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Großmutters Vision 1919
ОглавлениеWärmere Tage kamen schon im Februar über Glück. Viele Männer aus dem Dorf gerieten in Deutsch-Tirol in Kriegsgefangenschaft. Ein verlorener Großer Krieg und ein Elend. Ein Dreiländer-Königreich statt dem K.-u.-K.-Reich, es entstand auf seinen Trümmern. In dem Dreiländer-Königreich gewannen die Bauern nichts außer Krankheiten und Witwenschaft und Sichplagen für die trockene Brotrinde. Großvater wurde nicht eingezogen, weil er schon Familie hatte, sein älterer Bruder verletzte sich den Fuß mit einer Axt, damit er zu Hause bleiben konnte. Einigen anderen wie Onkel Grgo ging es noch schlechter, er kippte sich Säure in die Augen und wurde blind.
Der hinkende Bruder konnte zu Hause bleiben und heiraten, dann aber nahm die Spanische Grippe seine Frau und die vier Kinder mit in den Tod, es wäre besser, sagte er, er wäre auch tot, das Weiterleben sei ein Strafvollzug des unbarmherzigen Gottes, mit dem er nichts mehr zu tun haben wolle, mit dem nicht.
Großmutter Marta Grlović war zwei Jahre verheiratet. Die Spanische Grippe hat das halbe Dorf Glück zu Grabe getragen, ihre zwei Kinder starben einundzwanzig und einunddreißig Tage nach der Geburt.
Das Schicksal bückte sich zu Großmutter hinunter und sandte ihr ein Wunderzeichen: Ein weißes Pferd, rund wie ein Ball, mit drei Beinen und spitzem Kopf, wie dem einer Ziege, geht geräuschlos neben Großmutter, während die Steine unter ihren Füßen quietschen. Großmutter traut sich kaum zu atmen, als sie den Kopf nach hinten dreht, zum Großvater, sie hat keinen Ton in der Kehle, öffnet den Mund, um zu sagen: Schau, schau, was ist das? Aber sie starrt ihn nur sprachlos an, hat die Stimme verloren. Großvater merkt gar nicht, dass sie ihm etwas sagen möchte. Das runde Pferd geht eine ganze Ewigkeit auf der linken Seite neben ihnen. Großmutter kann kaum atmen, das sind die letzten Minuten unseres Lebens, denkt sie. Das Unheimlichste, was passieren kann, ist, die eigene Stimme zu verlieren, wie sie sie schon damals im Kinderbett verloren hat, im Winter, in dem Wölfe Schafe gerissen haben.
Dann, so plötzlich wie es gekommen ist, verschwindet das runde weiße Pferd. Großmutter versucht, wieder ihre Stimme zu finden, und es gelingt ihr, zu flüstern: »Das Pferd ist neben uns gelaufen.« – Großvater fluchte: »Verdammt, du hättest es mir sofort sagen sollen. Nichts ist neben uns. Sapperlot.« – »Es war ein Zeichen des Himmels, ich konnte dir nichts sagen, meine Stimme war weg.« – »Was für ein Zeichen des Himmels?« Der Himmel war sternenbedeckt und klar. Vorahnung. Botschaft. Unglück kam auch so. Was war’s denn?
Eine Zeit lang gab Großvater der Großmutter die Hand und sie hielt sich daran fest wie ein Kind. Großvater glaubte nicht, dass sie das runde Pferd gesehen hatte, aber er sagte nichts. Sicher sei sie so schwach von der Entbindung und vor Hunger, dass sie Geister sehe.
Großmutter wollte sich nur hinsetzen, die Angst austreiben an der Brust des Großvaters, sie nahm ihre Schürze ab, der Großvater legte sie auf den steinigen Boden, dann seine Jacke darauf. Er schob Großmutters Unterkleid hinauf, sie mussten sich wärmen. Nachdem es vorbei war, weinte sie leise, ohne dass Großvater etwas davon merkte. Unter dem Herzen der Großmutter wuchs mein Vater heran.
Mein Vater war nicht in dieser Nacht in die Großmutter gekommen. Das runde Pferd wird so vieles wiedergutmachen müssen.
Gab es einen finalen Pfiff, eine Poleposition für alles, was später daraus entstand?
Die Entführung des Mädchens als Ausgangspunkt des Unheils für ein ganzes Dorf? Ein dreizehnjähriges Mädchen, festgehalten auf dem Pferd, sie hatten sie belogen, gesagt, sie solle zu ihrer Schwester nach Glück kommen. Es war sonderbar. In der Nacht, warum in der Nacht? Vielleicht war’s gegen Abend. Das Kind mit wunderschönen schwarzen Haaren, auf sie hatte es der alte Witwer abgesehen, aber der Plan wäre fast gescheitert. Die Besa, so hieß die Schöne, hütete Schafe und spielte mit anderen Dorfkindern oberhalb der großen Greda, der Witwer, ihr Entführer, trank Wein vor dem Haus ihres Onkels. Er redete über die Viehpreise, sagte, dass er dieses Jahr kaum etwas verdient habe, weswegen er jetzt die Besa zu ihrer Halbschwester nach Glück bringen werde, damit sie ihr helfe. Die Schwester habe nämlich mehr Vieh gekauft, er bringe Besa zu ihr. Er wollte vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein in Glück, er stellte sich vor, wie das Mädchen vor ihm auf dem Pferd sitzen würde, seine Hände auf ihrer Brust. Er hatte sie im Sommer bei ihrer Halbschwester gesehen, seitdem dachte er an das Unmögliche, wie er sie entführen, in sein Haus bringen könnte. Ihre Schreie in dieser Nacht hörte das ganze Glück, sie verstreuten sich und versanken, keine Hilfe. Besa verlor nach dieser Nacht ihren Verstand. Sie gebar dem Vergewaltiger zwei Kinder. Dass dieser Mann vorher die Frau seines Bruders geschwängert und dann eines Nachts ermordet hatte, in Lokva, wusste das ganze Dorf, die Untersuchungskommission aus Split fand nichts heraus. Es wusste auch, dass Besas Enkel seine Frau in der Hochzeitsnacht mit drei Stichen fast getötet hätte, dass er im Krieg gewesen war und später in den besten Militärakademien, dass er nicht verurteilt werden konnte.