolle und Nachprüfung entziehen. Fachleute haben in diesem Zusammenhang von Merkmalen gesprochen, die eindeutig auf eine Mitwirkung erwachsener Personen schließen lassen, Dabei denke ich unter anderem an eine Beobachtung der Journalistin, wobei im Rahmen eines Interviews das Kind einem Kaninchen einen Busen malte. Der springende Punkt dabei ist, das dieses Kaninchen auf einer im Raum befindlichen Tafel bereits vorgefertigt war. Wenn der Produktionsprozess nun, dabei besonders in Anbetracht eines erzielbaren Sensationsrausches dank einer Internetcampagne für hunderttausende von Eltern derart durchgeführt, und mit dem Markenzeichen von überragender Genialität gekennzeichnet wurde, stehen wir unmittelbar vor der Frage eines Kunstfälscher – Betrugs! - - - Berthold war über das von ihm erzeugte Gelächter in der Runde nicht besonders glücklich. Es kam aber noch schlimmer. Kerstin, die Betreuerin in einem Behindertenwohnheim war, fand seinen Beitrag sogar außerordentlich enttäuschend. Es ist leider klar, meinte sie, dass Dein berufliches Ego wieder mal das erste Wort hat. Und möglicherweise ist auch für manche Leute hier der ökonomische Aspekt der wichtigste. Was sagte doch der Vater der Kleinen - lass mich`s noch mal lesen, Eva. Kerstin zitierte die Stelle: „Der Papa gibt zu, dass er enttäuscht wäre, wenn Änn`s kostbares“ - man bemerke das „kostbare“!, fügte Kerstin hinzu und blickte dabei ironisch in die Runde - „wenn Änn`s kostbares Talent verschwände oder wenn sie ihren Geist auf weltliche Dinge richten sollte“. Jetzt sollte doch Mireille erst mal was dazu sagen! Mireille lächelte. Ihr denkt dabei vielleicht an die Kindheit und Jugend von mir - dafür danke ich Euch! Natürlich geht es in erster Linie um die Lebenssituation des Kindes - und damit auch um seine Zukunft. Für mich gibt es da die Frage: Wann wird aus der Unterstützung von den Neigungen und Interessen eines Kindes ein Zwang? Besonders gefährdet erscheint mir da ein Kind, bei dem, wie es hier der Fall ist, die Eltern in hohem Maße Gewinn daraus beziehen. Neben der Belastung des Kindes - die Frage ist dabei auch, was die große Aufmerksamkeit für Folgen haben kann, die das Kind erfährt - neben dieser Belastung ist dann auch die Gefahr einer möglichen Einschränkung kindlicher Erfahrungswelten zu bedenken.
Die Debatte war damit angeheizt, angereichert mit vielen Erzählungen über eigene Erfahrungen, mit Diskussionen über verschiedene Erziehungsrichtungen, von Beispielen dazu aus dem Bekanntenkreis. Auch Gotthilf kam endlich zu Wort. Er war Schwabe und hatte einige Jahrzehnte der Kernenergienutzung in Frankreich gedient. In stets bühnenreifen „Vorträgen“ hatte er im „Pfännle“ regelmäßig die unabdingbare Notwendigkeit dieser Energieform beschworen. Erst heute hatte man ihm im Französischkurs „unter die Nase gerieben“ (wie er sagte, und er empfände das wirklich schon an der Grenze zum Zynismus), dass Frankreich sich im vergangenen eiskalten Winter nicht selbst aus seinen „zig Kernmeilern“, sprich mittels Elektroöfchen, erwärmen konnte. Ausgerechnet Frankreich, das doch die „Stromautonomie“ als politisches Credo „an die Wand gemalt“ hätte. Was ja wohl auch schon eine gewisse Möglichkeit in sich zu bergen schien, im Hinblick auf die Zukunft als Menetekel zu erscheinen. Immerhin hatte die entstandene Debatte dazu beigetragen, seine Kümmernisse für den Augenblick ein wenig zu vergessen. Und er begann von den äußerst bescheidenen Mitteln zu erzählen, die im Nachkriegsdeutschland verfügbar waren, insbesondere eben auch zur Förderung der Kinder, worüber man sich übrigens zu dieser Zeit auch noch kaum Gedanken machte und machen konnte. Eine kleine Schiefertafel, jawohl!! - noch die von seinem „Vatter“ . Und Farben? Ein Stück weißer Kreide hatte er, zufällig! - von irgendwoher. Und - damit! - hatten sie gemalt, alles mögliche! Kein Mensch wäre da je auf die Idee gekommen, von so was zu sprechen wie Genialität! Und wichtiger sei dabei ja auch gewesen, dass sie das „praktische Leben in den Griff bekommen“ hätten. Sie hätten gerechnet - wie die Teufel! - er und sein Freund Fritz. Und damit also schon den Grundstein gelegt - - (Ein Einwurf war an dieser Stelle fällig:) - - also doch auch schon Genialität! Alle lachten. Eva musste sich zurückhalten. Sie hatte Gotthilf noch „ein bisschen necken“ wollen, ob er nicht auch schon - traumhaft gedankenverloren - auf der Schiefertafel die ersten Umrisse eines Kernmeilers habe entstehen lassen. Stattdessen sagte sie dann lieber „etwas positives“: Der Kunst bist Du dann aber doch auch noch mit dem Klavier - äh - sehr nahe gekommen. Womit Gotthilf dann doch wieder einigermaßen befriedet erschien.
Als die Diskussion schließlich etwas mühsam wurde, schaltete sich Mathias ein. Auch Philip war bis jetzt lediglich ein aufmerksamer Zuhörer geblieben. Von Ausnahmen abgesehen war Mathias nicht besonders redselig, man schätzte ihn aber sehr aufgrund seiner Denkfähigkeit. Er war Manager - noch im Mittelfeld, aber bereits im Aufstieg begriffen - in einer größeren Bank. Rein „menschlich“ gesehen gab es bei ihm gewisse „autistische“ Verhaltensformen. Eine Folge davon war wohl auch irgend so etwas wie eine von ihm, zu seinem späten Bedauern, verpasste Jugendliebe. Von seinem Charme, ganz abgesehen von seinem enormen Wissen, wurde man immer wieder überrascht, wenn man den Mut fand, auf ihn zuzugehen. Auch wohl im Hinblick auf seine menschliche Isolierung war die Begegnung am „Stammtisch“, wie es schien, für ihn außerordentlich wichtig. Aus sozio - psychologischer Sicht, meinte Mathias, sei in so einem Fall vermutlich eine quasi normale Eltern - Kind - Beziehung nur selten vorzufinden. „Das heißt aber nicht, da0 man eine solche den Medien nicht auch vorspielen kann. Die Realität könnte in diesem Fall eine ökonomisch ausgerichtete, zwanghaft kooperative Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Töchterlein sein, derart, dass diese Beziehung so geschickt eingerichtet ist, dass das Mädchen nichts oder wenig - was weiß man schon davon?! - von einer solchen „Zwangsjacke“ spürt. Die Rechnung dafür, alles folgende, kommt dann erst später ins Haus. Zunächst mal wird die Kleine mit „süßem Brei“, dem ganzen Zirkus a` la Medien, Ausstellungen und Internet vollgestopft. Eine gewisse Genialität, besser wohl „Scharfsinn“, ist sicherlich in der Fähigkeit zu sehen, eine noch offene Nische im heutigen Kunstbetrieb zu besetzen. Mit höchstens mittelprächtigen Kunstleistungen, sag ich mal, und zweitens mittels eines Kleinkinds, dem man so was ja gar nicht zutraut. Lies doch noch mal vor, Eva, wie die kritische Beurteilung zur Qualität dieser angeblich von Änn gemalten Bilder ausgefallen war.“ Ziemlich ernüchternde Aussagen waren das. Dass es sich da um so etwas wie „Standardqualität“ handele, die einem heute überall begegnete, und überdies deutlich verschiedene Elemente einer Ästhetik der Erwachsenenwelt erkennbar wären. Demgegenüber stand dann die Meinung einer Galerie, wonach es sich bei Änn um die superbegabteste und bereits jetzt schon professionellste Künstlerin aller Zeiten handele. Über ein Interesse am Verkauf dieser Bilder müsse man bei dieser Galerie ganz sicher nicht diskutieren, meinte Eva. Besonders spannend, auch unter diesem Blickwinkel, ergänzte Mathias, sei ja doch, was sich da jetzt alles im Internet tummelte, wie viele da plötzlich auf den fahrenden Zug aufspringen wollten, und (er lachte sogar) - aus welchen Gründen auch immer - dann wieder abspringen. Die eine Stelle, Eva! Eva fand sie schnell: „Man höre und staune: Unser Kind hat schon mit 23 Monaten die gleiche Begabung gezeigt und Bilder in einer bekannten Galerie ausgestellt. Wir Eltern sind uns allerdings unserer Verantwortung bewusst und werden weder die Fähigkeiten unseres Kindes ökonomisch ausbeuten, noch dessen ganz normalen Spieltrieb - mit Farben zu malen - in irgendeiner übertriebenen Weise zu ``fördern`` versuchen“.
Mireille lachte. Klingt beinahe gut! Die Kehrseite der Medaille ist aber möglicherweise die, dass im Wettlauf um einen Platz in der kindlich - göttlichen Genialität, die Gewinnchancen wegen des zu beobachtenden Massenstarts gegen Null gehen. Übrigens frage ich mich auch, wie man die Ergebnisse dieser sogenannten Kindergenialität, bei der offensichtlich auch die Kunstfertigkeit von Erwachsenen mit einfließt, im Sinne von Kunstbewertung denn überhaupt einordnen kann.
Philip hatte in diesem Augenblick das Gefühl, direkt angesprochen zu sein. Und dabei - aufgrund seiner sich allmählich klärenden Überlegungen - auch dazu befähigt, eine Antwort auf Mireilles Frage (sicherlich etwas vorsichtig noch) zu versuchen. So sagte er: Ich denke, es ist nicht allzu schwierig, eine Antwort zur Frage von Mireille zu finden. Philip hörte sich sprechen als er dies sagte - sein Bewusstsein blitzte in ihm auf. Er hatte mit diesem Satz eine gesellschaftliche Tabuzone betreten, eine rote Linie überschritten. Er war auf dem Weg, die Bewertung moderner Kunstwerke aus einer sakralen Nische, die bislang nur irgendwelchen „Hohepriestern“ zugänglich zu sein schien, in den Raum logischen Alltagsverstandes zu bringen. Und er begegnete mit dem Satz, den er soeben locker Dahin gesprochen hatte, zum ersten Mal sozusagen einer Abordnung der Gesellschaft, in Form dieser geselligen Runde. Diese Wahrnehmung ließ ihn einem Moment verstummen. Er blickte in die Gesichter seiner Tischnachbarn, die ihm zeigten, was man von seiner Aussage hielt. Skepsis mit Ironie gemischt war da zu finden. Er wurde in diesem Augenblick ganz einfach als überspannt und überheblich, als ein kleiner Gernegroß wahrgenommen.
Nun wäre es entscheidend, dachte Philip, sich von solchen Reaktionen - die ja zu erwarten waren !- nicht beirren zu lassen. Er sprach also sehr ruhig und gelassen weiter: Vergessen wir bei diesen oder eben überhaupt bei allen Bildern - das wäre wohl ein entscheidender Punkt zur Orientierung im derzeitigen Kunstchaos - vergessen wir ganz einfach wie sie entstanden sind und was ihre Produzenten dabei im Sinne hatten. Und bewerten wir die Bilder, nach sinnvollen, rationalen Kriterien, einfach so, wie sie vor uns liegen - - -. Gotthilf bekam sofort einen roten Kopf. Und - wo bleibt die Bewertung der - der Genialität. Es ist ja – ja doch letztendlich ein - ein geniales Kind! Philip blieb weiterhin gelassen. Die Kritiker, die in dem Bericht vorkommen - über die wir im Moment wenig wissen – haben`s doch grad so gemacht, wie ich mir`s denke. Was kam raus bei der Beurteilung? Die mittelprächtige Standardqualität dieser Bilder! Gotthilf sprang auf und schleuderte seinen Arm (mit dem Zeigefinger voran) in Richtung Philip. “Dagegen haben doch die Galeristen ganz besonders auf das Verständnis von Änn für die Bildformung und auf die von ihr gemalten Strukturen hingewiesen!“ Berthold kommentierte drastisch trocken: Noch völlig unbewiesen obs überhaupt von dem Mädle kommt. Und auch Mathias musste da etwas Kontra geben: Alle Anhänger einer religiösen Sekte finden die Heiligenbildchen himmlisch, die einer der Ihrigen malt. - Kunst? Vergiss es! Philip lächelte: „ Jedweder Kitsch kann - und muss! - nach den Kriterien einer Kunstbewertung eben auch als Kunst bewertet werden können - da kriegt dann möglicherweise so manches heutzutage mit einem hohen Preis ausgestattete Kunstwerk eine rote Laterne angehängt. Aber Dein Beispiel, Mathias, ist auch insofern sehr interessant, als ja praktisch alle Bilder auf jeden von uns irgendeinen psychisch - seelisch bedingten Eindruck machen. Und es scheint mir klar zu sein, dass ein solcher Eindruck bei Menschen, die von einer bestimmten Ideologie beherrscht sind, ganz anders ist als bei irgendeinem Unvoreingenommenen. Allerdings muss ein solcher Eindruck nicht unbedingt das Gesamturteil bei einer Bewertung eines Kunstwerks prägen, wobei ja auch noch eine ganze Reihe anderer Kriterien im Spiel ist“. Die Souveränität mit der Philip seine Gedanken äußerte, wurde in der Runde mit einigem Erstaunen bemerkt. Eva sagte dazu: Philip, Du tust so, als gäbe es diese Kriterien bereits, wobei Du sie dann einfach nur anwenden müsstest. Es gab offensichtlich nichts, was Philip bei seiner - nun schon fast stoischen - Ruhe irgendwie irritieren konnte. Wie beiläufig meinte er nur, es gäbe diese Kriterien, sicherlich, aber nachdem man nirgendwo etwas darüber erführe, bemühe er sich im Moment darum, sie zu formulieren. Philip erntete einen grandiosen Heiterkeitserfolg in der Runde. Gotthilf war schier außer sich vor lachen: „Er macht eine Revolution!! - eine Kunst - Revolution!!“ Philip lächelte und meinte nur: Das liegt aber nicht an mir. Mathias hatte als einziger, wie es schien, den Durchblick. Wenn das Bewusstsein wächst, wenn also das Bedürfnis zunimmt, sich in dem Kunstchaos zurechtzufinden, dann wird sich eben der Zug in Bewegung setzen, ob wir das nun Revolution nennen oder wie auch immer. Auch Mireille schaltete sich da mit ein: Du sprichst mir aus der Seele Philip. In Sachen Kunst bin ich als Autodidaktin derzeit praktisch chancenlos auf dem Kunstmarkt - gerade weil etwas ganz anderes zählt als eine nachvollziehbare Beurteilung der Kunstwerke. Sie zögerte einen Moment und fügte dann noch dazu, lachend; Allerdings stelle ich mir die Frage, ob ich überhaupt ankommen möchte auf diesem Markt! Das war dann auch das Schlusswort zur Diskussion über den „geniale Kindkünstlerinnen“ - Report. Und die Gruppe wandte sich an diesem Abend noch einigen „wichtigeren Dingen“ zu. Philip erzählte Marina vom Verlauf des Gesprächs. Marina hatte danach die Idee, sie könnten doch einmal versuchen, Mireille in ihrer „Malecke“ zu besuchen - irgendwo in der Pfalz wäre das. Philip war einverstanden und meinte dazu, er hoffe dabei auf einen angenehmen Kontrast zu seinem jüngsten Erlebnis bei der Vernissage. Denn Mireille, als Autodidaktin, und auch völlig unabhängig vom Kunstmarkt, sei ja in keiner Weise dazu gezwungen, den allgemeinen Kunstscheiß mitzumachen. Philip verwendete tatsächlich dieses Wort! Marina war verblüfft, übernahm auch sogleich die „Aufgabe“ seines „Gewissens“, wie sie sagte, und wies ihn darauf hin, dass er diese Bezeichnung begründen müsse. Philip lachte nur und meinte: Geschenkt, ich nehme das zurück. Bei seinem Anruf fand Philip die Türe weit geöffnet vor. Mireille freute sich auf den Besuch.