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Schreck in der Morgenstunde

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Als Ronja Vivienne aufwachte, schien die Sonntagssonne bereits warm in ihr Zimmer und blendete sie im ersten Moment in ihren blauen, noch etwas schläfrigen Augen. Doch schon bald war sie hellwach, schlüpfte ohne weiteres Bedauern aus ihrem kuscheligen Kojenbett, schnappte sich von ihrem Stuhl die Klamotten von gestern und verschwand im Badezimmer. Ihre Mutter Eva rümpfte zwar immer die Nase, wenn sie diese Klamotten mit in ihr Zimmer nahm, weil sie den Geruch - ganz im Gegensatz zu ihr selbst - nicht ausstehen konnte. „Vivi!“, pflegte sie zu sagen. „Die Kleidung stinkt! Dein Zimmer ist doch kein Stall!“ Leider, dachte Vivi dann immer. Kopf an Kopf mit den Islandpferden zu schlafen war ihr Traum. Aber Eltern sind da eben komisch.

Eine kurze Wäsche reichte Vivi heute, sie nahm sich die Bürste und ein dickes, hellblaues Haargummi und band ihr aschblondes, leider recht dünnes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Gut gelaunt schlüpfte sie in ihre halbhohen, etwas derben, jedoch äußerst praktischen Reitschuhe aus Fettleder, denen man den intensiven Gebrauch ansah.

Das Wohnhaus, in das sie mit ihren Eltern vor gar nicht so langer Zeit gezogen war, hatte einen Zugang über die Diele, eine praktische Dreckschleuse. Hier hatte Vivi auch ihre Schuhe, Stalljacken, Halfter und vieles mehr, was man im Umgang mit Pferden brauchte, untergebracht.

Das alte Haus bot ihnen allen viel Platz. Hier und da war noch Renovierungsbedarf und die Räume wurden im Winter nicht so warm beheizt. Dafür gab es in der Küche einen Holzofen und einen gemütlichen Kamin im Wohnzimmer. Für den Rest halfen warme Socken, Puschen und Wollpulli. Der Kopf blieb jedenfalls kühl und das war angenehm so. Vivis Oma hatte es immer so warm bei sich, dass Vivi davon ganz müde und mall im Kopf wurde. Dabei hieß ein alter Spruch doch: „Kopf kalt, Füße warm, das macht den reichsten Doktor arm!“

Vivi ging zur Diele hinaus in Richtung Paddock. Die beiden Isis, also Islandpferde, waren Mutter und Tochter. Sie hatten einen netten Offenstall mit Auslauf, dem Paddock. Um diese Zeit hatten sie immer Hunger - kein Hunger war bei den beiden ein Alarmzeichen!

Vivi rief sie beim Namen: „Kella, Kinning!“ Doch weder ein schwarzbrauner Kopf mit unregelmäßiger noch einer mit regelmäßiger Blesse tauchte auf!

„Nanu,“ wunderte sich Vivi, „da stimmt etwas ganz und gar nicht!“ Besorgt kletterte sie schnell über das Paddocktor in den gut eingezäunten Paddock und ging zum Offenstall. Alles, aber auch alles leer! Nicht eine Schweifspitze war zu sehen! Leer und verlassen! Der Schreck fuhr Vivi in die Glieder als sie wahrnahm, dass die Ketten am kleinen Durchgang neben dem Offenstall locker am Pfosten herunterhingen. „Scheiße!“, entfuhr es ihr wenig damenhaft. „Ich Idiot habe die Ketten gestern Abend nach dem Abäppeln nicht wieder eingehakt!“ Schnell lief sie über das Anwesen, aber nirgendwo war auch nur irgendein Hinweis auf die Ponys! Es blieb zu ihrem Entsetzen dabei, die beiden Isis waren weg - ohne eine Spur zu hinterlassen... Vivi wurde es abwechselnd heiß und kalt, die Knie waren wackelig. Weg, weg, weg dröhnte es in ihrem Kopf!

Was, was um Himmels Willen, konnte sie nun tun? Panik kam in ihr auf. Ausgebrochene Ponys waren beileibe kein Spaß! Die Straße in der Nähe war vielbefahren! Düstere Szenarien von verunfallten Ponys und Autos sowie Menschen schossen ihr durch den Kopf. Die Angst lähmte sie. Vertrieb das letzte bisschen klaren Verstand aus ihrem Kopf. Sie spürte es ganz genau, sie wollte schreien, weinen, heulen. Sich hinschmeißen und nie, nie wieder aufstehen. Aber jetzt kam zum Glück ein Funken Vernunft zum Vorschein und donnerte in ihrem Inneren: „Vivi, jetzt reiß dich zusammen, davon wird es nicht besser! Ruhe noch einmal! Überlegen und dann handeln!“

Vivi schluckte, atmete tief durch und sagte sich selbst: „ Immerhin kennen beide Ponys Verkehr und sind auch vieles andere gewohnt. Trotzdem bleibt es gefährlich.“ Sie wurde langsam wieder klarer!

Vivi brauchte jetzt Hilfe! Sie lief zurück ins Haus. Ihre Eltern waren gerade aufgestanden. Eva, ihre Mutter, kochte Kaffee. Das schulterlange und ebenfalls aschblonde Haar wollte mal wieder nicht so, wie es Eva gerne gehabt hätte, deshalb strich sie es andauernd zurück übers Ohr. Insgesamt sah Eva zierlich und schmal aus, fast knabenhaft in ihrer Jeans und dem T-Shirt. Kristoph war am Tischdecken. Vivis Vater war ebenfalls schlank, aber sein Haar war dicht und dunkel - naja, jedenfalls stellenweise noch. Er gehörte zu denjenigen, die früh meliertes Haar hatten, dafür ewig lange jung aussahen. Seine blauen Augen waren meist fröhlich und er tüftelte mit Ausdauer an Lösungen für die vielfältigsten Probleme.

„Mama, Papa,“ brach Vivi los, „die Ponys sind weg! Ich habe gestern Abend die Ketten nicht vorgemacht...Und ich kann sie nicht finden! Oh, mir ist ganz übel...“

„Mist!“, war Kristophs erster Kommentar und damit schon etwas weniger deftig als der erste Ausruf von Vivi - aber entscheidend waren Umgangsformen nun, gerade zu diesem Zeitpunkt, wirklich nicht!

„Ruhig! In der Ruhe liegt die Kraft!“ Eva weigerte sich hartnäckig, in solchen Situationen sich ihren Emotionen hinzugeben. Dies hatte sie sich weitgehend abgewöhnt, wenn es auch nicht einfach gewesen war.

„Ja,“ sagte Kristoph, „da hast du recht! Laßt uns sinnvoll vorgehen. Als erstes fragen wir bei der Polizei nach. Danach ist das Turnier dran, das heute im Dorf stattfindet. Vielleicht kann uns dort jemand weiterhelfen. Und wenn das nicht genug ist, sehen wir einfach weiter!“

Eva hatte sich bereits das Telefonbuch geholt und die Nummer der örtlichen Polizeistation herausgesucht. Während sie diese mit dem Finger markierte, wählte Vivi sie. Freundlich, klar und sachlich erklärte sie dem Polizisten die Lage. Die selbstverständliche Hilfe ihrer Eltern stärkte ihr den Rücken.

„Leider haben wir keine Meldungen über entlaufene Ponys hereinbekommen. Aber ich nehme die Beschreibung auf und melde mich, sobald ich etwas höre. Bitte rufe mich zurück, wenn du sie wieder hast! Und viel Glück - muss ja nicht immer gleich etwas passieren!“

„Natürlich melde ich mich, sobald wir sie haben!“, antwortete Vivi. „Vielen Dank!“

Vivi war erst einmal unglaublich erleichtert. Zwar waren die Ponys weiterhin verschwunden, aber immerhin hatte es wohl keinen Unfall gegeben! Das beruhigte sie sehr. Dennoch blieb genug Anspannung übrig. Sie musste weiter, weiter, weiter. Jetzt untätig zu sein schien ihr unmöglich - absolut unmöglich. „Ponys, Mensch, wo seid ihr denn bloß?“, rief sie innerlich. Aber sie bekam keine Antwort, nicht einmal ein Wiehern...

„Sollen wir jetzt zum Turnier?“, fragte Vivi. Eva nickte, blieb aber sachlich. „Ich bleibe besser zu Hause, falls der Polizist sich melden sollte oder die Ponys wiederkommen!“

„Danke, Mama, du denkst total mit!“ sagte Vivi bewundernd, denn trotz der gerade erlebten Erleichterung und ihres souveränen Telefonats blieb sie gefühlsmäßig etwas durch den Wind.

Kristoph lächelte ihr aufmunternd zu und nahm seine Autoschlüssel klimpernd und unternehmungslustig in die Hand.

„Los geht’s!“, sagte er munter, „vielleicht finden wir Spuren!“ War in ihm ein Pfadfinder oder etwa gar ein kleiner Indianer erwacht? Jedenfalls stand fest, dass er es Vivi dadurch leichter machte.

Der Turnierplatz, zu dem sie fuhren, war nur etwa zwei Kilometer weit entfernt am Rande des nächsten Dorfs. Der dörfliche Reitverein veranstaltete jedes Jahr ein Turnier, dass viele Reiter mit ihren Pferden lockte und sehr bekannt und beliebt war. Der Außenplatz war großzügig und gut angelegt. Die Reithalle, die mitten im Dorf lag, war hingegen sehr klein, aber gemütlich. Vor Jahren hatten engagierte Mitglieder diese Halle bei der nahen Bundeswehr demontiert und dort wieder aufgestellt. Ab und zu hatte Vivi sie auch im letzten Winter nutzen dürfen, deshalb war sie dem Verein beigetreten, dessen Beiträge wirklich sehr human waren.

Trotzdem es noch relativ früh war, hatte sich der Turnierplatz schon sehr gefüllt. Immer mehr Gespanne rumpelten auf den Parkplatz, Pferde wurden entladen und vorbereitet, Hunde kläfften und zogen an Leinen. Auffällig viele Jack Russels waren zugegen. Vivi fragte sich, warum diese Hunderasse so in Mode war. Aber insgeheim schwärmte sie selbst ja auch für einen Islandhund...

Das Turniertreiben interessierte Vivi nicht weiter, sie nahm es nur nebenbei wahr, während sie mit Kristoph über den Platz ging. Sie sprachen alle, die sie kannten, wegen der Ponys an - doch keiner hatte sie gesehen oder etwas vernommen. So strebten sie weiter auf die Turnierleitung zu und teilten auch dieser ihr Anliegen mit. Natürlich würde man sie benachrichtigen, sobald man etwas sehe oder höre. Hier war es egal, ob man Großpferde ritt oder Ponys, in der Not half man sich gerne. Auf der einen Seite wurde Vivi mit ihren Isis etwas belächelt im Verein, auch weil sie anders ritt, auf der anderen waren auch viele fasziniert und neugierig. Was hatte es mit dem Tölt auf sich? Waren die Ponys wirklich so robust? Und diese ausgeglichene Ruhe, die sie demonstrierten wurde auch bemerkt, manchmal mit einem Anflug von Neid.

„So, direkt ein Erfolg war es nicht,“ kommentierte Vivi. „Was jetzt?“

„Wir nehmen das Auto und fahren die Feldwege entlang, ob wir sie irgendwo erblicken können. Komm’, irgendwann tauchen sie auf!“ bestimmte Kristoph.

Kristoph nahm alle Wege, die Vivi sonst auch ritt und die ihnen bekannt waren. Es blieb dabei, nirgends auch nur irgendwo in der Ferne zwei braunschwarze Punkte. Vivi hatte schon das Gefühl, dass ihre Augen automatisch alles abscannten und nach Schema F sortierten. Zunehmend wurde sie innerlich leerer, matter und eine Form der Niedergschlagenheit durchzog sie.

„Du Papa,“ sagte sie schließlich, „ es macht keinen Sinn noch weiter zu suchen. Sie könnten überall sein - und nirgends sind sie zu sehen...“

„Ja, sieht im Moment leider so aus,“ gab Kristoph zu. Auch er war nicht mehr ganz so munter wie zuvor. Mechanisch betätigte er den Blinker und bog in den Feldweg ein, der nach Hause führte.

Es folgten noch ein paar mehr Wege, doch es blieb, es blieb unerbittlich dabei, dass die Ponys verschwunden waren. Still und auch etwas erschöpft kamen sie zu Hause, bei Tant Maries Hus wie sie es nannten, wieder an.

„Hallo, ihr Lieben,“ begrüßte Eva sie. „Leider kann ich auch nichts Neues bieten, weder eine Nachricht noch die Ausreißer persönlich! Aber ein Frühstück, dass ist fertig!“

„Mama, du bist lieb, das brauche ich jetzt, auch wenn ich wirklich nicht mehr weiter weiß. Es kommt mir so unerträglich vor, dass ich nun nur warten kann, untätig sein. Kann denn hier keiner zaubern oder hellsehen?“

„Nee, kann keiner. Aber du kannst essen und dich stärken. Ein Häufchen Elend bringt die Ponys auch nicht wieder!“ Eva blieb pragmatisch. Sie wusste, dass Aufregung körperlich anstrengend war und hinterher ihren Tribut forderte. Entweder man war vernünftig und gönnte sich Stärkung oder man wurde schwach und bekam Bauch- und Kopfschmerzen. Entschieden favorisierte Eva die vernünftige Lösung und ließ daran keinen Zweifel.

So aß Vivi zu ihrer eigenen Überraschung mit großem Hunger und war trotz des warmen Wetters dankbar für den frischen Kräutertee, den ihre Mutter aufgesetzt hatte. Eva hatte mit Bedacht erfrischende Kräuter wie Minze und Melisse aus ihrem Garten genommen.

Kristoph war ebenfalls dankbar am essen und genoss den frisch gebrühten Kaffee.

„Jetzt heißt es warten,“ stellte er noch einmal fest. Vivi nickte stumm.

Tant Maries Hus

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