Читать книгу Der Hölle entkommen - Eberhard Bordscheck - Страница 11

Eingewöhnung

Оглавление

Im Dunst des frühen ersten Tages wurde der gesamte cage unter Bewachung zurück zum Haupttor getrieben. Die Bewachungsmannschaft war wegen dieses frühen Auftrags missgelaunt und trieb die erschöpften und hungrigen, noch nachtstarren Gefangenen unnachgiebig vorwärts. Hinter dem Haupttor gab es einen großen freien Platz, der durch viele Füße in eine morastige Fläche verwandelt worden war. Am Ende des Platzes standen zwei große Zelte. Vor und um die Zelte herum waren große Matten ausgelegt, damit die Wachmannschaften keine schmutzigen Stiefel bekamen. Das ganze cage musste sich nun einzeln, wie zu einer Essensausgabe, hintereinander aufstellen. Hoffnung keimte auf, jetzt doch etwas zu essen zu bekommen. Einige nestelten schon an ihren Kochgeschirren herum, aber sie sollten enttäuscht werden.

Georg stand mit seiner Gruppe ziemlich weit vorne in der Reihe und versuchte einen Blick in das Innere des ersten Zeltes zu werfen, als sich plötzlich ein Sergeant und zwei GIs aus der Wachtruppe lösten und wild gestikulierend auf die beiden Panzersoldaten zustürmten, die ihm am Tag zuvor aufgefallen waren. Die unmittelbar daneben stehenden Gefangenen wichen zurück. Ob die Amerikaner die schwarz uniformierten Gefangenen vielleicht für SS-Männer hielten? »SS-men! You are SS-men!«, schrie der Sergeant die beiden tatsächlich an und stieß dabei seinen Zeigefinger immer drohender in die Luft.

Georg fürchtete, dass sich hier so etwas Ähnliches wie am Tag zuvor am Zaun anbahnen könnte. Um Schlimmeres zu verhüten, wagte er es, ein paar Schritte aus der Reihe herauszutreten, klaubte sein Schulenglisch zusammen und versuchte, den Irrtum aufzuklären. Der aufgebrachte Sergeant wandte ihm ein überraschtes, wutrotes Gesicht zu, als er auf ihn zutrat.

»Hey, Sergeant! You’re wrong! These men aren’t SS-men! They’re ordinary panzer troopers! German panzer troopers wear black uniforms, too! Tank trooper uniforms look like the ones of the SS! Look at their caps! Besides they wear the eagles on the right chest and not on the left upper arm … and they haven’t got any SS-signs on their uniforms! These men belonged to an armoured panzer division!«

Der Sergeant stand mit offenem Mund da und sah den Gefangenen verblüfft an. Er senkte seinen drohenden Finger und musterte Georg genauer. Sein Blick glitt von seinem Gesicht zu den Schulterstücken, an denen er den Unteroffizier erkennen konnte, dann wanderte er hinüber zu den beiden Panzersoldaten, und er schien nun tatsächlich die Unterschiede zu den verhassten SS-Uniformen zu bemerken. Er schob sein Kinn Georg entgegen und bemühte sich, ihn mit einem vernichtenden Blick zu fixieren, in dem aber dennoch etwas neu erwachter Respekt mitschimmerte. Dann knurrte er etwas Unverständliches und bellte den Gefangenen nicht mehr ganz so aufgebracht an: »Bloody German! Go back, boy! We’ll see … in the tent!«

Georg gehorchte und bemerkte beim Wiedereintreten in die Reihe die erleichterten Blicke der Kameraden. Nun wusste er, welchem Zweck die Zelte dienten. Nichts war es mit dem Verpflegungfassen!

Bald erfuhren es auch die anderen. Im ersten Zelt wurden sie der Reihe nach auf ihre Zugehörigkeit zur SS untersucht. Dazu mussten sie ihre Oberbekleidung ablegen und den linken Arm hochheben. Sanitätssoldaten suchten dort nach den bei SS-Angehörigen üblichen eintätowierten Blutgruppenkennungen. Besonderes Augenmerk richteten sie dabei auf etwaige Verletzungen, mit denen SS-Angehörige versucht haben könnten, ihre Tätowierungen auszulöschen. Unter den Gefangenen des cages fand sich aber kein einziger SS-Mann.

Georg konnte sich lebhaft vorstellen, was die Amerikaner mit Angehörigen der SS machen würden, wenn sie sie erwischten. Und er konnte es sogar verstehen! Bei den Kämpfen in den Ardennen und im Hürtgenwald hatte er sie als gnadenlose Angreifer und Zerstörer erlebt. Auf ihrer Angriffsspur gab es so gut wie keine verletzten oder gefangen genommenen alliierten Soldaten.

Nach dieser Sichtkontrolle mussten sie im zweiten Zelt, das in einen milchigweißen Dunstschleier gehüllt war, ihre gesamte Kleidung ablegen. Die amerikanischen Soldaten trugen einen Mundschutz und stäubten die Gefangenen mit einem Entlausungspulver ein. Dabei wurden alle kritischen Stellen des Körpers, vor allem die Körperöffnungen, bedacht. Sie wurden, fand Georg, wie eine Herde Schafe behandelt, die durch ein Zeckenbad getrieben wird. Er stolperte aus dem Zelt heraus und kleidete sich hastig wieder an, um der scharfen Morgenkälte zu entkommen. Seine bepuderte Haut fühlte sich nun unter der Kleidung stumpf an und seine Oberschenkel scheuerten beim Gehen am rauen Hosenstoff. Verdammt, dachte er wütend, wenn wir wieder zurück im Käfig sind, werde ich mir zu allem Überfluss noch einen Wolf gelaufen haben.

Erst nachdem er das Zelt verlassen hatte, fiel ihm auf, dass die Amerikaner während der gesamten Prozedur überhaupt keine Anstalten gemacht hatten, die Gefangenen zu registrieren. Nun begann ihm zu dämmern, dass die Alliierten auf eine so große Zahl zu versorgender Gefangener überhaupt nicht eingerichtet waren. Das ließ nichts Gutes für die nahe Zukunft der vielen noch zu erwartenden Gefangenen ahnen. Hunger!

Inzwischen hatte wieder ein feiner Nieselregen eingesetzt.

Einige Gefangene hatten während der Warterei nach der Behandlung ein paar Metallfässer entdeckt, die hinter den Zelten am Stacheldrahtzaun aufgereiht standen. In den nach innen gefalzten Deckeln hatte sich Regenwasser gesammelt. Ein paar Gefangene stürzten sich auf diese Deckel und schleckten das Wasser wie Hunde. Andere versuchten, ihre Kochgeschirre zu füllen. In dem allgemeinen Gedränge stürzten einige Fässer um, und das kostbare Wasser versickerte. Die Wachsoldaten schauten amüsiert zu und hatten offensichtlich Spaß an der Szene.

Als sich die Gruppe in Richtung ihres cages auf den Weg machte, hörten sie näherkommende Marschschritte. Kurz darauf schwenkte eine neue Kolonne Gefangener auf das Haupttor des Lagers zu. Jetzt wurde Georg klar, warum sie so früh am Morgen diese ganze Prozedur über sich hatten ergehen lassen müssen. Ihre Revolte tags zuvor hatte den reibungslosen Ablauf der Lagerbelegung verzögert. Darum hatten sie, bevor neue Hungerleider eintrafen, die Begrüßungszeremonie nachholen müssen.

Als die Gruppe ihren cage erreichte und in ihrem »Zuhause« wieder ihr verlassenes Nachtlager besetzte, hatte sich Georg tatsächlich einen Wolf gelaufen. Die Zeltbahnbesitzer errichteten ihre Zelte und setzten so markante Punkte in das Nichts. Andere versuchten nun, Schlafmulden aus dem Boden herauszukratzen. Dazu benutzten sie die Löffel ihrer Essbestecke. Auch Georg und Krumbiegl bemühten sich, ein gemeinsames Loch zu erbuddeln. Diesem Beispiel folgten auch andere und machten sich ebenfalls paarweise an die Arbeit, die ein mühevolles Unterfangen war. Der Boden war durch den tagelangen Regen zwar aufgeweicht und die Zusammensetzung des Erdreichs hätte das Graben mit normalen Werkzeugen leicht gemacht, aber ein Löffel ist nun mal ein Löffel und kein Spaten. Der gelockerte Boden wurde mit den bloßen Händen am Rand des ausgehobenen Lochs als Windschutz aufgeschüttet, so, wie sie es im ersten Lager gesehen hatten. Es war eine mühselige Arbeit. Als es gegen Mittag ging, hatten sie gerade eine Handbreit Erde ausgehoben.

Georg und Krumbiegl schafften bis zum späten Nachmittag eine etwa zwei Handbreit tiefe Mulde. Sie überschlugen ihre Arbeitsleistung und schätzten, dass es sie noch drei Tage Arbeit kosten würde, um ein Loch gebuddelt zu haben, das ausreichend tief war, um sie wenigstens nachts vor den ständig wehenden Winden einigermaßen zu schützen.

Ein Motorengeräusch auf der Lagerstraße ließ sie plötzlich aufhorchen. Kurz darauf wurde der Drahtverhau zu ihrem cage geöffnet, und ein kleiner Militärlastwagen fuhr hinein. Ein paar GIs sprangen herunter, und ein Corporal pfiff die Gefangenen mit einer Trillerpfeife zum Wagen. Die amerikanischen Soldaten waren alle noch sehr jung. Ihre sauberen Uniformen bildeten einen seltsamen Kontrast zu der auf sie zukommenden zerlumpten Masse. Sie unterschieden sich sogar noch von den Truppen, mit denen es die Gefangenen bisher auf dem Marsch und im Lager zu tun gehabt hatten. Auch der das Kommando führende Corporal war nicht viel älter als seine Soldaten, von denen einige den harten Burschen herauszukehren versuchen, obwohl sie, wie Georg vermutete, wohl noch nie in einem Gefecht gewesen waren. Der Corporal war sichtlich um Autorität bemüht und brüllte ständig Befehle. Inzwischen hatten die Gefangenen den Lastwagen erreicht und vervollständigten das Chaos. Sie umringten ihn und versuchten herauszufinden, was er geladen hatte. Hoffnungsvolle Rufe kamen aus der Menge.

»Es gibt was zu fressen, Kameraden! Das wird ein Fest!«

»Macht schon die Klappe auf! Wir haben Kohldampf!«

Die GIs drängten die hungrigen Gefangenen mit quer vor der Brust gehaltenen Gewehren allmählich zurück und schafften es schließlich irgendwie, die nach Essen gierenden Gefangenen in Reihen zu ordnen. Vielleicht setzte sich auch nur bei den Gefangenen die Erkenntnis durch, dass sie, je geordneter sie anstanden, auch umso eher etwas zu essen bekamen. Einige Gefangene mussten auf den Wagen klettern und ein dreibeiniges Gestell herunterheben, in das ein gummierter Sack eingehängt wurde. Dann wurden Kanister vom Wagen abgeladen, in einer Reihe vor dem Gestell aufgebaut und ihr Inhalt in den Sack geschüttet. Es war klares frisches Wasser.

Das amerikanische Kommando hatte nur Wasser gebracht. Auf den Gesichtern der Gefangenen zeigte sich grenzenlose Enttäuschung. Nach der enttäuschten Hoffnung vor den Entlausungszelten war dies der zweite Tiefschlag im Laufe des Tages. Niedergeschlagen reihten sie sich in die Schlange ein, um ihre Feldflaschen oder Kochgeschirre mit Wasser zu füllen. Das Begleitkommando stand abseits und sah dem Treiben am Wassersack gelangweilt zu.

Georg stieß Krumbiegl an. »Komm, lass uns versuchen, einen vollen Kanister zu klauen. Gib’s an die anderen weiter!«

Krumbiegl nickte.

Sie waren Verschwörer ohne Plan, doch ein Zufall kam dem Vorhaben zu Hilfe. Das Dreibein hielt dem Geschaukel bei der Wasserentnahme auf dem vom Regen aufgeweichten Untergrund nicht stand, neigte sich plötzlich, stürzte um und ergoss seinen kostbaren Inhalt auf den Boden. In dem allgemeinen Tumult gelang es Randauer und Krumbiegl, einen der vollen Kanister zu sich heranzuziehen. Sie deckten ihn mit ihren Körpern und warfen ihre Mäntel darüber. Die anderen erfassten die Situation sofort und folgten ihrem Beispiel, sodass sich schließlich über dem Kanister ein Mantelberg türmte. Sie taten jetzt sehr geschäftig und versuchten mit viel Hallo, das Gestell wieder aufzurichten.

Die amerikanischen Soldaten hatten von dem Manöver nichts gemerkt und amüsierten sich über die Bemühungen der Gefangenen beim Wiederaufrichten des Gestells. Der Sack wurde wieder mit Wasser gefüllt, und die Verteilung ging weiter. Der Corporal ließ die leeren Kanister auf den Lastwagen laden, ohne die Anzahl zu kontrollieren. Georg hatte unwillkürlich die Luft angehalten und atmete mit einem »Huh« erleichtert aus, als die GIs aufsaßen und der Lastwagen das cage verließ. Die Männer nahmen ihre Mäntel wieder auf und schleppten ihre Beute mit einem Gefühl des Triumphs zu ihren Löchern. Der Inhalt des Kanisters bedeutete für jeden von ihnen etwa einen Liter Wasser! Mit dem, was sie außerdem in ihre Feldflaschen und Kochgeschirre abgefüllt hatten, waren sie jetzt fast zwei Liter Wasser reich!

Wind und Regen kamen weiterhin beständig aus Nordwesten, schwächelten manchmal und ließen dann die Hoffnung auf eine Wetteränderung aufkeimen. Georg und Krumbiegl arbeiteten weiter an ihren Löchern. Der heftiger werdende Regen grub kleine Furchen in die Wälle und drohte die ganze Arbeit wieder zunichte zu machen. Als sich die regenschwere Dunkelheit über das Lager senkte, beendeten sie die Arbeit. Sie hatten bis jetzt ein drei Handbreit tiefes Loch erbuddelt, auf dessen Boden sich kleine Pfützen bildeten, und nun suchten sie ihre nähere Umgebung nach Dingen ab, mit denen sich das feuchte Loch einigermaßen auspolstern ließ. Sie fanden das Stück eines Zementsacks und schnitten mit Georgs Taschenmesser vom Regen platt gedrücktes Vorjahresgras ab. Damit bedeckten sie den Boden ihres Lochs und deckten es mit der Zementtüte ab. Sie setzten sich darauf, rückten aneinander und legten sich Georgs Decke über ihre Köpfe und Schultern.

Georg erinnerte sich an seinen Vorsatz, jeden Abend einen Brief von Marie zu lesen. Als er nach den Briefen in die Jackentasche griff, klatschten ein paar dicke Regentropfen auf seine schmutzigen Hände. Angewidert sah er zu, wie sie sich in den Dreck hineinfraßen und hässliche Muster auf der Haut hinterließen. Da zog er die Hand zurück und beschloss, die Briefe nur bei trockenem Wetter herauszunehmen, um sie nicht zu beschmutzen.

Die zweite Nacht begann wie die erste. Der Regen fiel gleichmäßig, aber er spürte ihn schon nicht mehr. Der Morgen quälte sich aus der Nacht, so wie der vergangene Abend in die Nacht hineingekrochen war – grau, nass und kalt. Georg wusste nicht, was ihn geweckt hatte, eine Bewegung Krumbiegls, ein eingeschlafener Arm oder der plötzlich mit Windböen daherkommende Regen. Auch Krumbiegl bewegte seine schlafsteifen Glieder, und aus den Nachbarlöchern waren ebenfalls Bewegungen, Hustengekrächze und Fluchen zu vernehmen. Die Gefangenen verließen ihre Löcher, bewegten die steifen Knochen, einige wünschten sogar einen »Guten Morgen« und machten flapsige Bemerkungen über das Hotel und sein Personal. Georg ging ein paar Schritte und spuckte den nach Magensäure und Hunger schmeckenden Speichel in hohem Bogen über den Stolperdraht.

An diesem Morgen lernten sie auch die Latrinen des Lagers kennen. Sie befanden sich an der Längsseite des Zaunes zum Rhein hin und bestanden aus einem etwa metertiefen Graben, den ein Bagger ausgehoben hatte. Der Aushub war gnädigerweise auf der dem Lager zugewandten Seite des Grabens aufgeworfen worden und diente so als Schamschutz. Der Graben war von den Gefangenen zunächst gar nicht wahrgenommen worden, und bis dahin hatten sie über den Stolperdraht gepinkelt. Da Mägen und Därme leer waren, war die Frage, wo man scheißen könne, gar nicht erst aufgekommen. Irgendjemand hatte an diesem Morgen dann aber doch die Frage nach der Latrine gestellt. Nicht, dass er sie benutzen wollte; die Frage war nur gestellt worden, um irgendeinen Anlass für ein Gespräch zu haben. Nun wurde die Anlage begutachtet. Sie war etwa vierzig Meter lang und so breit, dass sich ein Mann mit gespreizten Beinen darüberstellen konnte, um seine Notdurft zu verrichten. Die Männer sahen sich verblüfft an. Witze wurden gerissen. »Das ist das längste französisch Klo, das isch je gesäen abe!« Gelächter.

Sie beschlossen, die Latrine gemeinsam einzuweihen. Dazu stellten sie sich in langer Reihe vor den Graben und pinkelten auf Kommando hinein. Einer rief: »Wir taufen dich auf den Namen ›Große Arschspalte‹!« Allgemeine Zustimmung.

»Bei dem Ding muss man beim Scheißen aber genau zielen, sonst scheißt du dir in die Schuhe!«

»Man muss auch einen festen Stand haben, wenn die Ränder glitschig sind, rutschst du aus, und du stehst in der Scheiße!«

Immer neue Möglichkeiten und Gefahren bei der Benutzung des Grabens wurden erörtert. Dann schwand das Interesse, und sie gingen zurück zu ihren Löchern, um weiterzuarbeiten. Inzwischen war auch das letzte Wasser aus dem Kanister aufgebraucht. Der Gummisack hing schlaff an seinem Gestell und war nicht wieder aufgefüllt worden. Georg hätte in diesem Augenblick nicht sagen können, was schlimmer war – Hunger oder Durst. Aber bald wusste er es: Sein Hals wurde trocken, und seine Zunge schwoll an und lag im Mund wie dick aufgequollene Pappe.

Es war widersinnig. Rechts floss der Rhein, und um sie herum war Regen. Sie waren von Wasser umgeben und konnten doch nicht trinken! Einige verfielen auf eigenartige Methoden, um ihren Durst zu stillen. Sie nahmen dabei groteske Haltungen ein, die schnell kopiert wurden. Einem zufälligen Zuschauer boten die durstigen Männer ein Panoptikum der Lächerlichkeit. Sobald der Regen heftiger wurde, stellten sich ihm einige Gefangene mit offenem Mund entgegen und versuchten aus der Luft zu trinken. Andere hielten ihre Kochgeschirre in den Regen oder spannten Taschentücher auf und saugten das Wasser heraus. Eine andere Methode war das »Zelte melken«. Dabei wurde der Regen, der an den paar verbliebenen Zeltwänden herablief, in Kochgeschirren aufgefangen.

Endlich, nach drei Tagen – oder waren es schon vier? – kam ein kleiner Lastwagen, der von einem Jeep begleitet wurde, an ihren Drahtverhau heran. Der Verhau wurde geöffnet und der Lastwagen rumpelte rückwärts in die Lücke. Ein paar GIs sprangen lärmend heraus und öffneten die Ladeluke.

Diesmal beeilte sich keiner der Gefangenen. Langsam, teils schon aus Schwäche, aber auch, weil sie befürchteten, wieder enttäuscht zu werden, näherten sie sich dem Lastwagen. Die GIs hatten inzwischen aus einigen Kisten und einem darüber gelegten Brett einen Tisch improvisiert. Andere füllten den Gummisack wieder mit Wasser.

»Ich glaube es ja nicht! Diesmal gibt es wirklich was zu essen!« Schulte war begeistert.

»Freu dich nicht zu früh, Dicker!«, dämpfte Randauer die Erwartungen.

Trotzdem bildete sich vor dem Kistentisch so etwas wie eine Schlange. Das Bilden von langen Reihen, dachte Georg, scheint Soldaten im Blut zu liegen, besonders wenn es ums Essenfassen geht.

Kartons wurden von der Ladefläche heruntergereicht und auf den Tisch gestellt. Die hinten Stehenden reckten die Hälse, um zu sehen, was da vorne verteilt werden sollte. Dann hielten auch sie ihre Verpflegung in den Händen.

»Was ist das denn?« Schulte bekam den Mund nicht mehr zu.

»Babynahrung!«, kommentierte Steinmetz. »Das ist Schonnahrung. Nachdem wir so lange nichts mehr gegessen haben, müssen wir erst wieder schonend auf richtiges Essen vorbereitet werden!«

Die Enttäuschung über das, was sie da in ihren Händen hielten, machte sich in sarkastischen Äußerungen Luft. Georg nahm sein Paket Haferflocken entgegen und beeilte sich, seine Wasserflasche zu füllen. Sie schlichen zu ihren halb fertigen Löchern zurück und versuchten die Haferflocken zu essen. Einige hatten sich sofort gierig eine große Hand voll in den Mund gesteckt und begannen sie sofort wieder auszuwürgen, denn die staubtrockenen Flocken blieben ihnen im Halse stecken. Georg feuchtete mit einem Schluck Wasser seine Kehle an und nahm nur einen Löffel voll Flocken in den Mund. Sie waren absolut geschmacklos. Er kaute und kaute, bis sie einen fein zermahlenen Brei ergaben, der sich dann mit einem Schluck Wasser herunterspülen ließ. Als seine Kiefer zu schmerzen begannen, stellte er das Kauen ein. Er hatte nicht das Gefühl, überhaupt etwas gegessen zu haben, es war, als würden die Haferflocken die Nahrungsaufnahme nur vortäuschen.

An diesem Tag machte ihnen aber wenigstens der Wettergott ein Geschenk, über das sie Grund zur Freude hatten: Es hörte auf zu regnen, und ein kühler Wind vertrieb die letzten Wolken. Nach Tagen grauer Düsternis zeigte der Himmel ein verwaschenes Blau. Die halbfertigen Erdlöcher wurden an diesem Tag auch fertiggestellt. Sie waren so tief und breit, dass die Gefangenen mit angewinkelten Beinen einigermaßen bequem darin sitzen konnten. Ihre Köpfe schauten noch über die Grube hinaus, und sie konnten sie zum Schlafen auf den Erdaushub legen.

Um in Bewegung zu bleiben, machte Georg mit Krumbiegl einen Spaziergang am Drahtverhau entlang. Krumbiegl bückte sich plötzlich und zupfte ein paar Blätter vom Boden.

»Hier, schau mal, Georg!« Krumbiegl hielt ihm ein paar Löwenzahnblätter hin. »Die kann man essen. Meine Mutter machte daraus immer einen leckeren Salat. Er ist ein bisschen bitter, aber man kann sich daran gewöhnen.«

Er steckte ein Blatt in den Mund und begann zu kauen.

»Es fehlt zwar Essig und Öl, aber … versuch’s mal, Georg!«

»Ihr Weinfritzen schreckt auch vor nichts zurück!« Georg sah die Löwenzahnblätter skeptisch an. »Ich kenn die nur als Viehfutter. Aber ihr esst ja auch Schnecken!«

Krumbiegl verdrehte gespielt genießerisch die Augen. »Erinnere mich nicht daran, mir läuft schon das Wasser im Munde zusammen!«

Georg besah sich eines der Blätter und schob es vorsichtig in den Mund. Die Blätter waren vom Regen der letzten Tage sauber gewaschen, und er musste zugeben, dass sie zwar bitter schmeckten, aber durchaus genießbar schienen. Um den bitteren Geschmack zu überdecken, schob er sich einen Löffel Haferflocken in den Mund und stellte erstaunt fest, dass sich der Brei nun besser schlucken ließ.

Als sie zu ihrer Grabensiedlung zurückkamen, zeigten sie den Kameraden die neue Nahrungsquelle. Auch sie waren zunächst nicht sehr begeistert, nach den ersten Kauversuchen begaben sich aber die ersten schon auf die Suche nach Löwenzahn. Am nächsten Tag war dann um ihren Lagerplatz herum alles an essbarem Löwenzahn verschwunden.

Das trockene Wetter hielt ein paar Tage an, dann setzte wieder Dauerregen ein. Und wie Georg vorausgesehen hatte, füllte sich auch ihr cage rasch mit neu eingetroffenen Gefangenen. Um sie herum wurde es jetzt laut und eng. Es kam zu ersten kleineren Prügeleien um einzelne Standorte. Besonders eine größere Gruppe Artilleristen tat sich beim Abstecken ihres Reviers lautstark hervor. Ein großer, ungeschlachter Kerl war der Wortführer des Haufens.

»Mit denen wird es noch Probleme geben«, sagte Georg zu Krumbiegl. Der nickte und zeigte auf den Anführer. »Besonders den da müssen wir im Auge behalten!«

Auch bei den Wachmannschaften gab es Veränderungen. Waren bisher am äußeren Zaun nur hin und wieder Wachposten aufgetaucht, so langweilten sich jetzt alle hundert Meter Doppelposten. An der Außenecke wurde gerade durch ein Gefangenenkommando ein einfacher Wachturm mit einem Scheinwerfer errichtet.

»Heute Nacht schlafen wir mit Beleuchtung.« Krumbiegl war sein Ärger anzusehen.

»Was meinst du, Karl?«, fragte Georg ihn unvermittelt. »Welchen Bereich deckt der Scheinwerfer wohl ab? Ich glaube nicht, dass er bis zum Zaun reicht, der am Rhein entlangführt.«

»Du denkst ans Türmen!«

Der Scheinwerfer brachte Georg erst ins Bewusstsein, was ihm eigentlich von Beginn an hätte klar sein können: Eine Flucht war nur über den Rhein möglich! An der Rheinseite standen keine Wachtürme, aber wie weit der Scheinwerfer reichte, würde sich erst heute Nacht herausstellen.

»Eine Flucht über den Rhein zu dieser Jahreszeit ist unmöglich!«, gab Krumbiegl aber zu bedenken. »Das Wasser ist noch viel zu kalt.«

Das wussten natürlich auch ihre Gefangenenwärter. Deshalb ersparten sie sich die Mühe des Aufstellens von Wachtürmen entlang des Rheins.

»Karl, es geht aber nur über den Rhein«, widersprach Georg. »Wer weiß, wie lange wir hier sonst noch festgehalten werden. Auf warmes Wetter müssen wir natürlich noch warten. Wenn wir bis dahin nicht verhungert sind, sollten wir es aber wagen. Machst du mit?«

Krumbiegl zögerte keinen Augenblick. »Ich bin dabei, Georg!«

Sie gaben sich die Hand, die Sache war abgemacht. Georg verspürte eine große Erleichterung. Jetzt hatte er ein Ziel vor Augen, und mit einem Mann wie Krumbiegl an der Seite konnte das Wagnis einer Flucht gelingen.

»Gut, Karl, ab heute beobachten wir alles, was uns nützlich sein kann. Es geht ohnehin nur nachts. Wir müssen uns merken, wo die Wachposten patrouillieren, wann sie abgelöst werden, ob sie nachlässig sind, alles kann wichtig sein!«

»Weißt du eigentlich, welchen Tag wir heute haben?«, unterbrach Krumbiegl seinen Gedankengang. Aber Georg hatte aufgehört, die Tage zu zählen. Stunden konnten ohnehin nicht mehr gezählt werden, weil die Uhren fehlten. Die Zeit kroch durch die Tage und Nächte, die keinen erkennbaren Anfang und Ende hatten; sie siechte dahin und verwob zu einem zeitlosen Raum, angefüllt mit Verzweiflung, Hunger und Durst. Sie nahmen ihre Finger zu Hilfe und versuchten, auf ein Datum zu kommen, doch sie kamen zu keinem Ergebnis. Nicht einmal, an welchem Tag sie in Gefangenschaft geraten waren und wie viel Zeit bis zu ihrem Abtransport in dieses Lager vergangen war, konnten sie sicher sagen. Ihr Gefühl sagte ihnen aber, dass es zwischen Mitte und Ende April sein musste.

Im Nachbarloch beklagten ihre neuen Nachbarn, die Artilleristen, lautstark einen Mangel, über den auch schon viele andere geflucht hatten. Für die Raucher im Lager war eine schwierige Zeit angebrochen. Die letzten Reserven waren ohnehin schon gestreckt worden und hatten sich längst in Rauch aufgelöst. Hier gab es auch keine amerikanischen Soldaten, die halb aufgerauchte Zigarettenkippen vor ihre Füße schnipsten und sich über die Rangeleien beim Aufheben der Kippen halb totlachten. Noch übellauniger machte die Artilleristen, dass sie gerade damit begonnen hatten, sich in den Boden einzugraben. Mehrere Männer aus Georgs Gruppe wurden von ihnen mit rüden Bemerkungen aufgefordert, nicht so dumm zu glotzen.

»Georg, Georg, da braut sich was zusammen! Mit den Kerlen kriegen wir noch Ärger!«, prophezeite Krumbiegl.

Randauer lugte aus seinem Loch herüber und stieß Krumbiegl an: »Schaut euch mal den Klümper an, was hat der denn vor?«

Klümper hatte, seit sie hier im Lager waren, nicht ein Wort von sich gegeben. Er teilte sich ein Loch mit Steinmetz und starrte nur vor sich hin. Steinmetz hatte öfter versucht, ihn aufzumuntern, als Antwort erhielt er aber immer nur ein gequältes Lächeln. Nun aber war Klümper aus dem Loch gekrochen und ging auf eine kleine Gruppe Luftwaffenhelfer zu, die nicht älter als sechzehn Jahre alt sein konnten und wohl gerade erst in den cage gebracht worden waren, denn Georg und Krumbiegl bemerkten sie erst jetzt. Sie wirkten noch hilfloser und verlorener als die elenden Gestalten um sie herum. Einige von ihnen trugen Verbände, manche versuchten, Tränen zurückzuhalten.

»Schau dir das an, Karl, mit diesen Jüngelchen wollte der Gröfaz die Feindbomber aufhalten«, entfuhr es Georg. »Wie viele von denen mag es erwischt haben? Die haben hier doch nichts verloren. Die sollten zu Hause sein!«

Klümper hatte die Luftwaffenhelfer inzwischen erreicht und sprach sie an. Georg sah, wie sie die Köpfe schüttelten und mit den Schultern zuckten. Dann zeigte Klümper eine Fotografie herum. Erneutes Kopfschütteln, weitere Fragen Klümpers, wieder Schulterzucken, bis auf einen Jungen, der ihn plötzlich, als er sich schon umgewandt hatte, an den Arm fasste und etwas zu erklären schien. Klümpers Miene hellte sich auf und er strich dem Jungen über den Kopf, wie er es wohl bei seinem Sohn getan hätte, und ging zu seinem Loch zurück.

»Konnten dir die Jungs etwas sagen, Klümper?«, sprach Georg ihn aus seinem Loch heraus an. Er rechnete allenfalls mit einem knappen Ja oder Nein, und so war er völlig überrascht, als Klümper stehen blieb, zu ihm herunterschaute und in einem fast normalen Gesprächston antwortete. »Sie sagen, sie wären irgendwo in Bochum eingesetzt gewesen. Sie sollten mit ihrer Flakstellung ein Umspannwerk vor Bombenangriffen schützen. Meinen Jungen kannten sie nicht. Aber der eine da, der Kleine, erzählte mir, dass viele Geschützführer ihre Jungs wieder nach Hause geschickt hätten. Nur ihrer nicht, der wäre so ein Nazi-Sturkopf gewesen und hätte sie dabehalten, sonst wären sie jetzt auch zu Hause …!«

Es war wohl diese Bemerkung des Jungen, die Klümper wieder Hoffnung gemacht hatte, und Georg beeilte sich, ihn darin zu bestärken. »Dann ist dein Junge bestimmt auch zu Hause! Wer weiß, vielleicht haben sie ihn sogar nicht einmal mehr eingezogen!«

Klümper nickte. Dann verdüsterte sich sein Gesicht plötzlich wieder. »Wenn er nur an keinen Nazi-Sturkopf geraten ist! An so einen, wie ich früher auch gewesen bin!«

Erstaunt blickte Georg ihn an. »Ein Nazi? Du?«

»Jetzt nicht mehr. Schon lange nicht mehr …« Klümpers Stimme verklang. Ohne ein weiteres Wort stieg er wieder in sein Loch hinab.

Georg versuchte, sich Klümper als Nazi-Sturkopf vorzustellen. Es gelang ihm nicht. So richtig stur, dachte er, ist er bestimmt nie gewesen. Sonst wäre er ja nicht vom Glauben an die Allwissenheit und die Allgüte seines Führers abgefallen.

Die fast religiösen Züge der Hitler-Verehrung waren wohl einer der Gründe, warum es da, wo Georg herkam, noch nie viele echte Nazi-Sturköpfe gegeben hatte. Dort war man katholischen Glaubens. Das Gebot »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!« wurde ernst genommen, und die Nazis bestätigten rasch den Verdacht, zu den anderen neun Geboten auch kein rechtes Verhältnis zu haben. Deshalb standen die meisten Leute, die er kannte, den Nazis eher reserviert gegenüber. Er selbst war zwar, verlockt von Lagerfeuerromantik und der Aussicht auf Abenteuer, Mitglied in der Hitler-Jugend geworden, hatte dann aber einsehen müssen, dass die spannenden Aktivitäten durch viel zu viele langweilige politische Schulungen, durch Sammelbüchsenaktionen, dazu noch Strammstehen und Angebrülltwerden erkauft werden mussten. Er begann sich davor zu drücken.

Mit der langen Zugfahrt ins Gymnasium in der Kreisstadt und dem hohen Lernpensum konnte er sein Fernbleiben meistens erklären. Reichte das nicht aus, konnte er seine Mutter manchmal zu einem Verstoß gegen das achte Gebot überreden. Sie und der Vater waren ohnehin nie glücklich über seine Mitgliedschaft in der HJ gewesen, auch wenn sie es ihm nicht verboten hatten.

Diese Erfahrung war ihm eine Lehre. Als er nach dem Ende seiner Schulzeit in Münster mit dem Studium der Tiermedizin begann, hielt er sich vom Studentenbund der Nazis fern.

An diesem Abend machten sich Georg und Krumbiegl erste Gedanken über ihre Flucht, wenn sie auch einen genauen Fluchtplan erst entwickeln konnten, nachdem sie so viele Einzelheiten wie möglich in Erfahrung gebracht hatten. Das war nur möglich, wenn sich im täglichen Verlauf des Lagerlebens so etwas wie Regelmäßigkeiten erkennen ließen. Besonders das Verhalten der Posten bei Nacht und der Einsatzbereich der Scheinwerfer würden wichtig sein. Darüber, wie es nach der geglückten Flucht über den Rhein dann weitergehen könnte, machten sie sich noch keine großen Gedanken. Nur eines war bis dahin wichtig, sie mussten gesund bleiben! Aber dazu war natürlich eine einigermaßen geregelte Verpflegung nötig, und darauf konnte man sich im Augenblick wenig Hoffnung machen.

Bevor es dunkel wurde, nahm Georg den ersten von Maries Briefen aus der Brieftasche, glättete ihn und legte ihr Foto darauf. Er schaute das Foto lange an und zeichnete mit seinen Fingern die Konturen ihres Gesichtes nach. Als er einen Blick auf das Datum des Briefes warf, überkam ihn ein leichter Schauer des Erschreckens. Der Brief war über vier Jahre alt. Sie erzählte ihm darin von dem beschaulichen Leben daheim, ein Leben, in dem der Krieg nur im Zusammenhang mit ihm und den Sorgen vorkam, die sie sich um ihn machte. In jedem Satz und zwischen den Zeilen erfuhr er, wie sehr sie ihn vermisste. So ganz nebenbei berichtete sie dann auch, dass sie ihr Lehramtsstudium vorläufig zurückstellen musste, weil sie für das Kreiskrankenhaus dienstverpflichtet worden war. Mein Gott, dachte er, wie alt waren wir da? Wir könnten jetzt beide schon mit dem Studium fertig sein! Schon längst hätten wir unser gemeinsames Leben beginnen können, heiraten, eine Familie werden, einfach nur in Frieden leben können – und alle anderen um mich herum auch! Stattdessen haben wir Krieg geführt, Menschen umgebracht, uns von anderen umbringen lassen! Warum nur haben uns diese verdammten Nazis nicht einfach nur leben lassen? Was hatte ihnen die Welt nur getan, dass sie sich mit ihr anlegen mussten? Dass wir jetzt hier in diesem Dreckloch sitzen und hungern und frieren, verdanken wir nur diesem verdammten Gehorsam, dem Treueeid, den wir einem Verrückten geschworen und eingehalten haben, auch dann noch, als wir erkannten, dass er verrückt war. Manche vertrauten dem Verrückten ja sogar jetzt immer noch.

Die Dunkelheit kam herangekrochen, und es schien, als ob ihnen diesmal eine trockene Nacht gegönnt sein würde.

Seitdem sich ihr cage gefüllt hatte, lag ein ständiges Summen über dem Lager, das sich aus Tausenden von Stimmen zu einem gemurmelten auf- und abschwellenden Geraune zusammenfügte. Mit zunehmender Dunkelheit ebbte das Geräusch ab und wurde von lähmender Stille abgelöst. Georg wusste nicht, wie lange er schon an Krumbiegl gelehnt vor sich hingedöst hatte, als ihn ein aus Nordwesten kommendes, zunehmend anschwellendes und dann immer dröhnender werdendes Geräusch wach werden ließ. Auch um ihn herum wurde es in den Löchern lebendig. Das Geräusch kam aus der Luft. Sie hatten es zwar schon öfter gehört, als ihnen lieb gewesen war, aber noch nicht in dieser Intensität. Dann war das Geräusch über ihnen. Ein riesiger fliegender Teppich aus Hunderten von Bombern flog in großer Höhe über sie hinweg.

»Ach du Scheiße!« Trotz der Dunkelheit glaubte Georg den Schrecken in Krumbiegls Gesicht zu erkennen. »Die fliegen nach Südosten, Georg! Das ist die Richtung Frankfurt, Würzburg, Nürnberg!«

Die Richtung, in der Krumbiegls Familie lebte.

»Da ist doch schon alles kaputt! Was wollen die denn noch kaputt machen?« Seine Stimme klang hilflos, und er sackte regelrecht in sich zusammen: »Wann machen die denn endlich Schluss mit diesem ganzen Scheißkrieg? Es gibt doch nichts mehr zu verteidigen. Nur noch den Arsch des Führers!«

Die Krumbiegls besaßen ein kleines Weingut südlich von Würzburg, wo der Main eine große Schleife nach Süden macht. Er hatte Georg schon oft von seinem Elternhaus erzählt.

»Sie verschwenden ihre Bomben doch bestimmt nicht auf ein so kleines Weinbauernstädtchen«, mutmaßte Georg.

Krumbiegel wirkte nicht sonderlich beruhigt.

»Wo sie drüberfliegen, können sie ihre Fracht abwerfen«, gab er zurück. »Ob es sich nun lohnt, mein Vaterhaus kaputtzubomben oder nicht.«

Georg schwieg, denn was hätte er dagegen einwenden können?

»Wir Krumbiegls haben schon immer dort gelebt und Wein angebaut, weißt du«, fuhr Krumbiegl fort. »Länger als fünfhundert, aber vielleicht auch schon über tausend Jahre – wirkliche tausend Jahre, nicht die vom Gröfaz proklamierten, die jetzt hoffentlich bald zu Ende sein werden!«

»Tausend Jahre?« Georg konnte es kaum glauben.

»Ja!« Krumbiegl grinste schief. »Was meinst du, wie so viel Geschichte auf einem Menschen lasten kann. Als Letzter einer so langen Reihe von Krumbiegls und einziges Kind meines Vaters kann ich es ihm schließlich nicht antun, nicht mehr heimzukommen. Es ist meine Pflicht, eine neue Generation von Krumbiegls in die Welt zu setzen.«

Seine Stimmung hatte sich unmerklich geändert. »Mein Vater konnte die Nazis noch nie leiden«, sagte er unvermittelt. »Sie reden ja immer von Blut und Boden und von Ahnenerbe und was weiß ich, aber das sind doch alles nur Emporkömmlinge, die aus dem Nichts hochgekrochen sind. Sie haben in Wirklichkeit keine Ahnung von dem, was sie daherfaseln, weder von Blut und Boden, noch von Ahnen und Erbe. Schon vor zehn Jahren hat er mir das klargemacht.«

Georg lehnte den Kopf an den Erdhaufen und hörte zu, wie Krumbiegl weitererzählte.

Als Karl Krumbiegl das letzte Schuljahr der Mittelschule besuchte, nahm ihn sein Vater an einem Spätsommerabend mit in den Weinberg. Der Tag war, wie auch die vorausgegangenen, sehr heiß gewesen. Sie stiegen den Hauptgang des Weinbergs hinauf, und sein Vater bedeutete ihm, auf dem dicken Stein Platz zu nehmen. Dieser Stein war vor Generationen beim Bau des Weges ausgegraben und an den Wegrand bugsiert worden. Von dort aus hatte man einen ungestörten Blick in alle Richtungen über das wohlgeordnete, endlos auf- und abwogende Rebland. Die Sonne verschoss ihre letzten Strahlen, der Mond stand schon als helle Scheibe am Himmel bereit, und die Hitze des Tages hockte noch in der Erde. Inzwischen war es fast ganz dunkel geworden, und es lag eine eigenartige Stimmung über der Landschaft. Der alte Krumbiegl hatte seinem Sohn seinen Arm auf die Schulter gelegt. Krumbiegl spürte, wie dieser von harter Arbeit knorrig gewordene Arm ihn schier in den Stein zu drücken schien. Sein Vater deutete auf die wie mit einem Lineal ausgerichteten Rebstockreihen, die sich den Hang hinunter bis zum Main hinzogen, den der Mond in eine silberne Schlange verwandelt hatte.

»Weißt du, Junge, die Krumbiegls sitzen hier seit tausend Jahren und bauen Wein an. Ich bin in der langen Reihe dieser Menschen der vorläufig letzte! Aber der nächste wirst du sein!«

Darum hatte ihn sein Vater heute Abend mit hier heraufgenommen! Er wurde wie ein neues Glied in eine lange Kette eingehakt und als Erbe eingesetzt!

Sein Vater fuhr fort: »Im Augenblick wird von den Braunhemden viel von Blut, Ehre und Vaterland gefaselt. Höre nicht auf diese Rattenfänger! Die wissen gar nicht, was Ehre ist! Ehre kann dir niemand geben oder dir mit viel Brimborium wie einen Mantel umhängen! Ehre kannst du dir nur selber geben! Ehre kommt von ehrlich. Glaubst du, dass diese Kerle ehrlich sind? Schau dir diesen Frommelt an, wie er wie ein Gockel in seiner SA-Uniform durch die Stadt stolziert! Verstehst du, was ich dir sagen will, Junge?«

»Ich glaube ja, Papa!« Das kam ihm fest und ehrlich über die Lippen. In diesem Augenblick kam ihm der Arm seines Vaters gar nicht mehr schwer und drückend vor, er bekam etwas Leichtes, Beschützendes, ja, Sorgendes, Erhaltendes!

Irgendetwas war anders an diesem Abend. Es war nicht nur das Gespräch zwischen Vater und Sohn. Es war die Luft. Sie fühlte sich plötzlich anders an, nicht mehr nur sanft wärmend, sie war voller Spannung. Und dann sah er es zuerst, stieß seinen Vater an und deutete auf den höheren Rand des Weinbergs. Ein eigenartiges Flimmern lag auf den Enden der Pfosten, die den Weinstöcken Halt gaben. Auf jedem Pfosten saß ein kleines durchscheinendes, bläulichweiß schimmerndes Flämmchen. Sie tanzten auf und nieder wie kleine fluoreszierende Kobolde.

»Mein Gott, Karl! Weißt du, was das ist?«

»Nein, so etwas habe ich noch nie gesehen!« Ehrfürchtig und ein bisschen ängstlich blickte der Junge auf das merkwürdige Flackern.

»Und du wirst so etwas auch nicht noch einmal sehen! Das ist so selten, dass es oft mehr als eine Generation dauert, bis so etwas wiederkommt! Das sind Elmsfeuer, Karl! Das sind elektrische Spannungen, die man sonst nur auf den Mastspitzen von großen Schiffen erleben kann. Wir bekommen ein Gewitter! Aber schau es dir so lange an, wie es noch da ist!«

Wie zur Bestätigung meldete sich weit im Westen ein Donnergrollen und ein Blitz zuckte über den Himmel. Allmählich verlöschten die kleinen Kobolde. Es donnerte und blitzte noch einige Male, aber das Gewitter zog sich zurück, ohne einen einzigen Tropfen Regen gebracht zu haben.

Das Geräusch der Flieger verzog sich ebenfalls, so allmählich, wie es zuvor angeschwollen war, in die andere Richtung. Als Krumbiegl fertigerzählt hatte, war es längst in der Nacht verklungen. Aber in den frühen Morgenstunden kam es zurück. Diesmal aus der Richtung, in der es in der Nacht verschwunden war, nur viel lauter. Der Bomberteppich flog diesmal viel niedriger. Ein Teil der von ihren Lasten befreiten Bomber löste sich aus dem Teppich und überflog das Lager mit dröhnenden Motoren im Tiefflug. Im ersten Augenblick dachten alle, dass sie jetzt zerbombt werden sollten, und suchten Deckung in ihren Löchern, aber die Piloten machten sich nur einen übermütigen Spaß daraus, die Gefangenen auf einem für sie glücklichen Heimflug zu wecken.

An diesem Morgen ging etwas Bedeutsames in ihrem cage vor, das der Hoffnung der Gefangenen auf Verpflegung neue Nahrung gab. Es erschien ein amerikanisches Kommando, diesmal mit einem kommandierenden Offizier und einem deutschen Gefangenen, der als Dolmetscher fungierte. Alle Gefangenen des cages wurden aufgefordert, in Reih und Glied anzutreten. Es dauerte fast den ganzen Vormittag, bis ein überschaubarer Aufmarsch hergestellt war. Ein paar Sergeants liefen immer wieder brüllend durch die Reihen, um eine zählbare Formation zustande zu bringen. Georg traute zunächst seinen Augen nicht, als er in der feldgrauen Masse auch einige ältere Männer in Postbotenuniformen und sogar einige Eisenbahner entdeckte. Er wurde bleich und musste sofort an seinen Vater denken. Krumbiegl stieß ihn an.

»Was ist mit dir, Georg?«

Georg hob den Kopf und zeigte mit dem Kinn auf zwei Reichsbahner, die einige Reihen vor ihnen standen.

»Ich mache mir Sorgen um meinen Vater!«

»Die sind bestimmt aus Versehen hier!«, beruhigte ihn Krumbiegl. »Die halten sie wegen ihrer tollen Uniformen für was Besonderes in der Wehrmacht. Sicher sind sie bald wieder frei!«

Georg wollte das nur zu gerne glauben, aber ein Rest Ungewissheit blieb. Es gab also noch einen Grund mehr, die Flucht zu wagen.

Diesmal standen Georg und seine Männer in einer der letzten Reihen. Der Zählappell ergab, dass in ihrem cage mehr als sechstausend Gefangene eingepfercht waren. Der Dolmetscher – er trug als Zeichen seiner Würde eine besondere Binde am rechten Arm, die ihn als Angehörigen des deutschen Lagerpersonals auswies – brüllte den Gefangenen zu, dass das ganze cage in Hundertschaften eingeteilt werden solle und jede Hundertschaft wiederum Zehnerschaften bilden müsse. Dann erklärte er ihnen, dass aus jeder Hundertschaft Abordnungen zu bilden seien, die für sie die Nahrungsmittel in Empfang zu nehmen hätten. Ausrufe der Erleichterung schwirrten durch die Luft. Endlich etwas zu essen! Auch die Apathischsten hatte diese Botschaft erreicht. Die Sergeants kämpften sich durch die Reihen und stellten die Hundertschaften zusammen. Georgs Gruppe wurde mit den Artilleristen und den Luftwaffenhelfern zu einer Hundertschaft zusammengefasst und Georg zum Hundertschaftsführer bestimmt.

Randauer, der hinter Georg und Krumbiegl stand, orakelte: »Das gibt Probleme! Wir und die Artillerie!«

Krumbiegl ergänzte: »Ich glaube, wir müssen den Kindergarten da vorne unter unsere Fittiche nehmen, die werden sonst von der Artillerie untergebuttert!«

Georg wandte sich an die beiden, und seine Stimme bekam dabei einen seltsam rauen Klang:

»Leute, ich bin froh, dass ich mit euch zusammen hier im Dreck stecke!«

Die angetretenen Reihen warteten an diesem Tag vergeblich auf Essensrationen. Das amerikanische Kommando war wieder mitsamt Dolmetscher abgerückt und hatte das cage verschlossen. Murrend und enttäuscht krochen die Männer wieder in ihre Löcher. Aber wenigstens hatte es nicht mehr geregnet. Hinter den Ahrbergen nahm der Himmel aber schon wieder eine graue Färbung an, und gegen Abend würde er sich ganz zugezogen haben. Für die Männer im Lager bedeutete das, dass wieder eine nasse Nacht zu erwarten war; für die Menschen jenseits des Rheins, für die der Krieg noch nicht zu Ende war, bedeutete es eine Nacht ohne Angst vor Bombenangriffen.

An diesem Abend las Georg Maries zweiten Brief, und wieder lag ihr Foto obenauf.

Am nächsten Morgen trat das Unerwartete ein. Ein Armeelastwagen fuhr rückwärts in das cage und brachte Versorgungspakete.

Georg schickte die erste Zehnergruppe los, die er mit Absicht aus den Luftwaffenhelfern zusammenstellte.

»Das ist gut für die Jungs«, kommentierte Krumbiegl Georgs Entscheidung.

»Hoffentlich geht bei der Ausgabe nichts schief!« Randauer war wie alle anderen nervös und schaute immer wieder in die Richtung, aus der die Jungs zurückkommen mussten. Seine Geduld wurde wie die der anderen auf eine harte Probe gestellt. Erst am späten Vormittag tauchten die Jungen wieder auf. Jeder von ihnen trug fünf große Kartons. Selten war eine Aufgabe im Überschlag so schnell ausgerechnet worden. Der Ausruf: »Zwei Mann müssen sich einen Karton teilen!«, machte die Runde.

Angesichts der zu erwartenden Kostbarkeiten gab es kein Halten mehr. Die ganze Hundertschaft stürmte auf einmal auf die Jungen los. Georg hatte seine Zehner-Gruppe aber schon instruiert. Gemeinsam schirmten sie die Luftwaffenhelfer mit ihren Paketen vor dem Ansturm ab. Sogar Klümper, der bis dahin wieder in seine gewohnte Apathie gefallen war, beteiligte sich daran.

Zunächst sah es aus, als ließe sich die halbverhungerte Meute in Schach halten, aber auf einmal gab es eine heftige Bewegung aus dem Gedränge heraus. Ein paar Männer gerieten ins Straucheln, als der bullige Artillerist sie rüde beiseiteschob. Er stieß den Jungen zu Boden und riss die Pakete an sich, als sich Klümper mit einem Aufschrei auf ihn stürzte. Der Artillerist schlug ihn heftig vor die Brust, sodass er über den Jungen stürzte. Die Pakete lagen im Matsch, einige davon durch den Sturz aufgeplatzt.

»He, Arschgesicht!«, brüllte Georg den Artilleristen an und sprang zwischen ihn und den beiden am Boden Liegenden. »Heb sofort die Pakete auf und gib sie dem Jungen zurück!«

Ihm war klar, dass hier und jetzt und ein für alle Mal eine Rangordnung hergestellt werden musste. Andernfalls würden diese Kerle den anderen alles streitig machen und unter sich aufteilen. Jetzt galt es, allen klarzumachen, dass sich niemand durch Rücksichtslosigkeit auf Kosten anderer Vorteile verschaffen durfte.

Georgs Gruppe hatte die Situation sofort erkannt und sich zwischen Georg und dem Rüpel und die übrigen Artilleristen gedrängt. Um das Zentrum des Geschehens hatte sich bereits ein Kreis gebildet. Georgs Gruppe drängte nach hinten, um ihn zu vergrößern, dadurch wurden die Artilleristen abgedrängt und von ihrem Wortführer getrennt.

Der drehte Georg nun sein breitflächiges Gesicht zu. Weit auseinanderstehende glanzlose Augen blickten ihn mit einem Ausdruck an, der wohl besagen sollte: Du bist gleich tot! Arschgesicht – so hatte ihn wahrscheinlich noch niemand zu nennen gewagt. Der Kerl war etwa so groß wie Georg, aber wohl um die Hälfte breiter. Das Ungewöhnliche an ihm war, dass er der Einzige unter allen Hungerleidern hier war, der einen Bauch hatte! Georg kannte solche Kerle. Sie bauten sich mit ihrer Masse vor ihren Gegnern auf, um sie damit zu beeindrucken und einzuschüchtern.

»Ach sieh mal da, das Unterfeldwebelchen will mir kommandieren!« Die Stimme war laut und höhnisch. »Ich lasse mich aber nicht mehr herumkommandieren, Unterfeldwebelchen! Ich übernehme hier das Kommando! Du bist abgesetzt! Vorher haue ich dir aber deine Fresse zu Brei!«

»Na, dann mal zu, Arschgesicht!« Georg wusste, dass er diesen Kerl bis zur Weißglut reizen musste, damit der ihn unüberlegt angriff.

»Georg, pass auf, der Kerl dreht sich immer rechts herum, aber die Rechte ist ziemlich lahm und Dampf ist auch nicht dahinter. Mit der Linken weiß er nichts anzufangen!«, hörte er hinter sich Krumbiegl zischen.

Er ließ seinen Gegner nicht aus den Augen.

»Nun komm schon, Arschgesicht! Klopf hier keine Sprüche! Die Leute haben bezahlt, zeig ihnen, was du kannst! Falls du etwas kannst …«

Außer sich vor Wut über die Beleidigungen griff der Artillerist an. Sein rechter Arm bewegte sich auf Georg zu, aber in der Tat so langsam, dass Georg mühelos nach rechts wegtauchen und mit einem halben Schritt ausweichen konnte. Der Artillerist verlor das Gleichgewicht und geriet ins Straucheln. Georg schlug ihm mit dem linken Fuß die Beine weg und beschleunigte seinen Fall. Noch während des Sturzes landete seine linke Faust im Nacken seines Gegners. Es gab einen harten Aufprall, und der Kerl landete auf dem aufgeweichten Boden.

Er brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, was ihm da gerade passiert war. Dann rappelte er sich mühsam vom Boden auf, fuchtelte dabei mit den Händen herum und bemerkte erst jetzt, dass sein Gesicht mit Dreck verschmiert war. Wütend versuchte er den Schmutz mit den zu Fäusten geballten Händen wegzuwischen und löste damit bei den Umstehenden ein brüllendes Gelächter aus. Er wirkte wie ein zu groß geratenes Kleinkind, dass sich auf diese Weise die Trotztränen aus dem Gesicht wischt. Dass er ausgelacht wurde, machte ihn noch rasender. Er brüllte Georg an: »Du bist schon so gut wie tot, Unterfeldwebelchen!«

Der zweite Angriff war eine exakte Wiederholung des ersten, nur dass er noch langsamer ausgeführt wurde. Georg wich wieder ohne Probleme aus und ließ den Arm des Artilleristen an seinem linken Ohr vorbeischlagen. Dann hob er seinen linken Arm über den seines Gegners, ergriff mit seiner Rechten die eigene linke Hand und schob beide Hände unter das Kinn seines Gegners. Das Ganze kam ihm beinahe wie eine spielerische Griffübung vor. Aus dieser Position heraus machte er einen Ausfallschritt in den Rücken des Artilleristen, gefolgt von einer leichten Drehung, die jenen das Gleichgewicht verlieren ließ. Blitzartig schlug Georg ihm nun mit dem rechten Fuß die Beine weg. Diesmal fiel der Kerl wie ein gefällter Baum auf den Rücken, beide Arme weit von sich gestreckt.

Jetzt musste er an diesem Kerl ein Exempel statuieren, das war Georg klar, und er trat einmal kurz und kräftig in seine geöffnete Hand. Es gab einen hörbaren Knacks. Der Artillerist brüllte wie am Spieß.

Georg hatte kein Mitleid mit ihm, obwohl der Mann ein wahres Bild des Jammers bot, als er sich mühsam wieder aufrappelte. Solche Zeitgenossen waren es ihr Leben lang gewohnt, sich alles mit Gewalt zu nehmen. Jetzt war das ganze großmäulige Gehabe verschwunden, und Gewalt anzuwenden würde ihm in nächster Zeit schwer fallen.

Anklagend hielt der Besiegte seine rechte Hand hoch, an der zwei Finger in eine völlig falsche Richtung zeigten. Er wimmerte. Eigenartigerweise schien aber die Niederlage ihres Wortführers die anderen Artilleristen gar nicht sonderlich verärgert zu haben. Georg vermeinte sogar so etwas wie heimliche Genugtuung zu bemerken. Einer aus der Truppe, der in Georgs Nähe stand, schlug ihm sogar auf die Schulter: »Große Klasse, das da gerade. Das war schon lange mal fällig!«

Nun, da er sich den nötigen Respekt verschafft hatte, ließ Georg die Verteilung der Rationen vornehmen und beschloss, die Gunst des Augenblicks zu nutzen, um auch eine Strafandrohung für den Fall des Nahrungsmitteldiebstahls loszuwerden.

»So, Männer, ihr habt gehört, dass sich zwei Mann ein Paket teilen müssen. Bescheißt euch nicht gegenseitig. Ihr seht ja, das gibt nur Ärger! Der Dicke da«, dabei wies er auf seinen Gegner, »bekommt heute nichts. Wenn ich mir seine Wampe ansehe, dann wird er euch oft genug den Nachtisch weggefressen haben. Seinen Anteil bekommt der Junge, den er niedergeschlagen hat!«

Das Verteilen der Pakete ging dann erstaunlich diszipliniert vor sich. Schnell hatten sich jeweils zwei Männer zusammengetan, die sich ein Paket teilen wollten. Zuckende Hände rissen die Kartons auf, und hungrige Blicke glitten fast zärtlich über Päckchen und Dosen. Die Pakete enthielten die Tagesration für einen amerikanischen Soldaten. Georg und Krumbiegl nahmen ihres zum Schluss entgegen. Zuerst sichteten sie ihren Schatz. Sie hatten ein Paket erwischt, das neben Keksen, Schokolade, Trockenobst und Trockengemüse eine Dose Corned Beef enthielt. Daneben fanden sich auch noch eine Tube Nescafé, Kaugummi und Erdnussbutter.

Georg und Krumbiegl besahen sich ihre Schätze und wussten erst gar nicht, womit sie beginnen sollten. Sie entschieden sich für Corned Beef und Trockenobst. Zum Nachtisch gönnten sie sich ein Stück Schokolade. Den Rest teilten sie auf und bargen ihn in ihren Kochgeschirren. Krumbiegl riss die Pappe des Kartons so zurecht, dass er sie unter seine Uniformjacke als wärmenden Windschutz schieben konnte. Andere taten es ihm gleich oder polsterten ihre Löcher damit aus. Die leeren Blechdosen verwahrten sie wie gutes altes Tafelgeschirr in ihrem Loch. Gestillt war ihr Hunger nicht, aber besänftigt, die Hungerfaust entkrampfte sich ein wenig.

Während sie aßen, schaute Georg zu den benachbarten Hundertschaften hinüber und stieß Krumbiegl an.

»Schau mal da rüber, Karl, und da … und da hinten! Überall Zänkereien um die Pakete! Hoffentlich haben wir das jetzt im Griff!«

Krumbiegl war zuversichtlich. »Dieses Arschgesicht hätte viel kaputt machen können. Diese Sorte kenne ich nur zu genau! Aber du hast ihm ja Manieren beigebracht.« Er schwieg einen Moment, dann setzte er hinzu: »Als ich noch in der Schule war, im letzten Schuljahr, ist mir einmal etwas ganz Ähnliches passiert. Mit dem Sohn unseres Ortsgruppenleiters. Ein widerlicher Kerl!«

»Wer war widerlich – der Sohn oder der Vater?«, erkundigte sich Georg.

»Alle beide!« Grimmig fügte Krumbiegl hinzu: »Eigentlich wäre es aber vor allem der Vater gewesen, dem jemand eine Lektion hätte erteilen müssen. Aber versuch das mal bei einem Ortsgruppenleiter! Gustav Frommelt heißt er. Er ist Weinhändler.«

Gustav Frommelts Weinhandel war ein großes Anwesen, aber sehr heruntergekommen. Unter den Weinhändlern der Gegend hatte er keinen guten Ruf, aber er konnte Kapital daraus schlagen, dass er schon früh der braunen Bewegung beigetreten war. Nachdem seine Leute die Herren im Land geworden waren, lief er nur noch in SA-Uniform durch die Stadt. Seine nur etwa mittelgroße, in der Hüfte ziemlich aus dem Leim gegangene Gestalt zwängte er immer in eine für ihn viel zu enge Uniform, was ihm ein wursthaftes Aussehen verlieh.

Um seinem Idol in Berlin so ähnlich wie möglich zu sehen, hatte er sich eine Zahnbürste über der Oberlippe wachsen lassen und den Scheitel seines Haares mit viel Mühe auf die andere Kopfseite gezwungen. Auch seine Aussprache begleitete er nun mit dessen pathetischen Gesten und verfiel dabei in ein asthmatisch schnarrendes Fränkisch. Er hatte einen Hinkefuß aus dem Krieg mitgebracht und behauptete überall, seine Verwundung habe ihm ein feiges welsches Schwein von hinten – von hinten! – beigebracht. Männer, die dabei gewesen waren, erzählten allerdings eine andere Geschichte.

Als alter Kämpfer stieg er in der nationalsozialistischen Hierarchie rasch zum Ortsgruppenleiter auf und bestimmte das Leben in der kleinen Kreisstadt nun maßgeblich mit. Allenthalben gab es nun etwas Nationalsozialistisches zu feiern. Geschickt nutzte er seinen Machtzuwachs auch für seinen persönlichen Vorteil, unterstützt von seiner örtlichen Truppe von SA-Schlägern und notfalls zusätzlich von auswärtigen Braunhemden, wenn jemand ihm Widerstand entgegensetzte. An Vater Krumbiegl, dessen Wein er auch gerne in sein Verkaufsangebot aufgenommen hätte, biss er sich allerdings die Zähne aus.

Kurz danach setzten in der Schule Sticheleien und allerhand kleine Schikanen gegen Karl ein, hinter denen, wie er rasch erkannte, Horst, Gustav Frommelts Sohn, steckte. Horst selbst musste aber meistens gar nicht selbst in Aktion treten. Als Sohn des Ortsgruppenleiters hatte auch er eine kleine Schar ergebener Helfer, die er nach Belieben herumkommandierte.

Eines Morgens vor Schulbeginn wurde Karl, als er gerade das Schulgebäude betreten wollte, von zwei Klassenkameraden abgefangen, die ihn zwischen sich hin- und herschubsten und ihm die Mütze vom Kopf schlugen. Als er sie aufheben wollte, bekam er einen Tritt und stürzte zu Boden. Beim Hochrappeln blickte er in das hämische Grinsen des jungen Frommelt. Im selben Moment ertönte die Schulklingel und verhinderte für den Moment eine Auseinandersetzung. Als es dann aber später zur Pause klingelte, wusste Karl, dass er sich jetzt mit Horst und seinem Anhang prügeln musste. Er ließ seine Mütze und sein Pausenbrot unter der Bank zurück, um seine Hände frei zu haben.

Auf dem Schulhof warteten die beiden schon auf ihn. Sie hatten betont gelangweilte Mienen aufgesetzt, und waren völlig überrumpelt, als Karl ohne Zögern auf den Ersten zusprang, seinen linken Fuß auf dessen rechten stellte, und ihn so am Boden festnagelte. Sein Gegner verlor das Gleichgewicht und geriet ins Rückwärtstaumeln. Dies nutzte Karl aus und traf ihn mehrmals mit schweren Schlägen im Gesicht. Der andere wollte sich mit hochgerissenen Armen vor weiteren Schlägen schützen, öffnete dadurch aber seine Körperdeckung. Karl schlug nun eine ganze Serie von Schlägen in den Magen seines Gegners, der daraufhin wimmernd zu Boden ging. Als Karl herumwirbelte, um sich auf den Zweiten zu stürzen, war da niemand mehr. Der Kerl hatte sich zusammen mit Horst Frommelt aus dem Staub gemacht.

Als die Pause zu Ende ging, wartete Karl an der untersten Treppenstufe auf den jungen Frommelt und seine Kumpanen. Sie wollten sich schnell an ihm vorbeimogeln, aber Karl erwischte Horst am Kragen und drehte ihn zu sich herum: »Wage es nicht noch einmal, irgendjemanden auf mich zu hetzen! Beim nächsten Mal bist du dran! Ich erwische dich, wo immer ich will! Und nun schleich dich, du Ratte!«

»Ich habe mich gefühlt wie Old Shatterhand, der gerade ein paar Präriebanditen außer Gefecht gesetzt hatte!« Krumbiegl schmunzelte. »Und danach war tatsächlich Ruhe. Frommelt junior ist mir ebenso aus dem Weg gegangen wie Frommelt senior meinem Vater.«

Auch dieser Tag blieb trocken, aber der Wind frischte auf. Georg las an diesem Abend einen weiteren Brief Maries und ließ sich von ihm vergangene Tage zurückbringen.

Der Hölle entkommen

Подняться наверх