Читать книгу Liebe um Liebe - Dragica Rajčić Holzner - Страница 10

Schwindel am Morgen 1975

Оглавление

Lange habe ich den Schwindel am Morgen mit dem verdorbenen Magen erklärt, das komische Gefühl in der Magengrube, aber dann ein erstes Erbrechen in der Solinska ulica, kurz vor dem Gymnasium. Scham, was jetzt? Gleichzeitig schaute mich die Sorglosigkeit der Schülerkollegen an. »Bist du krank?«, hörte ich Tea fragen. »Nein, nein, mir ist nur schlecht«, sagte ich leise und wischte den Mund mit dem Ärmel meines schwarzen Schulkleids ab, »Magen verdorben.« Nach der Schule legte ich mich ins Bett und weinte den ganzen Nachmittag.

Im Haus gab es noch immer den sogenannten tatsächlichen Ablauf der Tage, das ganz normale Vergehen der Sekunden, Minuten, jetzt aber in unnatürlichem Rhythmus. Den Großmutter-Morgen-Kaffee, den Teller mit der Ochsenschwanz-Suppe zu Mittag. Die Ernte der Abenddämmerung lag auf dem Balkon, geschnittene Salatköpfe, noch verschmutzt, wanderten in Körbe, dann mit dem Zug nach Zagreb. Der Geruch nach frischem Wand-Verputz, die Großmutter auf dem Stuhl vor den Türen, das Baby haltend, die unbeweglichen Gesichter der Familienleben-Protagonisten wie in einem Stummfilm, welche wie immer nur mit dem Kochen, Arbeiten, Schlafen, dem Gartenbewirtschaften beschäftigt waren. Meine Ohren sollten taub werden, um nichts zu hören, das Klappern des Geschirrs, die Stimmen des Fernsehers, Hundegebell. Ich hasste vor allem den Ablauf der Zeit, den Tag und die Nacht, ihre Ausdehnung in eine Zukunft, die für mich über die Grenze des Vorstellbaren hinaus reichte ins Leere, in die Dunkelheit. Gäbe es eine Möglichkeit, sich aufzulösen, zu demineralisieren, einfach von diesem Bett in die Luft, nie da, nie da? Diese Normalität schläferte ein, war unerhört, weil sie sich nicht mit einem Schlag zur Veränderung entschließen konnte. Damals, als die andere Großmutter starb, hörte ich Mutter sagen, das Leben gehe weiter. Nein, das Leben stand weiter. Die Stühle sollten Plätze tauschen, bis sich das Kind auflöste, alles sollte mal zur Ruhe kommen wie im festgehaltenen Timeout in einem schlecht angefangenen Spiel, dessen Fortsetzung überdacht werden musste. Ich lag in meinem Bett und wollte mich vor den Verlauf der Zeit stellen, um ihn aufzuhalten. Ich betete ganz fest, soll der Gott einen Beweis erbringen, ein einziges Mal, gerade jetzt, und die Zeit stillstehen lassen, ein Erdbeben auslösen, Gott soll sich zeigen oder schweigen. Betend will ich dieser Stimme folgen. Verbirg dein Angesicht nicht vor mir, ich will sterben, damit ich (ewig) lebe und dich schaue von Angesicht zu Angesicht. Heiliger Augustinus, hilf mir.

Die Schuldigkeit wuchs in mir, im Körper, die Brüste hatten das Wachstum innerhalb von zwei Monaten aufgeholt, das Geheimnis wurde sichtbar, kein Stein würde auf dem anderen bleiben. Es wunderte mich an der Busstation, dass die Busse vom selben Ort wie immer abfuhren. Der Diesel-Geruch aus dem Auspuff, der schlechte Geruch aus allen Poren der Materie strömte in meine Eingeweide, Fisch, Fleisch, Gulasch, Brot, Spargel, Gemüse, Sauerkraut, Nylonsäcke voll von Essen in den geschwollenen Händen vom Markt zurückkehrender Frauen in dunklen Kleidern, welche sich mit einem Seufzer auf die Busparkplatzbänke stürzten und die Einkaufstaschen auf den Boden, neben die Füße stellten. Die Fischaugen versteckten sich im Dunkeln der Taschen, Sardellen sind die billigsten und besten, sagte Vater – immer riefen sie mit dem Gestank ihres sich auflösenden Lebens um Hilfe. In diesem Bus, welcher nur aus den Ausdünstungen der Gegenstände und Menschen zu bestehen schien (oder immer bestanden hat), konnte eine ungewollt schwanger gewordene Schülerin sterben. Vom Gestank? Die beste Freundin der Mutter erhängte sich eines Morgens in der Nähe unseres Hauses, sie hatte schulterlange, dicke schwarze Haare und war schön wie Maria, die Mutter Gottes. Wo einen Strick nehmen, wann zum Baum gehen? Wer wird mich finden?

Ich versuchte nur so wenig wie nötig einzuatmen, ich konnte mich nicht mehr schützen, weil sich diese Gerüche verschworen hatten, das Geheimnis in mir anzugreifen, und was wäre offensichtlicher, als in Ohnmacht zu fallen, mitten in die Schüler, mitten in die Dorfgesichter zu stürzen und den Kaffee wieder auszukotzen? Dies wird bald den Eltern zu Ohren kommen, ein immer runder werdender Bauch wird sich zu den Augen des einen oder anderen heben und dann wird laut ausgesprochen, was Sache ist. Ana ist eine Hure. Die Schulkinder mit ihren noch immer gleichen Gesprächen in den Pausen, Berichten über Basketballspiel und Disco-Besuche … In ihren Bäuchen wuchsen keine Kinder heran. Ich muss es töten, bevor Vater mich tötet. Wie? Der Schulstoff, die chemischen Elemente, welche sich plötzlich verbinden oder spalten, ihre Vektoren, die Beschaffenheit der Metalle und Edelmetalle, die Proteine, die Geografie, der Ursprung in der Expansion der Explosion im Universum, welches bis dahin als ein unendliches zeitloses Nichts existiert hat, woher? Die Namen der Ozeane und Verschiebungen der Kontinente, die Geschichte der Planeten, welche sicher noch keine endgültige Form angenommen haben, die lange Geschichte, welche unvorstellbar ist aus einer Logik, die sich selber beerdigt.

Die Fortpflanzung der Arten, eine chemisch-biologische Tatsache, interessierte mich außerordentlich. Dann die Philosophie. Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Seins? Ich möchte Wissenschaftlerin in Laboratorien werden, mit Handschuhen an den Händen, die Eltern sezieren, damit die Menschheit gesünder wird. Ich lerne, indem ich Nietzsche, Freud, Jung, Fromm und Adler lese und über unser monsterhaftes Leben im Tagebuch schreibe. Meine Diagnose: ein Vater ohne Selbst, eine Mutter ohne Hoffnung, ein libidinös entflammter Onkel, alle Dummköpfe oder Trinker, Waschlappen, wohin ich blicke, Ödipus bindet alle an die Großmutter mit ihrem Machthunger. Alle aus dieser Familie könnte ich wie Abfall in den Wald führen, neben der Straße auskippen, ohne Herzzuckungen, richtige Menschen kann man aus ihnen nicht mehr machen, Menschen, die in den Büchern so gut leben, duftend, schön, tragisch, Madame Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, gut, ihr Unglück waren die Männer und die, welche nicht hielten, was sie versprachen.

Sie tragen Hüte, zartblumige, und weiße Blusen umspielen ihre Oberkörper. Sie selber sind wieder umspielt von den Bediensteten in einem riesengroßen Haus, welches mit Ölporträts, Zylindern, Musikinstrumenten und mit weißem Porzellan auf den Tischen eine fantastische Kulisse abgibt. Andere Menschen haben Ehre, Leidenschaft, Klugheit, Weitsichtigkeit und Helligkeit und sie sind zur Liebe fähig oder wenigstens so ganz, ganz schlimm traurig.

Undenkbar, dass Vater und Mutter je nackt zusammen gewesen wären. Ich las einen Liebesbrief der Mutter an Vater, vita jela zelen bor čekam brzi odgovor, sie nannte ihn sunce moje. Ein Brief kann nicht das ganze Leben der beiden zusammenhalten.

Liebe um Liebe

Подняться наверх