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Der erste Tag

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Die Lastwagen wurden langsamer, dann hielten sie an. Das Motorengeräusch erstarb. Fahrerhaustüren wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Eilige Stiefelschritte liefen an den Lastwagen entlang, Befehle in englischer Sprache wurden gebellt, die rückwärtigen Planen öffneten sich und zeigten den seit Stunden im Dunkeln zusammengepferchten Männern ausschnitthaft einen schneegrauen morgendlichen Aprilhimmel. Die »Get out«-Rufe des Bewachungskommandos pflanzten sich an der endlos scheinenden Reihe der Lastwagen fort und wurden vom Grau des Morgens verschluckt. Dieses Grau umhüllte auch gnädig das Elend, das über die Ladeklappen quoll und sich entlang der Lastwagen aufreihte. Als ob ein unsichtbarer Choreograph ein Zeichen gegeben hätte, begann die lange Reihe der frierenden, in abgerissenen Uniformen steckenden Männer mit den Füßen rhythmisch auf den Boden zu stampfen und die Arme um die Oberkörper zu schlagen. Das Geräusch schwoll an, lief die Lastwagen entlang, übertönte alle weiteren Befehle und verlor sich schließlich in vereinzeltes, müder werdendes Getrappel.

Die Lastwagen standen auf einer Straße, die oberhalb eines Ortes dem Rhein folgte. Die Soldaten hielten ihre Gewehre lässig unter dem Arm und bedeuteten den Gefangenen, sich in Viererreihen aufzustellen. Georg von der Beeke und der Rest seiner Kompanie waren aus einem der ersten Lastwagen herausgestiegen. Die Feldmützen fest auf den Kopf gedrückt, den Kopf tief in den hoch gestellten Mantelkragen gezogen, die Hände in den Manteltaschen vergraben, die wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken, bildeten sie nur langsam und widerwillig die geforderte Formation. Auch hinter ihnen ging die Aufstellung der Reihen nur schleppend voran. Die Bewachungskommandos reagierten zunehmend nervöser und stießen hin und wieder mit den Gewehrläufen in die formlose graue Masse. Verwünschungen wurden laut.

»Wo bringen die uns hin?«

Krumbiegl stieß Georg an, der sich gerade umblickte und feststellte, dass die Bemühungen des Bewachungskommandos allmählich Erfolg hatten und sich so etwas wie eine Marschkolonne entwickelte.

»Keine Ahnung«, erwiderte Georg, der sich nun seinem Kameraden zuwandte. Nach einer Weile fuhr er nachdenklich fort: »Aber ich glaube, dass wir schon einmal hier waren. Das kann nur der Rhein sein! Hier sind wir irgendwo über eine Eisenbahnbrücke gebracht worden. Ich kann sie aber nirgendwo sehen!«

Bevor sie weitere Mutmaßungen anstellen konnten, setzte sich die Kolonne vor ihnen schwerfällig in Bewegung. Mit müden, steifen Schritten marschierten die Gefangenen die Straße entlang, die den Ort in einem Bogen umging und dann auf den Rhein zuführte. In dieser frühen Morgenstunde wirkte er seltsam verlassen. Nur einige Rauchfahnen zeugten davon, dass das Leben dort weiterging. Für die Männer der Marschkolonne gab es diese Gewissheit nicht.

Nach den letzten Häusern konnten sie plötzlich den Rhein in seiner ganzen Breite mit beiden Ufern überblicken. Nun sah Georg auch, dass dort, wo die Brücke den Rhein mit einem kühnen Bogen überspannt hatte, eine Lücke gähnte. Der Bogen war zwischen den Mittelpfeilern im Fluss verschwunden, und die Reste der Brücke, die noch mit dem Ufer verbunden waren, lagen seltsam verdreht im Wasser. Mit den Türmen an ihren Enden wirkten sie wie riesige, urweltliche Ungeheuer, die gerade an Land kriechen wollten. Vor den Trümmern der Brücke, stromabwärts, querten jetzt zwei Pontonbrücken den Rhein. Bei diesem Anblick geriet die Spitze der Marschkolonne für einen kurzen Moment ins Stocken. Die Nachfolgenden liefen auf, stolperten, fluchten kurz und nahmen ihren Schritt wieder auf, als es weiterging.

Das Bewachungskommando führte die Kolonne zur ersten Pontonbrücke hinunter. Inzwischen hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt, unter den sich kleine Schneeflocken mischten. Der Plankenweg über den Schwimmkörpern war so breit, dass die Marschkolonne in Viererreihen hinübergehen konnte, und ihre Marschtritte ließen die Brücke erdröhnen. Die Schwimmkörper wirkten dabei wie große Resonanzkörper. Als Georg die Mitte der Brücke erreicht hatte, blies ihm der Wind feine Regenschwaden waagrecht ins Gesicht. Er kroch noch tiefer in seinen Mantelkragen.

Auch auf der anderen Seite wurde die Brücke bewacht. Die Soldaten zeigten die gleiche lässige Selbstsicherheit der Sieger wie ihre Kameraden auf der anderen Flussseite. Sie trugen wasserdichte Umhänge. Für einen solchen Umhang hätte Georg sogar seinen wertvollsten Besitz eingetauscht, sein geschmuggeltes Taschenmesser, das im rechten Strumpf steckte und schmerzhaft gegen sein Wadenbein drückte.

Ein kurzer, steiler Anstieg, dann schwenkte die Marschkolonne auf die alte Reichsstraße ein, deren Pflasterung durch den Regen wie blank poliert wirkte. Zerschossene Häuser, ihrer Dachstühle beraubt, blickten dem endlosen Zug der Gefangenen aus leeren Fensterhöhlen entgegen. Einsame Kaminschächte ragten wie mahnende Zeigefinger in den regengrauen Himmel und schienen den sich nähernden Männern sagen zu wollen: Seht uns an! Wir sind auch nur noch wir selbst, ohne Nutzen für irgendjemanden und irgendetwas. Das, wofür wir einmal da waren, ist verschwunden. Wir werden nicht mehr gebraucht.

Die Kolonne folgte weiter der Straße. Als die letzten Häuser erreicht waren, tauchte ein Eisenbahndamm auf, der zu der zerstörten Brücke führte. Und dann sahen die Ersten, was auf sie wartete. Wieder stockte der Zug. Köpfe drehten sich ihren Nachbarn zu, vor den Mund gehaltene Hände wollten erschrockene Rufe zurückhalten, machten aber dadurch die weiter hinter ihnen Marschierenden auf etwas Unerhörtes aufmerksam. Vor ihnen erstreckte sich auf einer weiten Fläche, die der Rhein in einem weit ausholenden Linksbogen umfloss, ein Sammellager. Umgeben war das Lager von einer eigenartigen Mischung aus Stacheldrahtzäunen und Drahtverhauen. Innerhalb des Lagers war ein gitterförmiges Wegenetz zu erkennen, das kleinere, von weiteren Stacheldrahtzäunen umgebene Abteilungen zugänglich machte. Diese Abteilungen waren angefüllt mit Gefangenen.

Befestigte Unterkünfte gab es nicht, und nur am äußersten Ende des Lagers standen ein paar Zelte. Die Gefangenen saßen im Freien auf der Erde. Einige hatten Zeltplanen mit in die Gefangenschaft retten können, aus denen sie kleine Spitzzelte zusammengebaut hatten. Die Mehrzahl der Gefangenen hatte sich aber kleine Erdhöhlen gegraben und den Erdaushub als Windschutz aufgetürmt. Dicht gedrängt saßen sie um diese Erdhügel herum und wärmten sich gegenseitig. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, und immer mehr Gefangene kamen aus ihren Höhlen. Mit stumpfem Blick sahen sie den Neuankömmlingen entgegen. Auf die Männer der Marschkolonne wirkten sie wie große Maulwürfe, die ein unerklärliches Ereignis an die Oberfläche gespült hatte.

Inzwischen hatte auch der Wind gedreht und trug der Marschkolonne den Geruch des Lagers zu. Es stank ekelerregend nach Latrine.

Georg und Krumbiegl schauten sich entsetzt an.

Plötzlich hörten sie aus der Spitze des Zuges eine Stimme laut rufen: »Ein Lied!«

Der Ruf wurde zunächst ignoriert, dann aber drängender wiederholt und weitergegeben.

»Ein Lied!«

Und dann ein weiterer Ruf, die gleiche Stimme: »Lili Marleen!«

Zuerst unsicher, vereinzelt und verschämt, dann lauter werdend und allmählich so etwas wie einen Chor bildend, nahmen die ersten Reihen der Gefangenen mit dursttrockenen Kehlen den Text und die Melodie auf, verfielen sogar in einen zögerlichen Marschtritt und passten ihn dem Rhythmus des Liedes an:

»Vor der Kaserne, vor dem großen Tor,

stand eine Laterne und steht sie noch davor …«

Das Lied wanderte einem Aufschrei gleich, wie ein Kanon, durch die endlose Reihe der Gefangenen. Ihre Körper streckten sich und sie sangen mit erhobenen Köpfen mit einer plötzlich aufkommenden Inbrunst das Lied von dem Mädchen, das vor der Kaserne auf ihren Liebsten wartet. Nun geriet auch das Lager in Bewegung. Immer mehr der elenden grauen Maulwürfe erhoben sich von ihren Hügeln, traten an die Stacheldrahtzäune, nahmen das Lied auf und sangen mit.

Ein Aufatmen ging durch die Reihen, als klar wurde, dass dieses Lager nicht ihr Ziel war, und der Anblick eines alten Fabrikgebäudes außerhalb des Lagers, durch Rotkreuzfahnen als Lazarett kenntlich gemacht, weckte in vielen der Leichtverwundeten, die seit der Gefangennahme noch keine Verbände gewechselt hatten, die Hoffnung, dort versorgt zu werden. Aber sie wurden enttäuscht. Der Marsch führte an dem Lager vorbei auf eine Brücke über die Ahr zu, die hier in den Rhein mündete, und weiter durch einen Ort, der den Krieg unbeschadet überstanden hatte.

Von den Bewohnern war niemand auf den Straßen zu sehen. Heruntergelassene Schaufensterrollos und vernagelte Fenster boten das Bild einer Geisterstadt. Ein vergessenes, inzwischen grau gewordenes und vom Regen durchnässtes Betttuch hing vom Balkon eines Hauses herab und bewegte sich klatschend im Wind. Doch hinter den Fenstern waren Menschen zu erahnen. Unsichtbare Augen blickten hinter Gardinen verborgen auf den endlosen Strom gebeugter Köpfe hinunter, der immer weiter anschwoll und fast die gesamte Breite der Straße einnahm. Georg nahm plötzlich eine Bewegung in einem Fenster im ersten Stock eines Hauses wahr. Eine alte Frau beugte sich heraus, rief etwas Unverständliches und warf den Männern einen wohl lang gehüteten Schatz zu: Äpfel! Georg hatte Glück, fing einen auf und winkte dankbar. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke, und die Frau winkte zurück. Für einen kurzen, verrückten Moment glaubte Georg, es sei seine Mutter, die ihm da gerade zugewunken hatte. Er steckte den Apfel behutsam, wie ein kostbares Geschenk, in die Manteltasche. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er und alle anderen im Zug seit drei Tagen nichts mehr gegessen hatten.

Der Ort war rasch durchquert, doch das Ende des Zuges passierte gerade erst die Ahrbrücke, als die Spitze der Marschkolonne vor dem scheinbar einzigen Zugang eines von einem doppelten Stacheldrahtzaun umgebenen Lagers anhalten musste. Ein Kommando GIs hatte sich trichterförmig davor aufgebaut. Dieses Lager erschien Georg wie eine genaue Kopie des ersten: Auch hier gab es keine Unterkünfte, auch hier lag eine graue apathische Menschenmasse auf dem Erdboden oder in Erdlöchern und war der Witterung schutzlos ausgeliefert. Aber dieses Lager besaß eine Besonderheit. Die Männer wollten zuerst ihren Augen nicht trauen, als sie langsam und gruppenweise durch das Tor geführt wurden. Direkt hinter dem Tor gab es tatsächlich kleine Mannschaftszelte! Davor standen oder saßen eng aneinandergerückt, so, als wollten sie sich gegenseitig Halt geben – Frauen! Sie waren alle noch jung und trugen die Uniformen der Luftwaffenhelferinnen. Mit grenzenloser Verlorenheit in den Augen blickten sie den Männern entgegen. Einige griffen sich mechanisch in die strähnigen, verfilzten Haare oder zogen ihre Uniformen zurecht, ein hilfloser Versuch, ihre Weiblichkeit zu retten, die dieser Ort mit seinen schon für Männer unwürdigen Verhältnissen ihnen genommen hatte.

Auf einmal kam Bewegung in eine der Frauengruppen. Die Männer sahen, dass ein GI ein halbes Brot auf sein Bajonett gesteckt hatte und es den Frauen nun durch den Zaun hindurch entgegenhielt. Zögernd ging eine der Frauen auf den Zaun zu und streckte die Hand nach dem Brot aus. Doch in dem Augenblick, in dem sich ihre Hand dem Brot näherte, stach der Soldat zu. Fassungslos blickte die junge Frau auf das Blut, das von ihrer Hand auf den Boden tropfte. Sie steckte ihre Hand zwischen die Oberschenkel und fiel weinend auf die Knie. Der GI schüttelte sich vor Lachen.

Zwei Frauen lösten sich aus der Gruppe und versuchten, die Verletzte wieder auf die Beine zu stellen, deren lautes Klagen in ein leises Wimmern überging. Eine andere Frau näherte sich dem Zaun, fasste in den Stacheldraht, rüttelte daran und schrie dem GI immer wieder Verwünschungen zu. Das Lachen verschwand von seinem Gesicht. Wütend und Unterstützung suchend blickte er zu den ihm am nächsten stehenden Kameraden hinüber, doch er erntete von ihnen nur Kopfschütteln. Der neben ihm stehende Soldat packte sein Gewehr, schob den Helden unsanft zur Seite und knurrte ihm ein paar drohende Worte zu. Dies kam keinen Augenblick zu früh, denn die erste Gruppe der Gefangenen aus der Marschkolonne hatte inzwischen Front gemacht und stand den GIs am Zaun drohend gegenüber. Nun fühlten sie sich sichtlich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Die ersten wichen bereits zurück und spürten wohl schon den Stacheldrahtzaun in ihrem Rücken, während sie vergeblich auf einen Befehl zum Handeln in der bedrohlicher werdenden Situation zu warten schienen.

Georg hatte schon während des Marsches festgestellt, dass die Truppen, die dem Bewachungskommando angehörten, aus verschiedenen Truppenteilen zusammengewürfelt waren. Welcher Offizier welche Einheit kommandierte, war den GIs offenbar unbekannt. Aus einem Gefühl der Verunsicherung heraus senkten sie nun ihre Karabiner und hielten sie zögernd den auf sie zukommenden Gefangenen entgegen. Einer lud ihn sogar durch und hob ihn an die Schulter. Die Unruhe dieses Mannes war offensichtlich: Sein Atem ging stoßweise, und die Spitze seines Bajonetts vollführte tanzende Kreise vor dem Gesicht eines großen, mageren Gefangenen, der sich ihm näherte, anscheinend entschlossen, keine weiteren Demütigungen mehr hinzunehmen. Nervös legte der GI den Sicherungshebel zurück, als Georg den Bann brach.

»Krumbiegl, Randauer, bleibt stehen!«, kommandierte er. »Der Kerl drückt gleich aus lauter Angst ab! Er hat die Hosen gestrichen voll!« Er drückte seine Kameraden zurück.

Krumbiegl und Randauer reagierten unwillig, folgten aber schließlich der Aufforderung, und zu Georgs Erleichterung kam auch die ganze Front der Gefangenen langsam zum Stehen. Zwischen ihnen und den Bajonetten der GIs war weniger als eine Armlänge Raum. Der ganze Vorgang hatte nicht länger als eine Minute gedauert.

Erst jetzt begriff das Begleitkommando, dass sich hier so etwas wie eine Revolte angebahnt hatte. Trillerpfeifen schrillten durch die Luft, das große Tor wurde geschlossen, und die Gruppe der aufgebrachten Gefangenen wurde von den Nachfolgenden getrennt. Ein Offizier hatte die Situation erkannt und versuchte sie nun unter Kontrolle zu bringen, indem er die Gefangenen von einem herbeigepfiffenen Eingreifkommando umstellen ließ. Einige der Soldaten prügelten sofort erbarmungslos mit Gewehrkolben auf die nächststehenden Gefangenen ein. Diese bargen die Köpfe zwischen den Schultern und versuchten, die auf sie niedersausenden Stöße und Schläge mit ihren Unterarmen zu parieren. Am Rande nahm Georg dennoch wahr, wie ein GI sich angewidert abwandte und sich plötzlich Auge in Auge mit der Frau sah, die den Übeltäter so wild beschimpft hatte. Sie klammerte sich noch immer an den Stacheldraht, und in ihrem Blick lag eine Mischung aus Angst, Wut, Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit. Der Soldat wich ihrem Blick aus, und seine Mundwinkel zuckten unkontrolliert, als er sich abwandte.

Die Gefangenengruppe wurde eng eskortiert auf einen langen und breiten Hauptweg geführt, der sich schnurgerade irgendwo im Nichts verlor. Rechts und links des Weges erstreckten sich, wie im ersten Lager, einzelne voneinander getrennte Gevierte aus Stacheldraht. Sie waren leer und warteten auf ihre Gäste. Zwischen den einzelnen Gevierten verliefen schmale Trampelpfade.

»Die stecken uns hier wie Karnickel in kleine Käfige!«, empörte sich Randauer.

Später sollten sie erfahren, dass die einzelnen Gevierte tatsächlich im Sprachgebrauch der Besatzungstruppen cages genannt wurden.

Georgs Schritte wurden schleppender. Er hatte einen heftigen Schlag gegen die linke Hüfte erhalten, der die ganze Seite allmählich taub werden ließ. Er verlagerte sein Gewicht auf die rechte Seite, zog das linke Bein nach und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich irgendwo hinsetzen und ausruhen zu können. Aber sie wurden unerbittlich weitergetrieben. Krumbiegl und Randauer nahmen ihn zwischen sich und stützten ihn.

Die Gruppe marschierte immer weiter an leeren Drahtverhauen vorbei. Dass sie so weit in den unbelegten Teil hineingeführt wurden, konnte nur bedeuten, dass man sie von den anderen Gefangenen trennen wollte, weil man sie als Störenfriede eingestuft hatte. Vor einem der letzten Gevierte, nicht größer als zwei Fußballplätze, wurde die Kolonne angehalten. Zwei Soldaten öffneten einen schmalen Durchgang in dem Verhau.

Nachdem die GIs den Drahtverhau wieder verschlossen hatten, waren die Gefangenen unter sich. Georg versuchte ihre Zahl zu überschlagen. Weniger als zweihundert Mann, schätzte er, der überwiegende Teil bestand aus Mannschaften. Er ließ seinen Blick über die noch unschlüssig herumstehenden Männer schweifen, um festzustellen, wie viele Unteroffiziere außer ihm selbst es unter ihnen gab, und entdeckte vier. Offiziere und Portepee-Unteroffiziere waren schon kurz nach der Kapitulation der Truppe von den Mannschaften und Unteroffizieren getrennt worden. Oberleutnant Ferner, seinen Kompaniechef, hatte Georg nach der Trennung noch winken sehen, bis er in der Menge verschwunden war.

Georgs ganzes Fühlen und Denken begehrte schon jetzt gegen die zu erwartende Enge, das Ausgeliefertsein an Kälte und Nässe, Hunger und Durst und den Gestank der Latrinen auf. Aber es galt vor allem, eine gewisse Ordnung für das kleine Lager herzustellen, damit das Leben unter diesen Bedingungen für alle erträglich wurde. Wieder sah er zu den Männern hinüber, die unschlüssig herumstanden, sah, wie der Mund eines jeden einzelnen von ihnen stumme Verwünschungen formte, sah die Resignation in den hängenden Schultern. Einige hatten sich schon auf die nackte Erde gehockt und versteckten ihre Köpfe in den Händen. Manche dieser Hände verbargen ein verhaltenes Zucken, das immer heftiger wurde und allmählich die gebeugten Schultern erreichte. Georg musste sich abwenden, um nicht selbst laut loszuheulen.

Einen Teil der Männer kannte er. Sie hatten alles, was ein Krieg an Qualen bereitstellen kann, erlebt. Sie hatten gehungert, gefroren, Schmerzen ertragen, hatten Kameraden still, wimmernd und laut schreiend sterben sehen. Sie hatten das getan, was alle Soldaten aller Armeen der Welt taten. Sie hatten über ihre Vorgesetzten geschimpft, sich über schlechtes Essen beschwert, über zu wenig Schlaf geklagt, sich über gnadenlose Schikanen und ständiges Wacheschieben empört, ihre Frauen und Mädchen, ihr Zuhause vermisst und über alles, was einen Mann ärgern kann, geflucht. Und nun saßen sie hier. Verheizt und belogen von dem, auf den sie den Treueeid hatten ablegen müssen, von den Siegern zusammengetrieben wie Schlachtvieh, rechtlos und von Gott und der Welt verlassen.

Der Schmerz an seiner Hüfte unterbrach seine Gedanken. Unterhalb eines gerade verheilten Narbengewebes, das von einem Durchschuss herrührte, fühlte er ein hühnereigroßes beulenartiges Gebilde. Er ließ sich langsam auf den Boden sinken und beschloss, den Schmerz zu ignorieren. Der Boden war von dem morgendlichen Regen noch nass. Aber das machte ihm im Augenblick nichts aus. Erst einmal sitzen und ausruhen!

Wie oft hatten sie während der Kämpfe auf nassem Boden gelegen, waren durch modrig-glitschiges Laub gekrochen, hatten in Bachläufen Deckung gesucht und im Schnee geschlafen, dabei immer gewärtig, von irgendeinem heimtückischen Geschoss getroffen zu werden. Aber es war immer abzusehen gewesen, wie lange man der Nässe ausgesetzt sein würde. Irgendwie hatte es irgendwo immer ein Feuer gegeben, an dem sich die geschundenen Leiber ihr Leben wieder zurückholen konnten. Georg hatte zwar unterwegs einige kleine Feuer gesehen, aber in ihrem Käfig gab es kein Brennmaterial. Man müsste die verdammten Zäune verbrennen, dachte er und überlegte dabei, wie lange wohl der Pfosten ihm gegenüber brennen würde. Der Pfosten gehörte zum inneren Zaun des Doppelzauns, der das gesamte Lager umgab. Drei Meter vor diesem Zaun markierte ein kniehoch gespannter Draht den Sicherheitsabstand, den die Gefangenen einzuhalten hatten.

Sein Zeitgefühl sagte ihm, dass es später Vormittag sein musste und es bis zum Mittag nicht mehr weit war. Überprüfen konnte er dieses Gefühl nicht, weil ihm kurz nach der Gefangennahme seine Uhr von einem GI abgenommen worden war. Den anderen war es nicht anders ergangen. Alles, was irgendeinen Wert hatte, Uhren, Zigarettenetuis, Orden, ja sogar Eheringe, war ihnen unter Drohungen abgenommen worden. Nur mit dem Taschenmesser hatte er es geschickter angestellt. In einem Augenblick der Unruhe hatte er es zwischen seine Stiefel fallen lassen und dann mit dem Absatz in den aufgeweichten Boden gedrückt. Nach der Filzorgie hatte er es dann unbemerkt in seinen Strumpf stecken können. Es war ein schönes, starkes Messer mit zwei Klingen und einem Korkenzieher. Das Messer, die Fotos und die Briefe waren das Einzige, was ihm noch aus einem Leben geblieben war, das weit weg zu sein schien. Einer Welt, der er entrissen worden war, obwohl er sie nie hatte verlassen wollen, einer Welt, in der es für ihn nie Einsamkeit, Verlorenheit, Hunger und Durst, Schmerzen und Kälte gegeben hatte, in der Geborgenheit, Zuneigung und Wärme das Leben ausgemacht hatten. All das, was jener anderen Welt angehörte, passte jetzt in eine einzige Hand.

Georg blickte über den Doppelzaun, den dahinter vorbeifließenden Rhein und den am jenseitigen Ufer aufragenden Gebirgsstock in die Richtung, in der er seinen Heimatort vermutete. Es konnten nicht mehr als hundertundfünfzig Kilometer bis zum Lennebogen sein. Er versuchte sich vorzustellen, wie sich das Leben dort jetzt abspielte. Die letzten Briefe, die sie ausgetauscht hatten, datierten noch von vor Weihnachten. Da hatten sie sich noch alle gegenseitig das Wichtigste, was man sich in dieser Zeit wünschen konnte, gewünscht – zu überleben und wieder zusammen zu sein. Nur hundertundfünfzig Kilometer hinter dem Stacheldraht trennten sie von der Erlösung aus der Ungewissheit!

Schwerfällig stand er auf und humpelte auf die Männer seiner Kompanie zu. Aus Gewohnheit waren sie zusammengeblieben und hielten sich von den anderen Gefangenen ein wenig abseits. Die Gruppe mit ihren vertrauten Gesichtern und Gewohnheiten bot in dieser Situation der Ungewissheit so etwas wie Sicherheit. Georg überschlug die Anzahl der Männer aus seiner ehemaligen Kompanie, die noch übrig waren. Einundzwanzig Männer hatten es bis hierher geschafft. Der große Rest war entweder gefallen oder lag mehr oder weniger tot in einem Klosterlazarett irgendwo in der Eifel. Die meisten der Überlebenden waren schon so lange dabei wie Georg, aber ein paar von ihnen, wie etwa der Älteste der Kompanie, ein schon über Vierzigjähriger, waren ihr erst kurz vor der Invasion zugeteilt worden. Georgs Blick verharrte einen Moment lang auf diesem Mann. Er war still und in sich gekehrt, kam von irgendwo aus dem Ruhrgebiet, und von ihm wusste er nur, dass er sich um seinen sechzehnjährigen Sohn halb krank sorgte. Seit sie in den Winterkämpfen die ersten HJ-Kindersoldaten gesehen hatten, war er ein Nervenbündel. Was ihn so quälte, war die Befürchtung, dass auch sein Sohn in das letzte Aufgebot gesteckt worden sein könnte. Wortkarg war er schon von Beginn an gewesen, aber nun sprach er fast gar nichts mehr. Zuweilen und immer ganz ohne Vorwarnung hatte Georg bei ihm aber so heftige Zornesanfälle erlebt, dass er ihn aus heiklen Situationen möglichst herauszuhalten versucht hatte, um ihn, aber auch die anderen zu schützen.

»Klümper«, rief Georg dem Mann zu, und dann zu den anderen gewandt: »Leute, kommt doch mal alle zusammen! Wir müssen uns jetzt überlegen, wie das hier um uns herum weitergehen soll. Ihr habt die Zustände im ersten Lager mitgekriegt. Wir sollten uns hier und jetzt überlegen, wie wir uns hier organisieren können. Dazu müssen wir zusammenbleiben und uns gegenseitig helfen und beschützen. Wenn dieser Käfig erst einmal vollgestopft ist, haben wir hier die Hölle!«

Die Männer blickten sich an, einige nickten und bildeten dann zögernd einen lockeren Halbkreis um Georg. Das taten sie ganz automatisch, so, wie sie es während des ganzen Krieges getan hatten, wenn während der Kampfhandlungen ein Einsatz besprochen worden war. Sie waren wie eine Herde Schafe ohne Hirten und darum ganz froh darüber, dass jemand die Initiative ergriff und sie zu Beginn einer wahrscheinlich unabsehbaren Zeit des Wartens und Untätigseins mit Fragen zu beschäftigen versuchte, die ihrer aller Dasein in diesem Stück Niemandsland betraf.

Georg versuchte sich die Namen der Männer, die um ihn herumstanden, ins Gedächtnis zu rufen. Es war für jeden von ihnen wichtig, dass man ihn in einer Umgebung, die bereits damit begonnen hatte, seine Persönlichkeit zu zerstören, mit seinem Namen ansprach. Wer hier zum Namenlosen wurde und ohne vertraute Bindungen sein Überleben sichern musste, wurde zum Niemand. Aus seiner Gruppe waren nur noch fünf Männer übrig! Da war zunächst der Obergefreite Krumbiegl, ein Winzersohn vom Main. Er war ihm der Vertrauteste von allen. Dann waren da die beiden Gefreiten Randauer und Schulte. Randauer war von Beruf Spengler und stammte wie Krumbiegl aus Franken. Schulte war auf einem Bauernhof im Münsterland groß geworden. Wegen seiner gesunden Gesichtsfarbe und den ständig lachenden Augen hatten ihn alle Pausbäckchen genannt. Inzwischen war aus seinem freundlichen Gesicht ein fahlgrauer, ausgezehrter Fleck geworden. Außer ihnen hatten nur noch Vierkamp und Steinmetz die Kämpfe überlebt. Vierkamp war in Ostwestfalen zu Hause und im Zivilberuf Automechaniker. Auf dem Rückzug hatte er einen amerikanischen LKW nach weniger als einer Stunde wieder ans Laufen gebracht, dessen Ladung für vierzehn Tage die Versorgungsprobleme der Restkompanie gelöst hatte. Steinmetz war der jüngste unter ihnen, kam aus Hessen und war wie Georg vor der Einberufung Student gewesen. Er hatte gerade ein Architekturstudium begonnen, als er eingezogen wurde. Unterwegs hatte er überall historische Gebäude skizziert.

Er sah die Männer der Reihe nach an und versuchte, die Namen, die ihm einfielen, an ihren Gesichtern festzumachen. Da war Klümper, der Älteste, den er gerade angesprochen hatte. Der Kleine rechts von ihm: Witkowski. Dann weiter: Leberecht, Hausberger … Penkalla … Schniedewind und … Fuhrmann! Die restlichen Namen musste er mit Hilfe seiner Gruppe schnellstens auch noch zusammenkriegen.

»Was können wir hier schon groß machen, Georg? Wir können nur warten, was auf uns zukommt!« Vierkamps Bemerkung gab die Stimmung aller wieder, wie Georg nach einem Blick in die grauen, hoffnungslosen Gesichter feststellen konnte. Stumpfe, abwesende Augen blickten ihm entgegen, und bald, das spürte er, würde die Abwesenheit in Lethargie übergehen. In sein Gefühl der Hilflosigkeit mischte sich Wut. Wut auf alles, was sie hierher gebracht hatte. Das Geschrei und Wüten des »böhmischen Gefreiten«, wie der von seinem Vater verehrte alte Reichspräsident Hindenburg den heutigen Kriegsherren spöttisch genannt hatte, und seine unsinnigen Durchhaltebefehle, die Strapazen des verlustreichen Rückzugs, die schikanöse Verachtung durch die alliierten Soldaten nach der Gefangennahme.

»Georg hat recht!«, meldete sich Krumbiegl zu Wort und riss Georg damit aus seinen Gedanken. Seine Worte mit heftigen Gesten unterstreichend fuhr er fort: »Wir können mehr tun, als nur auf das zu warten, was auf uns zukommt! Ich finde auch, dass wir als Einheit zusammenbleiben sollten und uns, wo es nur geht, gegenseitig helfen. Allein, nur auf uns gestellt, haben wir an diesem Scheißort bestimmt keine Chance! Wer hier allein für sich bleibt, hat es gegenüber anderen, die sich zusammentun, verdammt schwer. Denkt nur mal daran, wenn es wirklich bald was zu fressen gibt, wie ihr alleine zurechtkommt, ohne den Schutz der Kameraden!«

Dafür bekam er einen dankbaren Blick von Georg, während die Männer sich unsicher anblickten, dann aber doch Zustimmung murmelten. Vielen wurde inmitten dieses eingezäunten leeren Nichts nur langsam bewusst, wie sich die Dinge hier weiter entwickeln könnten. Auch Georg selbst musste nun erst seine Gedanken ordnen. Er blickte vor sich auf den Boden und scharrte unschlüssig mit dem rechten Fuß eine kleine Mulde in eine unbewachsene Stelle, so als lägen die Antworten in der Erde und warteten nur darauf, ausgegraben zu werden.

Als erste Maßnahme erklärte er ihnen endlich, sei eine Bestandsaufnahme der notwendigsten Dinge erforderlich. Dazu gehörten natürlich alle Gegenstände, die irgendwie Schutz vor der Witterung geben konnten. Aus den vorhandenen Zeltbahnen ließen sich drei Spitzzelte zusammenbauen. Sie kamen überein, dass diese bei Bedarf möglichen Kranken unter ihnen zur Verfügung gestellt werden sollten. Der Vorsatz war da, Georg bezweifelte aber insgeheim, dass die Zeltplatzinhaber ihre Plätze widerstandslos räumen würden. Die weitere Sichtung ergab, dass vier der Männer ohne Mäntel und acht ohne Decken waren. Das würden die ersten sein, durchfuhr es Georg. Die ersten, die anfangen würden, zu husten und zu spucken, und am Ende nur noch in sich zusammengekrochen vor sich hinstarren würden. Ohne die Möglichkeit, Feuer zu unterhalten, würde sich ihr Zustand verschlimmern. Bis … Doch diesen Gedanken schob er sofort wieder von sich fort.

Die Bestandsaufnahme der Kochgeschirre und Wasserflaschen immerhin hatte ein weniger katastrophales Ergebnis.

»Übrigens«, machte er ihnen klar, »sollten wir alles mitgehen lassen, was uns irgendwie in die Hände fällt, und wenn es nur ein Stück Bindfaden ist! Aber klaut nichts voneinander oder von anderen Kameraden, das gibt nur böses Blut! Und Streit untereinander ist das Letzte, was wir hier brauchen können!«

»Wie geht es aber mit uns weiter?«, meldete sich einer der beiden Leichtverwundeten in der Gruppe zu Wort und hob seinen Arm mit dem Blut verkrusteten Verband in die Höhe. »Wenn ich nicht bald versorgt werde, krepiere ich daran noch! Ich glaube, ich habe schon so etwas wie Wundbrand. Meine Wunde fängt schon an zu stinken. Es tut höllisch weh!«

Der Mann sah sich Hilfe suchend mit feuchten Augen um. Es war offensichtlich, dass er starke Schmerzen hatte.

Georg wandte sich den Männern zu: »Hat jemand von euch noch etwas Verbandstoff oder etwas, was man als Verband verwenden könnte?«

Einer der Männer fand in seinem Brotbeutel eine nicht mehr ganz saubere Mullbinde und gab sie dem Verwundeten. Der nahm sie dankbar an und ließ sich den alten Verband abwickeln. Der noch brauchbare Teil des Verbandes wurde aufgerollt und von dem letzten blutverkrusteten Verbandsstück mit Georgs Taschenmesser abgetrennt. Dann handelte der Verwundete selber. Er drehte seinen Kopf zur Seite und riss mit einem Ruck, die mit der Wunde verklebte Mullauflage ab, schrie vor Schmerz auf und blickte dann angewidert auf das, was er da freigelegt hatte. Die Wunde rührte von einem Granatsplitter, der den rechten Unterarm aufgeschlitzt hatte. Der Mann hatte noch Glück gehabt, denn der Knochen war unversehrt geblieben. Der heftige Ruck an der Mullbinde hatte an einigen Stellen den Wundschorf aufgerissen. Kleine Blutrinnsale hatten sich neu gebildet und liefen über feuerrote Wundränder, die schon längst hätten zusammengenäht werden müssen. Wenn der Mann das Lager überstehen sollte, würde er ein Leben lang mit einem verkrüppelten Unterarm, der zu nichts mehr taugte, herumlaufen. Georg sah in das vor Schmerz verzerrte Gesicht des Mannes und verfluchte sich, weil er nicht helfen konnte. Er verfluchte aber auch die Amerikaner, weil sie die Verwundeten nicht einmal von den gefangenen deutschen Sanitätern behandeln ließen.

Steinmetz hatte an einer Sanitäterausbildung teilgenommen und versuchte nun zu helfen. Während einer der Männer den Arm des Verwundeten festhielt, zog Steinmetz Reste der mit der Wunde verklebten Mullbinde mit Hilfe zweier Streichhölzer heraus, die er wie eine Pinzette benutzte. Dann nestelte er an seiner Brusttasche herum und zog ein großes Taschentuch heraus. Daraus bildete er einen langen schmalen Tuchstreifen und legte ihn der Länge nach auf die Wunde. Anschließend wickelte er die Mullbinden um den Arm, die gebrauchte zum Schluss. Dankbar sah ihn der Verwundete an und wollte etwas sagen. Steinmetz hängte ihm die Uniformjacke über die Schultern und kam ihm zuvor: »Ist schon gut! Das sind wir uns doch schuldig!«

Ganz allmählich löste sich ihre schweigsame Betroffenheit. Sie begannen ihre Situation so anzunehmen, wie sie im Augenblick war, und bauten sich nun Krücken, um mit ihr zurechtzukommen, indem sie Regeln aufstellten: Diebstahl etwa sollte mit dem Ausschluss aus der Schutzgemeinschaft bestraft werden. Denn überall, wo Mangel herrscht, wird auch der unbedeutendste Gegenstand, der das nackte Überleben sichern helfen kann, zum Gegenstand der Begierde und weckt die niedrigsten Instinkte im Menschen.

Georg sah hin und wieder zu dem Rest der Gruppe hinüber, der mit ihnen hierher getrieben worden war, und bemerkte, dass sich auch dort ein paar größere Gruppen gebildet hatten. Dazwischen saßen oder standen aber auch verlorene kleine Gruppen oder sogar einzelne Soldaten. Zwei Männer fielen ihm dabei wegen ihrer schwarzen Uniformen auf. Es waren Panzersoldaten, die sogar jetzt noch ihre gepolsterten Kopfschützer trugen.

Die tief hängende Wolkenschicht entließ feine Nieselregenschleier, die die Konturen der Landschaft wie in einem schlecht gemalten Aquarell mit trüben Farben von Schwarz über Schmutzigblau bis Wassergrau ineinander verschwimmen ließen. Das Lager selbst nahm die gesamte tischebene Fläche auf dem Westufer des Rheins ein. Die Stacheldrahtzäune verschmolzen zu grotesken Figuren mit dem Grau des Himmels und dem des Rheins. Sie schienen Bestandteile dieses Graus zu sein, ja geradezu aus ihm herauszuwachsen. Die harten Linien waren nur noch zu erahnen oder hatten sich aufgelöst. Dort, wo sie nicht mehr zu sehen waren, hoben sie die Grenze zur Außenwelt auf und erzeugten die Illusion, durch den Zaun hindurchgehen zu können. Das Ostufer des Rheins war als dicker schwarzer Balken in dem Grau auszumachen. Es erhob sich steil und endete als hochgehobene Fläche, auf der ein helleres Grau auflag. Irgendwo im Nordwesten versteckten sich die Ahrberge in dem Dunstschleier. Davor bohrten sich die Türme einiger hoch gelegener Kirchen und Schlösser seltsam verdreht in die Nebelfetzen.

Sie saßen jetzt schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend, eng zusammengedrängt und sich gegenseitig wärmend, auf den ausgebreiteten Zeltbahnen. Die Zeltbahnen boten ihnen zwar einen trockenen Sitz, sie konnten aber nicht verhindern, dass die feuchte Kälte des Bodens durch sie hindurchkroch und sich in ihre Kehrseite krallte.

Der Tag ging übergangslos in eine von grauen Wolkenmassen gefärbte Dämmerung über, die ihre erste Nacht im Lager ankündigte. Der feine Nieselregen drang allmählich durch die tief heruntergezogenen Mützen, fand seine Bahn durch hochgeschlagene Mantelkrägen und ließ die Rücken der Gefangenen frösteln. Aber langsam wurde ihnen wärmer. Das dichte Aufeinanderhocken erzeugte eine Wärme, die die Feuchtigkeit, die von ihren Körpern und aus ihrer Kleidung aufstieg, in einer nebelhaft verdampfenden Dunstschicht über ihnen sichtbar machte. Zu dem sauren, pelzigen Geschmack des Hungers auf ihren Zungen schmeckten sie jetzt ihre eigene abgestandene Wärme, die sie an den seifigen Geschmack dampferfüllter Waschküchen erinnerte. Nur der Geruch war anders.

Aber es gab etwas, das selbst hier Trost spenden konnte, jedenfalls für Georg. Seine Hand fuhr in die Uniformjacke und holte eine von einem Einkochglasgummi zusammengehaltene lederne Brieftasche hervor. Sie war ziemlich dick, ohne das Gummiband wäre der Inhalt herausgequollen. Er öffnete sie nicht, um den kostbaren Inhalt nicht nass werden zu lassen. In diesem Augenblick genügte es ihm, die Brieftasche nur zu umklammern und festzuhalten. Die Briefe darin waren dem Datum nach geordnet und waren von seinen Eltern und von Marie geschrieben worden. Die meisten, es waren auch die längsten, waren von Marie. Georg nahm sich vor, jeden Abend, wenn es nicht regnete, einen der Briefe zu lesen. Er kannte sie zwar alle schon auswendig, aber sie würden ihm das, was er am meisten vermisste, auch an diesen trostlosen Ort holen. Seine Finger umschlossen die Brieftasche mit hartem Griff, fanden und verschränkten sich und führten die Hände unwillkürlich zum Gebet zusammen. Ungeordnete Gedanken, gestammelte Wortfetzen schossen ihm plötzlich durch den Kopf, bildeten Worte, Sätze, bis sie sich schließlich in einem Gebet wiederfanden. Erst als ihm die Bitte einfiel, Gott möge den verdammten Krieg endlich beenden, wurde ihm bewusst, dass für ihn und seine Kameraden hier der Krieg vorbei war. Anderswo im Reich wurde aber noch gekämpft. Bis vor ein paar Tagen waren in den Nächten die von Nordwesten einfliegenden Bombergeschwader zu hören gewesen. Jetzt, wo der Himmel sich wieder zugezogen hatte und die Bomberpiloten keine freie Sicht mehr hatten, waren die Nächte zwar wieder ruhig, aber der Krieg schien nur zu schlafen und neue Kräfte zu sammeln.

Georg atmete tief durch und fühlte sich auf eine seltsame Art erleichtert. Er hatte sich wieder dem anvertraut, den seine Mutter und Pfarrer Hülsenbeck ihm immer als letzte Zuflucht empfohlen hatten. Er hatte sich dem anvertrauen können, von dem er nicht wusste, ob er ihm überhaupt zugehört hatte oder ob er überhaupt da war – und wenn er da war, ob er für ihn da war.

Plötzlich war auch das Gefühl wieder da, das ihn mit Unterbrechungen schon seit ein paar Tagen immer wieder überkam. Es kam aus der Körpermitte und machte sich in allen Gliedern bemerkbar. Eine dumpfe Faust schien seinen Magen zu umklammern. Hin und wieder spürte er ein Stechen und Ziehen, das bis in die Gesäßmuskeln und Oberschenkel kroch und dort wütend verharrte. Dann wieder kroch dieses Gefühl nach oben in den Brustkorb, engte ihn ein und füllte seine Mundhöhle mit einem eigenen Geschmack. Es war der Geschmack des Hungers. Er lag auf seiner pelzigen Zunge und schmeckte nach fadem Speichel. Wann hatte er eigentlich zum letzten Mal richtig gegessen? Er erinnerte sich nur noch an eine Hand voll Kekse und an Haferflocken, die er trocken heruntergewürgt hatte. Da fiel ihm der Apfel ein, den ihm heute Morgen – war das wirklich erst heute Morgen gewesen? – eine alte Frau zugeworfen hatte. Georg erhob sich langsam und kramte den Apfel hervor. Es war ein schöner Apfel, und es war ein großer Apfel! Er rieb ihn an seinem Mantel, hob ihn an die Nase, nahm den Duft wahr und biss vorsichtig hinein, fast ehrfürchtig, so, als wolle er ihm nicht wehtun. Er spürte, wie der Saft des Fruchtfleisches den Kampf mit dem Geschmack des Hungers aufnahm – und gewann. Langsam kauend kostete er diesen ersten Bissen aus und ließ sich Zeit mit dem zweiten. Seine Zunge spürte lange der frischen Säure des Apfels nach und versuchte den Geschmack festzuhalten. Bedächtig verzehrte er ihn, nichts blieb am Ende übrig. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so lange an einem Apfel gegessen zu haben.

Allmählich, nachdem jeder nun eine einigermaßen erträgliche Sitzposition gefunden hatte, wich die Unruhe aus dem zusammengedrängten Gefangenenhaufen, und auch Georg merkte, dass ihm die Augen zufielen. Einmal wurde er wach, weil er das Gefühl hatte, ein großer Stein läge auf seiner Brust und drücke ihn zu Boden. Aber es war nur Krumbiegls Kopf, der auf seiner Schulter ruhte. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Georg beneidete ihn und wagte sich nicht zu bewegen, um ihn nicht aufzuwecken. Um auch wieder einschlafen zu können, schloss er die Augen. Aber diesmal wollte es nicht gelingen. Er versuchte sich etwas Erfreuliches ins Gedächtnis zu rufen, aber wann hatte es so etwas zuletzt für ihn gegeben? Langsam drängte sich dann ein Gesicht in seine Vorstellungen. Marie! Sie lachte ihn an. Der Zopf war gelöst, und das blonde Haar fiel ihr in langen weichen Wellen auf die Schultern. Ihr Gesicht schob sich dem seinen entgegen, und er sah deutlich die Grübchen auf ihren Wangen und die kleine Narbe auf dem Nasenrücken. Es war während des Heimaturlaubs gewesen, dass er sie so gesehen hatte, bei ihrem letzten Beisammensein. Am nächsten Morgen war er wieder zurück in die Normandie gefahren.

Es war ein schöner Tag im Mai, der Abend war mild und hell. Sie warteten, bis die Lichter in den Häusern erloschen waren, dann trafen sie sich am Tor der alten Scheune der von der Beekes. Als Georg das Tor einen Spalt breit öffnete, quietschte das verdammte Ding. Sie hielten den Atem an, aber in den Häusern regte sich nichts, und sie huschten hinein. Georg nahm eine Petroleumlampe vom Haken, zündete sie an und drehte den Docht fast ganz herunter. Das flackernde Licht erhellte den Raum nur spärlich, es zeigte den kleinen Leiterwagen mit hochgestellter Deichsel, einige ineinandergestapelte Weidenkörbe, von den Balken herabhängendes Tauwerk und das fast gänzlich geleerte Heulager im Hintergrund. Ihre Schatten auf dem Boden in der trüben Beleuchtung verschwammen und gingen unmerklich in die Dunkelheit über.

Marie schmiegte sich aufgeregt an Georg. Er nahm ihren Kopf in seine Hände und küsste sie. Dabei kam ihm der Duft frisch gewaschener Haare in die Nase. Sie schlang ihre Arme um Georgs Nacken und zog ihn fest an sich. Er spürte durch den dicken Uniformstoff hindurch ihre kleinen festen Brüste und das aufgeregte Pochen ihres Herzens. Langsam, sich aneinander klammernd, gingen sie auf das Heulager zu. Georg zog die Pferdedecke von der Trennwand herunter und breitete sie auf der Heuunterlage aus.

Als sie sich niederließen, spürte Georg Maries heißen Atem an seinem Hals. Sie wandte ihm den Kopf zu, und er sah trotz des trüben Lichts ihre Augen feucht schimmern. Er küsste ihre Tränen fort, und sie hielten einander lange fest umschlungen. Seit sie in die Scheune geschlichen waren, hatten sie noch kein Wort geredet. Sie mussten auch nicht reden, sie wussten ja, was sie füreinander waren und empfanden, und sie wussten, warum sie hierhergekommen waren. Mit leiser Stimme, die beherrscht klingen sollte, brach Marie schließlich das Schweigen. Sie bat ihn, auf sich aufzupassen, sie nicht zu vergessen und gesund zurückzukommen. Er versuchte sie ebenso leise zu beruhigen und erklärte ihr, dass dort, wo er stationiert war, wohl nichts mehr passieren könne. Die Alliierten hätten wohl nach der Schlappe von Dieppe eingesehen, dass eine Landung in der Normandie für sie keine Aussicht auf Erfolg haben würde.

Marie ließ sich gerne beruhigen, spürte aber hinter seinen Worten doch eine gewisse Unsicherheit. Wie von selbst begannen sie einander die Kleidung zu öffnen. Die Knöpfe seiner Uniformjacke widersetzten sich zuerst Maries Bemühungen. Georg hatte leichtere Arbeit mit ihrem Kleid. Als er es ihr über den Kopf zog, bemerkte er erst, dass sie nichts darunter trug. Er schälte sich hastig aus dem Rest seiner Kleidung. Sie legten sich zueinander, hielten sich umschlungen und spürten nun eine ganz andere Wärme des anderen.

Unendlich langsam, aber mit steigendem Verlangen erkundeten sie einander. Georgs an harte Griffe gewöhnte Hände fuhren an Maries Körper entlang und schienen ihn neu formen zu wollen. Marie ließ ihn gewähren. Sie streichelte seinen Rücken und löste damit wohlige Schauer aus, auf die er mit unterdrücktem Lachen reagierte. Dann fanden sie sich. Marie bäumte sich ihm entgegen und er spürte ihre feuchte Wärme. Sie grub ihre Fingernägel in seinen Rücken, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. So blieben sie lange, ohne ein Wort zu sagen, beieinander liegen, hielten einander fest, um diesen Augenblick nicht entkommen zu lassen. Schließlich lösten sie sich voneinander. Georg bemerkte auf der Innenseite von Maries Oberschenkeln einen feinen Blutfaden. Er zog seine Hose zu sich heran, holte ein Taschentuch aus der Tasche und wischte das Blut damit ab. Dann faltete er das Tuch sorgfältig zusammen und steckte es wieder in die Tasche zurück. Das Taschentuch trug er immer bei sich, bis es auf dem Rückzug in der Normandie verloren ging.

Sie kamen in dieser Nacht noch einmal zueinander und schliefen schließlich, die Gesichter einander zugewandt, erschöpft ein.

Der Hahn beendete ihre Nacht. Er machte sich zwar nicht allzu laut bemerkbar, es reichte aber aus, sie beide zu wecken. Die Lampe war inzwischen auch verloschen, und durch die Ritzen der Scheunenwand kündigten lange Sonnenfinger einen schönen neuen Maitag an. Hastig zogen sich beide an, gingen auf das Tor zu, und Georg spähte vorsichtig hinaus. Er nahm Maries Hände und hob sie an die Brust. »Ich komme zurück, Marie! Das verspreche ich dir!« Dabei schimmerten seine Augen feucht.

»Ich werde auf dich warten, Georg! Ich werde da sein, wenn du zurückkommst!«

Sie hatten in dieser Nacht wenig gesprochen, sich dabei aber alles gesagt, was Liebende zueinander sagen können.

Marie ließ ihn los.

»Nun geh schon, und schau nicht zurück. Ich seh dir nach! Wenn du nachher gehst, stehe ich oben am Fenster! Sieh dann hinauf!« Damit schob sie ihn durch das Tor und lauschte seinen Schritten nach.

Als er ins Haus trat, kam ihm sein Vater entgegen und sagte seltsam leise: »Da bist du ja, mein Junge! Es wird Zeit!«

Und dann tat sein Vater etwas, was er schon lange nicht mehr getan hatte, er zog den Kopf Georgs zu sich herunter und küsste ihn auf die Stirn. Dann entfernten seine wissenden Finger ein paar Heufäden von der Uniform.

»Geh in die Küche, Junge! Mutter wartet schon mit dem Frühstück auf dich. Ich bring dich dann zum Zug!«

An diesem Morgen hatte er Marie zum letzten Mal gesehen. Vierzehn Tage später landeten die Alliierten in der Normandie.

Unruhe kam um ihn herum auf. Die Nacht verlor sich langsam an den Tag. Georg hob den Kopf und bemerkte die Veränderung sofort. Der Regen hatte aufgehört.

Der Hölle entkommen

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