Читать книгу Liebe um Liebe - Dragica Rajčić Holzner - Страница 8

Kindheit 1965

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In die Geldtasche hatte Vater mein Gesicht gesteckt, das erste Foto für die Vergünstigung, für den Familien-Angestellten-Ausweis der Eisenbahn-Mitarbeiter. Er trug den Ausweis immer mit sich und dieses Kind, ein in sich versunkenes Kind mit großen dunklen Augen, mit dem Haarschnitt eines Jungen, Scheitel auf der linken Seite, geölt, gekämmt, schmale Pulloverzöpfe bis zur Brust. Dann hörte das Foto auf. Das Kind starrt in sich hinein, abwesend, fragend. Das Kind ist nicht verängstigt, eher neugierig. Abstechende Ohren fallen auf, große. Ein Heiratshindernis, obwohl die Mutter sie mit einem Wundpflaster anklebte, damit die Chancen, später für das Mädchen einen Bräutigam ausfindig machen zu können, sich vergrößerten. Dieser nach innen gerichtete Blick, ich schaue dieses Kind in mir an und es scheint mir unmöglich zu begreifen, dass dasselbe Ich in mich heute hinübergerettet wurde.

Die Mutter schloss sich manchmal hinter der Schlafzimmertür ein und kam für Stunden nicht heraus. Eine seltsame Unruhe ohne Lärm, wenn sie nach den Gegenständen griff, ihre Stimme, die Befehle oder Warnungen austeilte, verstummt. Wenn sie aus dem Zimmer endlich wieder in der Küche auftauchte, mit geschwollenen Augen und schmalen Lippen, bekam die Küche ihr normales Gesicht. Die seltene Erinnerung, wie sie lachte beim ersten Schneefall; sie spielte und lachte und warf Schneebälle um sich. Der Geruch ihres Schweißes und der Härchen unter den Armen, wenn sie uns wusch. Als sie die Sehbrille bekam, wurden ihre Augen vor der Welt geschützt. Schwarz umrandet, undeutlich.

Der Vater hütet das kleine Häuschen am Bahngleis-Übergang. Mit dem Vater kommt die Stille ins Haus. Wenn Besuch aus Glück bei ihnen ist, ziehen die Eltern eine andere, lachende Gesichtshaut an und die Wörter werden laut hinausgesagt. Wenn die Kinder allein mit den Eltern zu Hause sind, geben diese kürzeste Befehle durch geschlossene Lippen.

Der Wächter der Familie, der Fürst mit blauen Augen, Vater, der Gesetze und Regeln gab, die keines der Kinder gründlich ausführen konnte. Sein Lachen wäre Verschwendung der Zeit, nur die Nachbarin Jasna brachte ihn zu einem seltsamen Kichern. Er zeigte den goldenen Zahn beim Reden und einen silbrigen beim Fluchen, welcher weit hinten im Mund lag. In ihm kochte eine Zornmilchsuppe, die jederzeit überschwappen konnte wie Milch. Er konnte es auch immer begründen: Hast du keine Augen im Kopf? Er liebte lange Reden vor den Ohren anderer. Wir Kinder hatten kein Wort, sondern dienten als Empfänger seiner Verheißungen. Die Antwort: den Kopf senken und still sein. Die Disziplin, welche er erwartete, förderte, was er als gute Erziehung ansah; sicher war, dass es in seiner Macht stand, die Kinder zu biegen und zu brechen. Er musste aus Kindern die Schlechtigkeit aller Menschen rechtzeitig austreiben. Die Dorfprimitivität ein für alle Mal aus ihnen verbannen, des Dorfs Glück, in dem er nur primitive Menschen sah.

An Weihnachten verfiel er in eine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit, weil es sich so gehörte, weil er sich in der Rolle des feierlichen Vaters gefiel. Weil Weihnachten war und die Kinder sollten sich an Weihnachten erinnern, weil er zwei Gläser bitteren Pelinkovac-Likör trank und den Kindern die Geschichte erzählte, wie er einem Wolf auf dem vereisten Fluss den Schwanz aus dem Körper gerissen hatte. Die Kinder trauten dieser Verwandlung nicht ganz und saßen auf seinen Knien, jederzeit bereit, abzuspringen. Die Mutter und die Großmutter hängten sich nicht an die gute Stimmung an, warnten ihn vor dem Alkohol, welcher ganze Familien schon zerstört habe, er werde auch seinem Magen nicht guttun. Der Vater brach in Zorn aus, schüttelte die Kinder von seinen Knien. Ihr gönnt mir gar nichts, wann war ich je betrunken? Die Kinder wünschten sich so sehr einen betrunkenen Vater, der Geschichten erzählte und scherzte. Weihnachten, das so kurz nach dem Schweineschlachten kam, hieß Zuckerbonbons auf dem kleinen Tannenbaum am Esstisch, Orangen darunter, Baumwolle, Watte, vier Glaskugeln wurden aufgehängt (wegen der Kinder). Aber die Kinder verstanden nicht, was gut daran sein sollte, diese Sachen zu sehen, aber nicht essen zu dürfen, die zuckerweißen Bonbons, die in Glitzerpapier eingewickelt waren. Es war unvorstellbar, was Weihnachten sollte und was die kleinen Kerzen, die in Öl schwimmenden Kerzen unter dem Baum, mit der Seele des Großvaters (den toten Seelen) zu tun haben könnten.

Dann die Nachmittage, an denen die Kinder zu Gott beteten und ihn baten, den Vater verschwinden zu lassen, er soll sterben, lieber Gott, aber der Gott sollte nicht verraten, dass er auf die Kinder hörte. Die Schrecklichkeit dieses Hasses, der ihre kleinen Körper zerschmetterte, so wie der Schmerz des Hosengürtels ihre rot gestreifte Haut platzen ließ. Dieses Brennen der Haut, das nicht zu stoppen war, und dann die Tage, an welchen das Sonnenlicht kam, an welchen sie Trost im Weglaufen fanden und im Versinken in den Schlaf. Die vergebliche Mühe des Gebets zeigte sich immer, weil ihre Schuld schon im Vorhandensein lag, nicht auszulöschen war.

Die Kinder quälten die kleinen Tiere und schauten zu, wurden herzlos, wenn kleinste Vögel im Nest ihren Schnabel aufsperrten und nach Luft rangen, wenn ihr Kopf sank und sich nicht mehr bewegte. Die Kinder überfütterten sie mit Feigenfleisch.

Die Kinder hatten Angst vor der Strafe, vor dem Hosengürtel, die Wunden sahen im Frühling schrecklich aus auf weißen Oberschenkeln. Erst dunkelblau, dann gelblich.

Ich sehe mich sitzen, auf einem flachen, unregelmäßigen, großen Stein auf dem halben Weg, welcher von der Straße berghinauf führt. Schutt und Steine hat Vater nachgefüllt, um den Weg auszubessern, damit das Pferd es leichter hat, den Wagen bis zum Haus hinaufschleppen kann. Der Stein drückt unter dem Gesäß, der dünne Stoff des Sommerkleidchens ist hinaufgerutscht, ich spüre den Stein unter dem Gesäß und den Oberschenkeln, der Stein klebt an der Haut.

Auf dem zweiten Foto, das in jenem Sommer gemacht wurde, auf dem Dorffest, hat die Mutter kleine Augen, durch das Schauen in Richtung Sonne und Fotokamera sind die Mutteraugen noch kleiner als sonst. Um ihren Kopf ist ein dünner Zopf gewickelt, weiße Sandalen, Schürze und eine helle Kurzarmbluse. »Schau, wie dünn ich da bin«, jedes Mal hat sie das gesagt, wenn ich dieses Foto mit ihr angesehen habe.

Ich sehe mich in der Spiegelkommode des neuen Elternschlafzimmers. Mutter hat Wasser erwärmt und es vor das Haus gestellt. »Du musst dich waschen, hinter den Ohren schrubben, hinter den Ohren sammelt sich am liebsten Schmutz.« Mutters Hände tun weh.

Ich erinnere mich nur an den Geruch des nassen weißen Stoffs, den sie wäscht, ich sehe die runde glitschige Seife aus Mutters Händen in den Wassereimer fallen, die Haare unter den Oberarmen, kleine Hände mit schmalem Goldring, ihren blumigen Unterrock, Combine genannt, darüber den Faltenrock. Mutter näht mit der linken Hand. Das Kleid mit Schiffen, das Mutter genäht hat, trage ich in der Erinnerung die ganze Kindheit. Mutter singt leise, kaum hörbar … meine Blumen, mein Glück, deine Ljuba … moj gaj, moja sreća, tvoja ljubav.

Ich glaube, Großmutter ist auf der Reise, die Großmutteraugen haben sie nicht beobachtet.

Einmal sagte Vater feierlich: »Wir gehen nach Čačak.« Nach diesen Worten hatte ich eine geräuschlose, steigende Aufregung in den Augen, in den Ohren, mein Herz unter dem vergilbten Unterhemd klopfte bis in den Rücken. Eine Zugreise, morgen. Die Reisekleider lagen schon auf Großmutters Bett, die Kleider, welche ausgeliehen waren und nur zu dieser Gelegenheit angezogen werden sollten. Ein hellgelber Wollpullover mit Zopfmuster, der um Gotteswillen nicht beschmutzt werden durfte, weil er von Tatjana Jagoda, der Cousine, ausgeliehen war. Tatjana Jagoda sprach Italienisch mit Nonna und Nonno und war ein »Augenapfel« für alle. Der Wintermantel wurde auch ausgeliehen. »Weil das Kind kalt haben wird«, sagte Mutter zum Vater; er hatte Holzknöpfe auf beiden Seiten, dunkelblau.

Der Vater trug seine dunkelblaue Eisenbahnuniform mit den Messingknöpfen und das blaue Eisenbahnhemd. Auf der Jacke der Uniform stand mit gelben Buchstaben geschrieben: JŽTP, Jugoslavensko željezničko transportno poduzeće.

In meinen Ohren klang diese Bezeichnung geheimnisvoll. Fernglück, das durch die Augen strömte, hinaus, hinein, eine Reise mit dem Zug. Die lange Nacht und den Tag der Zugreise über machte ich kein Auge zu, eine Zugreise nach Čačak. Aus Angst, allein zu sein im Korridor des nach Benzin stinkenden Zuges, ging ich nie auf die Toilette. Vater wird das nach der Rückkehr immer wieder erzählen. Der Geruch des Zugabteils, Urin, Holz, ölig, Häuser, welche mitreisten, draußen vorbeiflogen und von Bäumen begleitet wurden, Stromstangen wie Bleistifte. Ich war ein folgsames Kind, unglaublich gut hätte ich die Reise überstanden, wie eine Große, wird Vater sagen, an die Worte des Vaters erinnere ich mich. Ankunft. Treppen nach oben, Holztreppen. Ein dünner Mann, den ich Onkel nennen sollte, Onkel Tetak, der keine Kinder hatte und mich fest kitzelte. Ich weinte vor Lachen.

Ohne Großmutter ein einziger Ausflug als Familie nach Split. Eine Fotofamilie, die mit Wasser, Seife, dem neuen Rosenrock der Mutter präpariert wurde, auch mit dem glatten Gesicht des Vaters, welcher der Regisseur des Ausflugs war, mit Eis in zitternden Kinderhänden, weil sie sich in der Stadt nicht zu benehmen wussten und schnell schmutzig werden konnten. Die Mutter ernstfröhlich, weil das Kleid aus Italien stammte, nur an dem Tag angezogen werden durfte und sie erhellte, fremd machte, das Rosenkleid, und der Vater hatte ein Polyesterhemd, welches mit einer Farbtablette gekocht wurde, um blau zu werden. Mutter, ich und mein Bruder. Für den Ausflug wurden wir über Nacht anders, als wir gestern gewesen waren, eine vorsichtige Imitation der Städter, wobei der Vater als Einziger keinen wirklichen Respekt zeigte und als Anführer dieser unmündigen Familie mitging. Er hatte geölte Haare, die Frisur zeigte seine Weltläufigkeit, welche aus verschiedenen Tuberkulose-Aufenthalten in Spitälern in Zagreb und Varaždin bestand und aus Besuchen der Abendschule in Split. Auch seine Sprache und sein goldener Zahn konnten durchaus zu einem anderen Mann gehören wie auch die Kinder, die schon in der kleinen Küche ganz unpassend saßen, die Kinder, welche die Wörter flüsterten, weil sie nicht wussten, wie die richtige Stadt-Aussprache war und wie richtige Wörter auszusehen hätten. Ich konnte die herben Wörter der Erwachsenen aus Glück auswendig, aber für Split musste man sie waschen. Mutter trug eine Brille, was auf die Vererbung eines Sehfehlers mütterlicherseits hinwies. Diese Brille entfernte Mutter von den gesunden Bauern, aber sie brachte sie nicht in die Nähe der Städter, obwohl auch Städter Brillen trugen, aber die hatten andere, schönere Gestelle, nicht solche schwere schwarze. Gott sei Dank hatte Mutter ihre Zöpfe abgeschnitten, fürs Erste wurde eine halblange Version gewählt, weil es auch andere vergleichbare Frauen so hielten in diesem Wettbewerb der angleichenden Verwandlung, wobei keine zu schnell bei der Imitation der Stadtmenschen sein durfte. Das hat geholfen, dass die Mutter an diesem Tag nicht ganz wie Mutter war.

Split bestand aus Vaters Hemden in den Schaufenstern, aus Tellern, Wintermänteln, Unterhosen, Schuhen, Uhren, Büchern, Küchen, diesen unglaublichen Dingen, die Stadtmenschen beseelen, weil sie Teil ihres Lebens sind. Der Gestank der Fische auf dem Fischmarkt Ribarnica störte unser Bild, gesalzene Sardellen in den Holztöpfen, davon hat Mutter, als sie mit mir schwanger war, sechs Stück gegessen. Die Steinkinder im Park, aus deren Fingerkuppen Wasser spritzte, all dies gehörte zu einer Erhabenheit der Stadtmenschen, welchen wir nicht angehören, aber wenn wir groß würden … Vater nannte uns die Namen der Ärzte, die Namen der Straßen: Solinska, Prvoboraca, Bosanska Firule, Bačvice und Meje. In Meje, sagte er, wohnten die, welche es geschafft hätten, in einer Vorzeit den Reichen alles wegzunehmen, von Volksfeinden was zu retten, richtige Kommunisten.

Wir trauten uns fast nicht zu atmen, sondern schauten auf die Schuhspitzen beim Treppensteigen. Auch andere Familien stiegen stolz die Treppen hoch zum Marjan, wo der Zoologische Garten war, wobei ich nicht wusste, was Zoološki vrt bedeutete, nichts wusste, abgesehen von dem Wort. Ich stellte mir Tiere vor, die eingepflanzt wie Rebstöcke oder Bäume im Garten wuchsen. Am meisten liebte ich unseren Hund, der ständig bellte. Ich wollte immer eine andere Familie, einen Park, ein gelbes Haus, einen Papagei, Lackschuhe, ein schönes Kleid, Locken am Kopf. Zeichnungen, andere Zeiten, andere Menschen standen im Fortsetzungsroman auf der letzten Seite von Slobodna Dalmacija. Vater schlug den Bruder mehr als mich.

Die andere Großmutter fragte mich, wo ist dein Bruder, ist er in lokva, in der Tränke? Und ich dachte, ich sah ihn, wie er ins Wasser ging, als die Kühe von der Weide kamen.

»Er ist sicher in lokva«, sagte ich zu ihr. Großmutter rief nach den Nachbarn, zwei Männer nahmen die Schnur, sie suchten den kleinen Bruder im Wasser der Kuhtränke. Die Tante und die Großmutter weinten laut, plötzlich tauchte er an der Hand des Onkels auf, alle waren erleichtert, freuten sich, dass er nicht ertrunken war. Die Großmutter schlug mich, sagte: »Du hast falsches Zeugnis abgegeben, du Miststück, bist wie deine Mutter.« Ich weinte. Hatte Angst, dass die Großmutter das dem Vater erzählte, er mich auch schlagen würde.

Es war dieselbe Kuhtränke, dort, wo damals die erhängte Freundin der Mutter hing.

Mutter kam nach Hause vom Vieh-auf-die-Wiese-Treiben, sagte: »Besa hat sich bei der Kuhtränke erhängt, arme Besa.« Besa, die mit dreizehn Jahren aus ihrem Haus gestohlen und in derselben Nacht vergewaltigt wurde. Besa verlor den Verstand, ihr Mann nahm ihr dann zwei Kinder, arme, blöde Besa.

Viel früher warf Mutter Schneebälle und lachte laut. Sie spielte wie ein Kind, sie war verliebt in einen wunderschönen Nachbarn, der öfter zu uns kam, ich sah es, ein Spaziergang mit ihm, ein Lachen im Duett, immer lachte sie mit ihm, glücklich. An einem Nachmittag aber redeten sie unbekannte Worte, sie wischte sich die Augen trocken. Er floh nach Frankreich. Sie verwelkte, wurde trüb, unberührbar, sie versteckte sich in Salatpflanzen. Ihre Schwiegermutter betrachtete sie misstrauisch.

Sie war einundzwanzig, als das Lachen aus ihrem Gesicht verschwand.

Jahrelang hörte niemand seinen Namen.

Vater hatte zu der Zeit Tuberkulose, die ganze Familie war zu ernähren.

Wir hatten tagelang Schlangeneier gesucht und nie gefunden. Und dann endlich? Der Bruder entdeckte Schlangeneier in der Wand, es waren glitzernde kleine Wunderdinge. Vater rief ihn aus der Küche, er meldete sich nicht, der Vater rief noch lauter, noch lauter, der Vater suchte ihn, der kleine Bruder sei verschwunden, sagte er. Vater durchsuchte das ganze Grundstück, fragte die Nachbarn, niemand hatte ihn gesehen. Dann, ins Haus zurückgekommen, entdeckte er sein Versteck unter dem Bett, packte ihn mit beiden Händen unter den Armen, warf ihn aufs Kinderbett und rief: »Mit der eigenen Hand töte ich dich, du hast mir solche Angst eingejagt, nie mehr, nie mehr, hörst du.« Der Bruder war blau angelaufen vom Weinen. Die Großmutter sagte ganz leise: »Es sollen deine Hände abfallen, dabogda.« Ich beobachtete alles aus dem Versteck hinter der Großmutter und konnte nicht helfen. Ich wollte, Vater hätte mich geschlagen, ich schämte mich.

Liebe um Liebe

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