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Leben im Alarmzustand

Das Fibromyalgie-Syndrom (FMS) ist eine schwere chronische, bislang nicht heilbare Erkrankung mit weit verbreiteten Schmerzen wechselnder Lokalisation in der Muskulatur, an Gelenken und im Rücken, mit Druckschmerzempfindlichkeit sowie Begleitsymptomen (Müdigkeit, Schlafstörungen, Reizdarm, Konzentrations- und Antriebsschwäche, Erschöpfung, Schwellungen u. a.). Die diversen Beschwerden und Erscheinungsformen der Fibromyalgie können bislang nur beobachtet und beschrieben werden.

Die Vielfalt möglicher funktionaler Beeinträchtigungen ist ein Grund für die Unsicherheit und Verzweiflung der Betroffenen und der Mediziner. Eine allgemein gültige, überzeugende und brauchbare Definition der Fibromyalgie fehlt noch. Darüber hinaus mangelt es auch an verlässlichen Kenntnissen über die Ursachen der Fibromyalgie. Heute deutet man die rätselhafte FMS-Befindlichkeit als Zustand einer in allen Körpersystemen permanent überdurchschnittlich erhöhten Sensibilität. Dies entspricht der auf »Überleben« programmierten Anpassungsreaktion auf Stressoren und Gefahrensituationen. Und Schmerz ist das Alarmsymptom Nummer eins. Mit anderen Worten: leben im permanenten Alarmzustand. Die moderne Welt mit Technik und Naturwissenschaft hat viele Vorteile gebracht, aber auch zu enormen Zerstörungen geführt. In Industriestaaten lebt man heute mit einem früher unvorstellbaren Komfort. Wir sind sesshaft geworden, leben überwiegend in geschlossenen Räumen, müssen komplizierte Technik beherrschen, konsumieren industriell produzierte Nahrung und atmen schlechte Luft. Die Städte sind überfüllt, globale Umweltrisiken und Klimaveränderungen bedrohen uns, soziale Gegensätze verschärfen sich, der Kampf um materielle Vorteile wird härter und die Leistungsanforderung steigt unaufhörlich.

Klagt heute nicht fast jeder über zu viel Stress, Depression und drohenden Burnout? Hält jeder Mensch solche Stressbelastungen aus, ohne krank zu werden?

Man kann FMS als Anpassungsreaktion auf Lebensbedingungen betrachten, die außer Kontrolle geraten sind und einen permanenten Alarmzustand verursachen.

Wer die Alarmzeichen der Überforderung ignoriert, riskiert den Systemabsturz: Burnout!


Stressreaktionen, die dem Prinzip »Kampf oder Flucht« zuzuschreiben sind: Der Blutdruck steigt, man atmet schneller, die Muskulatur spannt sich an, der Darm streikt, Adrenalin schießt durch den Körper.

Störungen im System

Der menschliche Organismus hat sich immer wieder an veränderte Umweltbedingungen angepasst und lebensnotwendige Signalsysteme tun im »Regelfall« ihren Dienst: Schmerz, Lust, Angst, Freude oder Abneigung, Berührung, Kälte und Wärme, hören, sehen und riechen, Durst, Hunger und Sättigung oder Müdigkeit. Die Beschwerden bei Fibromyalgie sind Hinweise auf Störungen dieser Signalsysteme.

Ergebnisse der FMS-Forschung zeigen, dass wichtige Organfunktionen abnorm verändert sind. Dies zeigt sich im Nerven-, Hormon- und Abwehrsystem, im Verdauungs- und Ausscheidungssystem, in Muskulatur und Stoffwechsel. Insbesondere ist die gesamte Empfindungsfähigkeit beeinträchtigt, vor allem die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung. Sie kann durch den kleinsten Reiz »eingeschaltet« werden. Man spricht von einer gesenkten Reizschwelle.

Was ist schiefgelaufen, dass es so weit kommen konnte? Haben wir die Alarmsignale nicht bemerkt, nichts gespürt? Haben wir sie missachtet? Haben wir uns zu viel zugemutet? Haben wir zu viel »weggesteckt«? Haben wir zu lange die Zähne zusammengebissen?

Leben auf der Überholspur

Die Tatsache, dass es Millionen Schmerzkranke gibt, weist darauf hin, dass sich offenbar nicht jeder Mensch verlustfrei an den modernen Turbo-Lebensstil anpassen kann. Das bekommen vor allem Frauen zu spüren. Mehrfachbelastung in Familie und Beruf ist die Regel.

Medizin und Wissenschaft behaupten, dass FMS hauptsächlich ein Dauerzustand verschiedener funktioneller Störungen ist, eine Folge von Anpassungsreaktionen auf den permanenten Alarmzustand. Und das Gehirn hat diese abnormen Reaktionsmuster dauerhaft abgespeichert. Irgendwann ist die Kompensationsfähigkeit der Organsysteme im Alarmmodus erschöpft, und es kommt zu den bekannten Symptomen: Schmerz-, Wärme-, Kälte-, Geruchs-, Lärm-, Licht- und Druckempfindlichkeit, Schlafstörungen und Verdauungsprobleme. Da die problematischen Anpassungsreaktionen über Jahre fixiert wurden (FMS entsteht nicht über Nacht!), steht man vor der schier unlösbaren Aufgabe, die Fehlfunktionen zu korrigieren, um wieder ein halbwegs normales Leben führen zu können.

Somit erscheinen medizinische »Reparaturversuche«, die sich an einzelnen Symptomen orientieren, nicht Erfolg versprechend – dazu bekennt sich mittlerweile auch die heutige Schulmedizin. Die Zukunft der Schmerztherapie, um FMS zu begegnen, liegt in einer vernünftigen Kombination unterschiedlicher Behandlungsmethoden.

Der ganze Mensch muss sich verändern. Der Lebensstil muss in Bezug auf Stressfaktoren überprüft und verändert werden, in kleinen Schritten. Manch einer wird den Hochgeschwindigkeitskurs aufgeben müssen, der eigenen Gesundheit zuliebe. Er wird ein Leben mit mehr Gelassenheit ansteuern. Warum auch nicht!

Der menschliche Körper verfügt über enorme Selbstheilungskräfte, die wirksam unterstützt werden können. Die besten Erfolgschancen für die Behandlung der Fibromyalgie bieten zur Zeit ganzheitliche und multimodale Konzepte, die auf die Eigeninitiative der Betroffenen setzen. Bewegung, Entspannung, Ernährung und Kriseninterventionen tragen dazu bei, die Schmerzkrankheit zu bewältigen oder vielleicht sogar zu besiegen.

INFO

MASCHINE MENSCH?

Der französische Philosoph René Descartes beschrieb im 17. Jh. das Grundprinzip der Naturwissenschaft: Lebewesen sind nur programmierbare Maschinen, die den Gesetzen der Mathematik folgen. Später setzte sich eine Sichtweise durch, die Natur und Mensch als mechanistische Phänomene betrachtet. Spiritualität und Ganzheitlichkeit verloren an Bedeutung für die Heilkunde. Einmal mehr offenbart die rätselhafte Schmerzkrankheit die Grenzen der modernen Medizin.

Fibromyalgie. Kompakt-Ratgeber

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