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In jenen Nächten

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Zu diesem Buch

Gegen den Abteilungsleiter Jan Mommsen, wird von einer Gruppe um seine Stellvertreterin Katja Koch eine Intrige mit dem Ziel gesponnen, ihn aus seiner Position zu verdrängen. Der Machtkampf zwischen den beiden Hauptprotagonisten wird seitens seiner Stellvertreterin mit unsauberen Mitteln geführt. Nötigungen, Lügen, Verdächtigungen und Vertrauensbruch gehören zu ihrem Standardrepertoire.

Regine Schönau, eine andere Abteilungsleiterin, springt ihm helfend zur Seite. Ihre Motive sind anfangs so unklar wie die Gründe für Katja Kochs unkollegiales Handeln. Die junge Kollegin Clara Rosenberg ist von Katja Koch zum Joker im Kampf gegen Jan Mommsen bestimmt worden. Doch ihre Skrupel sind stärker als die möglichen Vorteile. Sie wechselt die Seiten und unterstützt ihren Chef. Frau Koch muss mit ansehen, wie ihr Kartenhaus Stück für Stück zusammenfällt. Alle ihre Attacken laufen ins Leere.

Den Höhepunkt des Romans stellt die Abschlussrede Jan Mommsens dar. Er ist kritisch genug, eigene Fehler im beruflichen Bereich einzugestehen. Jan Mommsen schafft es in seiner Rede, neben seiner hohen Sachkompetenz endlich auch, die Gefühle der Zuhörenden anzusprechen.

Der Autor

Eberhard Meier wurde am 21. Juni 1949 in Bad- Salzdetfurth (Niedersachsen) geboren. Nach dem Abitur 1967 ging er zur Bundeswehr und studierte danach an der Pädagogischen Hochschule Hildesheim Lehramt Grund-und Hauptschule Er war nach seinem Examen von 1972 bis 2014 im niedersächsischen Schuldienst als Lehrer, Lehrerausbilder im Vorbereitungsdienst und Rektor der Grundschule Moritzberg in Hildesheim tätig. Daneben war er Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim am Institut für deutsche Sprache und Literatur und am Institut für angewandte Pädagogik. 1984 erwarb Eberhard Meier nach einem postgradualen Studium den Titel eines Diplompädagogen.

Er ist verheiratet und hat vier Kinder.

Er veröffentliche 2013 zusammen mit Günter Stürmer den Gedichtband „Besinnliche Augenblicke“, 2014 seine autobiografische Erzählung „Mittelreif“ und „Geschichten aus dem Schäufele“ und stellt sich mit seinem Erstlingsroman „In jenen Nächten“ der Öffentlichkeit vor.

Eberhard Meier

In Jenen Nächten

Roman

Hildesheim 2015

Verlag epubli berlin

„Es war Magie!“

Dieses Buch widme ich meiner Frau Inga

Hildesheim, im März 2015

Im Nebel

Es ist 17.04 Uhr. Im großen Saal des Kongresszen-trums am Stadtrand von Berlin plätschert die Tagung der MfM so dahin. Nach der stundenlangen Debatte um den wichtigsten Antrag der Tagung, nämlich den der Um-strukturierung des Unternehmens, die gekennzeichnet war durch engagierte Beiträge, Schläge unter die Gürtellinie, persönliche Angriffe, bewusste Verfälschungen, Erbsenzählerei und den ständigen Versuch, Halbwahrheiten als Wahrheiten und Vermutungen als Tatsachen zu verkaufen, ist die Luft raus. Niemand ahnt, dass schon sehr bald eine der spannendsten, ja, man kann schon sagen, dramatischsten Phasen im Leben einiger Mitarbeiter des Unternehmens beginnt.

Ein Großteil der Delegierten hat den Tagungssaal verlassen, trinkt Kaffee im Foyer, raucht in der gekennzeichneten Zone oder im Freien die aus seiner Sicht notwendige Zigarette und ist, an den Bistrotischen stehend, in kleinen Gruppen in Gespräche vertieft. Einige haben auch schon ein Glas Bier oder Wein vor sich stehen. Einige Wenige auch schon das dritte oder vierte. Und sie haben das Glas nicht nur vor sich stehen - sie trinken auch daraus. Die im Saal Verbliebenen lesen in der kostenlos verteilten Tageszeitung, versuchen sich am Sudoku, lösen nach dem Scheitern an dem dieser Form innewohnenden Schwierigkeitsgrad das intellektuell anspruchslosere tägliche Kreuzworträtsel oder hören per Kopfhörer Musik von ihrem Handy. Einige Frauen und Männer haben sich in die letzten Tischreihen verzogen und schmieden Pläne für die Abendgestaltung. Der Lärmpegel ist so hoch, dass man nicht von einem aufmerksamen Publikum sprechen kann. Auch die Präsidiumsplätze sind teilweise unbesetzt. Die Präsidialen telefonieren vor dem Kongressgebäude, haben sich in ihr Beratungszimmer verzogen oder schnappen ein wenig frische Luft im angrenzenden Park. Nur Frau Dr. Lenz muss Aufmerksamkeit vortäuschen, denn sie ist die Tagungsleiterin an diesem Spätnachmittag. Sie greift immer dann disziplinierend ein, wenn die sachfremden Gespräche eine Rückkopplung des Mikrofons erzeugen.

Kaum eine Mitarbeiterin, ein Mitarbeiter hört der Rednerin zu, die den Antrag zur Berücksichtigung der Gender- Problematik im Programm der Stiftung des Unternehmens begründet. Doch plötzlich spricht sich im Saal und außerhalb des Saales schnell herum, dass die Mit-glieder der Zählkommission das Tagungsbüro verlassen haben. Hastig wird von den Raucherinnen und Rauchern die eben angesteckte Zigarette ausgedrückt, der letzte Schluck Kaffee wird ausgetrunken, die begonnenen und laufenden Gespräche werden abrupt beendet. Aufgrund der Übertragung des Tagungsgeschehens auf eine Großbildleinwand in den Fluren und per Lautsprecher außerhalb des Kongresszentrums bekommen die Sauerstofffetischisten, Handy- Telefonierer und Gewohnheitsraucher mit, dass eine wichtige Entscheidung ansteht. Alle, die den Saal verlassen hatten, kehren zurück auf ihre Plätze. Die Versammlungsleiterin Frau Dr. Lenz schaltet das Mikrofon an und informiert die Konferenzteilnehmer:

„Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen nun zum Abstimmungsergebnis über den Antrag D37. Ich bitte Sie um Aufmerksamkeit. Bitte nehmen Sie Platz!“

Da noch erhebliche Unruhe im Saal herrscht, legt sie eine Pause ein. Das Gemurmel und Getuschel wird langsam leiser. Die anwesenden Fotografen der Presseagenturen postieren sich um den Tisch, an dem er sitzt. Er, das ist Jan Mommsen, Leiter der Abteilung „Operative Geschäfte“ und damit eine der einflussreichsten Personen des Unternehmens. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Es soll Konzentration widerspiegeln, kann aber eine gewisse innere Unruhe nicht verbergen. Die Versammlungsleiterin klopft mit den Fingern laut und vernehmlich ans Mikrofon. Dann herrscht atemlose Stille im Saal. Der Leiter der Zählkommission geht nun langsam zum Redepult und beginnt mit monotoner Stimme das Ritual der Ergebnisbekanntgabe:

„Stimmberechtigt waren 175 Personen. Abgegebene Stimmen:174. Davon gültige Stimmen: 172. Zwei ungültige Stimmen.“

Er macht eine Pause. Man sieht, wie ihm das Blatt mit dem Abstimmungsergebnis in der rechten Hand zittert. Mit unsicherer Stimme fährt er fort:

„Ja- Stimmen: 73. Nein- Stimmen: 89. Enthaltungen: 10. Damit ist der Antrag abgelehnt.“

Die letzten Worte des Leiters der Zählkommission gehen im Jubel der Mehrheit der Anwesenden unter. Sie springen auf, klopfen mit den Fäusten auf die Tische, nehmen sich in die Arme und strecken triumphierend die Fäuste nach oben. Ein kleines Häuflein von Mitarbeitern bleibt regungslos sitzen. Einige von ihnen schütteln den Kopf. Sie können das Abstimmungsergebnis immer noch nicht fassen. Ihre Betroffenheit ist an ihren Gesichtern abzulesen. Ihre Blicke suchen ihn. Jan Mommsen sitzt in der ersten Reihe, hat beide Arme auf dem Tisch aufge-stützt, den Kopf in die Hände gelegt und die Augen geschlossen. Er fühlt sich in diesem Augenblick völlig einsam. Er nimmt nicht wahr, was um ihn herum passiert. Die Pressefotografen schießen ein Bild nach dem anderen, die Kameras der Fernsehgesellschaften laufen, das gleißende Licht der Scheinwerfer erhellt die Szene. Sie kommen so dicht wie möglich an ihn heran, um aussagekräftige Nahaufnahmen von ihm einzufangen. Ihre Bilder werden am nächsten Tag neben den Schlagzeilen den Zeitungen als Blickfang dienen, die Fernsehleute werden versuchen, diese Nachricht noch in die Abendsendungen zu bekommen. Benommen packt Jan Mommsen seine Unterlagen in die Aktentasche, steht auf, geht mit leerem Blick durch die Tischreihen. Er sieht seine Stellvertreterin, Frau Koch, umringt von Kolleginnen und Kollegen, die ihr vor Begeisterung auf die Schultern klopfen. Ihre Blicke treffen sich für einen kurzen Augenblick. Es ist ein triumphierender Blick, der sich in ihren Augen widerspiegelt. Er meint, auch Schadenfreude darin zu erkennen. Dann schaut sie weg und wendet sich den Gratulanten zu. Er lässt sich seinen Mantel und seinen Schal von der Garderobenfrau geben, zieht sich beides an, holt die graue Mütze aus der Manteltasche, setzt sie auf und verlässt den Tagungsort.

Die kühle Luft des Herbstes empfängt ihn. Er schlägt den Mantelkragen hoch. Nur weg von diesem Ort. Egal wohin, nur weg. Er geht über den Vorplatz der Kongresshalle und biegt in den Hauptweg des Parks ein. Der Wind bewegt die letzten verbliebenen Blätter an den Ästen der Bäume. Einige von ihnen fallen herunter und polstern die Laubschicht auf dem Boden auf. Jan Mommsen tritt mit seinen Schuhen die Blätter auseinander. Sie sind nass und schwer und wirbeln nur für kurze Zeit in der Luft. Es ist still. Einzig das Rascheln der Blätter ist zu hören. Der erste Schnee liegt in der Luft. Drei, vier Grad kälter – und eine weiße Schneedecke legt sich wie ein Leichentuch auf die Landschaft. Hinter den Wolken scheint ab und zu der Mond hervor. Fahles Licht fällt dann auf den Park. Tropfen haben sich auf den Bänken niedergeschlagen, die Sitzbretter sind nass. Vom Fluss steigt langsam Nebel auf. Die Parklampen leuchten gelb. Ihr Licht durchdringt kraftlos den Nebel und erhellt nur einen kleinen Raum. Fröstelnd steckt er seine Hände in die Manteltaschen. Seine Ohren frieren. Er zieht seine Mütze tief über sie, aber der Rand rutscht wieder nach oben, so dass kein Schutz gegen die Kälte entsteht. Gedankenverloren geht er ziellos durch die frühe Abendstunde den Weg am Fluss entlang. Niemand begegnet ihm. Er ist allein mit sich und seinen Gedanken. Und er ist froh darüber, keinen Menschen zu treffen. Die Aus-einandersetzungen der letzten Stunden wirken nach. Die von ihm geforderte ständige Präsenz, die von ihm erwartete Bereitschaft, sofort ans Mikrofon zu gehen und einen Redebeitrag als Gegenrede zu formulieren, die verbalen Angriffe, die nicht nur seine inhaltliche Position, sondern auch seine Person trafen, die Schläge unter die Gürtellinie, all das zehrt an seinen Kräften und wird in diesem Moment spürbar. Er möchte allein sein. Mit sich und dem, was ihn bewegt. Seine Gedanken drehen sich um die nicht zu beantwortende Frage: „Warum?“ Warum hat sich die Mehrheit der Mitarbeiter gegen das Projekt gestellt? Warum hat man ihm kein Vertrauen geschenkt? Warum haben „seine“ Leute nicht offensiver seine Position vertreten? Warum ist niemand auf den Tisch gestiegen und hat „Captain, my Captain!“ als Zeichen der Solidarität gerufen wie die Schüler in einem seiner Lieblingsfilme, dem „Club der toten Dichter“? Warum hat man ihm diese Niederlage zugefügt?

Er möchte allein sein mit seiner Trauer, seiner Wut, seinem Schmerz. Er spürt sie körperlich, die Schmerzen, die man ihm zugefügt hat. Seine Schritte sind langsam und bleiern, in seinem Brustkorb verspürt er einen unangenehmen Druck, sein Atem geht schwer und unruhig.

Der Kiosk, an dem er vorbeikommt, hat bereits geschlossen. Die Fenster und Türen sind mit einem Metallriegel und einem Sicherheitsschloss einbruchsicher zugesperrt. Er biegt hinter dem Kiosk links ab und steuert auf die hölzerne Fußgängerbrücke zu. Sie spannt sich über den Fluss, der ruhig dahin fließt. Ihre Holzbohlen sind rutschig. Der Nebel wird in Flussnähe dichter. Ein Blick zum anderen Ufer ist nicht möglich. Seine Schritte hallen wider. Der manchmal durchbrechende Mondschein lässt das Wasser silbrig grau erscheinen. Auf der Mitte der Brücke bleibt er stehen, hält sich mit beiden Händen am Geländer fest, atmet tief durch und blickt auf das Wasser. Egal, was ihm passiert ist, das Wasser wird weiter fließen. Ihm wird klar, dass seine Niederlage weder Auswirkungen auf den Lauf des Flusses noch auf den Lauf des Lebens hat. Sie werden weiter fließen, es wird weitergehen. Wer nimmt Rücksicht auf seine Befindlichkeit? Wer kümmert sich um seine Verletzungen? Das Leben ist so rücksichtslos und grausam. Es wird weiter gehen. Tag für Tag.

Mommsen schließt die Augen und lässt die letzten Stunden weiter Revue passieren. Diese letzten Stunden der Tagung sind die konsequente Zuspitzung einer monatelangen Auseinandersetzung um den richtigen Weg in die Zukunft. Sie sind auch das Ergebnis eines Machtkampfes bei MfM zwischen ihm und der Gruppe seiner Widersacher, die, wie er immer noch nicht glauben mag, von seiner Stellvertreterin angeführt wird.

MfM ist die Abkürzung für die international agierende Messages for Media- Group, die ihren Sitz in Hamburg hat. Das Unternehmen ist gleichzeitig eine Nachrichtenagentur und eine TV- Produktionsfirma. In Hamburg arbeiten rund 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Zentrale, einem modernen Gebäude in der Hafencity. Dort werden Nachrichten aus den Bereichen der Politik, der Kultur, des Sports, der Wissenschaft und der Kunst durch die deutschen Regionalbüros und die 84 Auslandsbüros gesammelt, medial aufbereitet und an die Printmedien und die TV- und Radiosender verkauft. In München werden komplette Sendungen für die Fernsehanstalten produziert. Es handelt sich um politische Magazinsendungen, Talkshows und Dokumentationen.

Was die Sache angeht, ist er der Auffassung, dass man nur dann die Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft bewältigen wird, wenn man die lokalen, regionalen und überregionalen Ressourcen mit ihren jeweils spezifischen Möglichkeiten zur Entfaltung kommen lässt. Er glaubt an die Wirkung von Synergieeffekten und hat mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Organisationsmodell entworfen, das personellen und fachlichen Ansprüchen gerecht wird. Es ist ein dickes Brett, das er gebohrt hat. Das von ihm entwickelte Konzept, sein Konzept, ist eine Abkehr vom Bestehenden. Er schlägt vor, die Einzugsbereiche der Regionalbüros zu vergrößern. Durch die Schließung von 16 Büros werden Kosten in Höhe von 5,75 Mio € jährlich eingespart. Der Einsatz neuer Technologien, wie neue Broadcast- Kameras, modernster Skype- Hardware und die Nutzung der Möglichkeiten der Video Streaming Technik VST, lassen durch die Anschaffung zwar auch 6,25 Mio € Kosten entstehen, aber die haben sich nach drei Jahren amortisiert. Es wird neue Verantwortungsbereiche für die Wartung, Bedienung und Verarbeitung der Hardware und der dazugehörenden Software geben, die personell besetzt werden müssen. Es werden alt hergebrachte Strukturen, die fast schon so verkrustet sind wie die des öffentlichen Dienstes, aufgegeben, was konsequenterweise bedeutet, dass eine große Anzahl von Betriebsangehörigen zukünftig in neuen Aufgabenbereichen tätig sein wird oder neue Mitarbeiter eingestellt werden müssen. Das neue Modell ist der konsequente Versuch, die Firma MfM wieder als gewinnorientiertes Unternehmen aufzustellen. Für Jan Mommsen hat sich MfM in den letzten Jahren zu einer wenig effizienten Institution mit Behördencharakter entwickelt. Vielleicht ist es deshalb auch notwendig, sich von einigen Mitarbeitern zu trennen, deren Qualifikationen den Anforderungsprofilen des neuen Organisationsmodells nicht mehr entsprechen. Aber für ihn ist das immer noch eine bessere Lösung, als durch die Beibehaltung alter Strukturen das gesamte Unternehmen mit allen Arbeitsplätzen zu gefährden.

Für die Auslandsbüros ist angedacht, sie mit den dort agierenden nationalen Fernsehanstalten und nationalen Presseagenturen kooperieren zu lassen. Die Schwierigkeit wird darin bestehen, das eigene MfM- Profil zu erhalten, auch wenn die Informationsquelle nicht zum Unternehmen gehört. Durch die geplante Kooperation könnte der Spareffekt im Jahr bis zu 12,65 Mio € betragen.

Die Parallelität der TV- Produktion in den Hamburger und Münchener Studios soll aufgehoben und durch eine vollständige Verlagerung in die bayerische Landeshauptstadt als einzigem Produktionsstandort wieder in die schwarzen Zahlen gebracht werden. Der Medienmarkt ist gerade weltweit dabei, sich neu zu ordnen, und wenn die MfM- Group jetzt den Anschluss verliert, hat sie auf Dauer verloren. Das zeigte sich in der Phase der Umstellung von Printmedien auf digitale Medien, als viele Verlage mit ausschließlicher Fokussierung auf Printmedien vom Markt gefegt wurden. Der Trend weist auch gegenwärtig auf diesen Konzentrationsprozess hin, da die digitalen Medien der dritten Generation mit ihren technischen Möglichkeiten den Markt erobern.

Er hört Schritte auf der Holzbrücke. Wegen des Nebels kann er niemanden sehen. Die Schritte kommen näher. Aus dem Nebel tauchen die Umrisse einer Frau auf. Sie trägt einen Mantel, hat eine Tasche über die Schulter gehängt und bewegt sich gezielt auf ihn zu. Erst, als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt ist, erkennt er sie. Es ist Frau Schönau. Frau Schönau arbeitet in einer anderen Abteilung des Unternehmens. Sie sehen sich ab und zu in der Kantine beim Mittagessen. Dann tauschen sie meistens Belanglosigkeiten aus. Er kennt noch nicht einmal ihren Vornamen. Er weiß, dass sie Mitte Dreißig ist, sich zur Abteilungsleiterin hochgearbeitet hat, verwitwet ist und zwei Kinder im schulpflichtigen Alter zu ihr gehören.

Sie stellt sich mit dem Rücken zum Geländer neben ihn.

„Na, großer Weltschmerz?“, beginnt sie etwas flapsig das Gespräch.

Mommsen schaut sie nur stumm an.

„Ich kann mir gut vorstellen, wie es in Ihnen aussieht“, setzt sie das Gespräch fort.

„Ach! Das können Sie?“, antwortet er mürrisch. „Dann wird ja nach der fundierten Diagnose auch bald ein erfolgsversprechender Therapieplan folgen.“

Bitterkeit schwingt in seinen Worten mit.

„Nun zerfließen Sie man nicht in Selbstmitleid“, antwortet sie ganz ruhig. „Ich will Ihnen doch nur helfen. Falls Sie meine Hilfe annehmen. Ich habe gesehen, dass Sie den Saal verließen. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Sie brauchen jetzt jemanden, der Ihren zur Seite steht. Davon bin ich fest überzeugt. “

Wieder schaut er sie nur stumm an.

„Ich komme gleich zum Kern der Sache. Das von Ihnen und Ihrer Abteilung entwickelte neue Konzept ruft Ängste hervor. Ängste entstehen bei jeder größeren Veränderung. Die Veränderer müssen viel mehr Überzeugungsarbeit leisten als die Bewahrer des Bestehenden. Und an dieser Überzeugungsarbeit hat es gemangelt. Ich habe das in vielen Gesprächen mit den Betroffenen gehört und gespürt. Und haben Sie nicht bemerkt, dass diese Ängste bewusst geschürt wurden?“

Sie macht eine Pause und gibt ihm die Möglichkeit zu antworten. Da er nicht darauf eingeht, fährt sie fort:

„Sie können sich auch nicht auf die Loyalität aller ihrer Leute verlassen, wie Sie sicherlich schmerzhaft erfahren haben. Sie wissen wohl auch nicht, dass Ihre Widersacher Ihnen unterstellen, in dem neuen Modell selbst eine neue, leitende Aufgabe übernehmen zu wollen?“

Er schüttelt den Kopf. Er weiß nur, dass diese Position mit mehr Machtfülle ausgestattet und finanziell höher dotiert wäre. Er selbst hat ja die Rahmenbedingungen dafür entworfen. Sie setzt zur nächsten Frage an:

„Und Sie wissen auch nicht, dass Ihre Kritiker in dem neuen Organisationsmodell nicht die Chancen für alle, für MfM insgesamt, sondern nur Vorteile für Sie und eine kleine Gruppe, die Ihnen nahe steht, sehen?“

Wieder schüttelt Mommsen den Kopf. Frau Schönau ist für einige Augenblicke sprachlos. Hat denn der Mann kein Gespür für das, was um ihn herum geschieht? Verschließt er bewusst die Augen und Ohren vor der offenen oder latenten Kritik, die an ihm und den Ergebnissen seiner Arbeit geäußert wird? Nimmt er nicht die Vorwürfe wahr, die ihm Eitelkeit, Gefühlskälte und Arroganz unterstellen? Weiß er wirklich nicht, dass das Gerücht in die Welt gesetzt wurde, dass seine internen Gegner im Zuge der Realisierung des Konzeptes entlassen werden sollen?

Er schüttelt noch einmal den Kopf angesichts dieser Unterstellungen.

„Ich habe nie die Absicht geäußert, eine der leitenden Funktionen zu übernehmen. Ich habe mich immer für eine sozialverträgliche Lösung bei der Freisetzung von Mitarbeitern ausgesprochen und stets auf die Rechte der Mitarbeitervertretung hingewiesen. Ich habe mich explizit für die Priorität fachlicher Qualifikationen unabhängig von der jeweiligen Person eingesetzt und diese Maxime im Antrag schriftlich fixiert.“

Seine Worte klingen monoton und sachlich wie der Wetterbericht in den Radionachrichten. Regine Schönau wendet sich ihm nun zu und schaut in sein Gesicht. Er versucht, ihren Blicken auszuweichen und senkt seinen Kopf, aber sie sagt in einem Ton, der Verbindlichkeit und Konsequenz vereinigt:

„Schauen Sie mich bitte an!“

Er hebt zögerlich den Blick an und schaut in ihre Augen.

„Ich finde Ihr Konzept überzeugend und hätte es gern umgesetzt, soweit es meine Befugnisse betrifft. Aber Sie haben vergessen, dass Menschen Gefühle haben. Sie haben die Belegschaft emotional nicht angesprochen. Im Gegenteil, durch ihre intellektuelle Art der Darstellung haben Sie vielen das Gefühl der Unterlegenheit gegeben und Ängste hervorgerufen. Da war dann die Ablehnung vorprogrammiert.“

Wieder weicht er ihrem Blick aus. Er kann immer noch nicht verstehen, warum seine schriftlich dokumentierten Ausführungen nicht zur Kenntnis genommen werden. Und er ist so naiv, dass er sich ein gegen ihn gerichtetes Intrigenspiel nur schwer vorstellen kann.

„Kommen Sie, wir gehen zurück ins Hotel.“

Sie nimmt seinen Arm und hakt sich ein. Mommsen zögert noch. Er ist verletzt und anderen Menschen gegenüber misstrauisch. Doch sein Gefühl sagt ihm, dass er Frau Schönau vertrauen kann. Dankend nimmt er ihr Angebot an und geht mit ihr den Weg zurück zum Hotel.

An der Bar

Zur gleichen Zeit sitzen seine Stellvertreterin, Frau Katja Koch, und ein paar Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die meisten aus seiner Abteilung, zusammen in der Bar des Hotels, das zum Kongresskomplex gehört. Sie haben alle ein Glas Sekt in der Hand, Frau Koch einen Wodka, und stoßen auf ihren Sieg an. Die meisten Männer der Runde haben den oberen Hemdknopf geöffnet und den Krawattenknoten gelöst. Die Jacketts hängen über den Stuhllehnen. Nur Manfred Siewers sitzt noch mit geschlossener Krawatte und angezogenem Jackett an der Theke. Ihm fiele es im Traum nicht ein, sich in der Öffentlichkeit so leger zu zeigen wie ein Teil seiner Kollegen. Die Frauen haben sich nach Beendigung der Tagung bereits umgezogen und tragen statt der eleganten Hosenanzüge oder Kostüme Jeans oder Miniröcke mit aufgeknöpften Blusen. Die Stimmung ist ausgelassen.

„Dieses war der erste Streich!“, ruft einer aus der Runde.

„Ein Prost auf seinen Abgang!“

„Man nicht so voreilig! Noch ist er in Amt und Würden!“

„Aber nicht mehr lange! Machen wir den Sack zu!“

„Ja, wir sollten jetzt konsequent den nächsten Schritt vollziehen. Wie abgesprochen.“

Frau Koch, die Nummer zwei der Abteilung, beteiligt sich nicht an den Gesprächen. Noch nicht. Sie hält ihr Glas fest in der Hand, nippt ab und zu daran und erweckt den Eindruck genau zuzuhören. Sie weiß, dass viele Beschäftigte ihre Hoffnung auf sie setzen. Sie ist näher bei den Menschen, spricht ihre Sprache, setzt sich für sie ein. Das ist das Bild, das sie geschickt nach außen vermittelt. Zu ihrer Strategie gehört auch die Tatsache, dass sie jeder Mitarbeiterin und jedem Mitarbeiter nach kürzester Zeit das ‚Du‘ anbietet. Ihr ist dabei vor allem die Außenwirkung wichtig. Wichtiger jedenfalls als die echte persönliche Nähe. Sie baut damit Brücken aus Papier, die einer Belastung nicht Stand halten. Sie verspricht das Blaue vom Himmel, ohne den Beweis zu liefern, dass sie in der Lage ist, die Versprechen auch zu realisieren. Ein Wechsel an der Spitze der Abteilung, die nach einem Abgang Mommsens durch sie besetzt werden sollte, gebe vor allem Arbeitsplatzsicherheit. Das hat sie immer wieder betont. Sie lächelt angesichts der Chance, ihn zu beerben. Nie war sie ihrem strategischen Ziel näher. Sie sieht sich in der Runde um. Um sie haben sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versammelt, die fachlich qualifiziert sind und Ehrgeiz haben. Geschickt steuert sie diese, weil sie selbst nicht über die fachlichen Kompetenzen verfügt. Sie benutzt die Menschen, mit denen sie zusammenarbeitet – und lässt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, fallen, wenn sie ihrer überdrüssig ist oder sie zum Erreichen ihrer Ziele nicht mehr benötigt.

Herr Siewers nimmt eine besondere Rolle ein. Er kennt sich sehr gut mit Gesetzen, Verordnungen, Erlassen und anderen Vorschriften aus und benutzt formale Strukturen als Instrumente, seine Interessen durchzusetzen. Er ist die graue Eminenz der Gruppe. Er ist zu feige und zu unbeliebt, um an vorderster Stelle Verantwortung zu übernehmen. Lieber zieht er die Fäden aus der zweiten Reihe.

Frau Koch erhebt nun ihr Glas und sagt mit fester Stimme:

„Ich danke euch für eure Unterstützung. Ihr habt Mut und Standfestigkeit bewiesen. Ich werde das bei den zukünftig zu treffenden Entscheidungen, bei denen ich mitwirken werde, berücksichtigen. Zum Wohl!“

Katja Koch ist keine gute Rednerin. Sie hat diese Sätze auswendig gelernt und spult sie herunter. Sie weiß, dass sie den Anwesenden zur Dankbarkeit verpflichtet ist und in deren Schuld steht. Sie fährt fort:

„Er selbst hat mir vor ein paar Tagen gesagt, dass er unheilbar krank sei. Die Ärzte hätten bei ihm die schon vermutete Krankheit festgestellt. Er bat mich, diese Information vertraulich zu behandeln. Das habe ich ja auch getan. Bis jetzt.“

Die anderen können sich ein leises Lachen nicht verkneifen.

„Und wie willst du diese Information einsetzen, Katja?“, wird sie gefragt.

„Ich bin mir sicher, dass morgen die ganze Belegschaft von seiner Krankheit weiß. Worüber wollt ihr denn sonst beim Frühstück sprechen?“, lautet ihre selbstsicher vorgetragene Antwort.

„Und was soll dabei herauskommen?“

„Einer von euch wird den Antrag an den Vorstand stellen, ihn aus gesundheitlichen Gründen von seinen Aufgaben zu entbinden. Das geht nach §21 der allgemeinen Vertragsbedingungen für leitende Angestellte. Ich bin der Meinung, dass das Herr Siewers gut kann! Nicht wahr, Manfred, du wirst doch den Antrag stellen?“

Der Angesprochene schluckt ein wenig, sagt dann aber doch:

„Okay, wenn Sie es wollen, werde ich das tun.“

Ihm ist unwohl bei dem Gedanken, vor aller Öffentlichkeit einen entscheidenden Schlag vorzunehmen. Die Rolle des Brutus gefällt ihm überhaupt nicht.

„Du solltest erwähnen, dass er häufig die Zahlen verwechselt, falsche Namen nennt, körperlich nicht belastbar ist, zittert…“

„…und hohe Fehlzeiten aufgrund diverser Erkrankungen aufweist.“

„Das sollte reichen, um ihn los zu werden!“

Frau Rosenberg, eine junge Mitarbeiterin der Abteilung, hält sich in der Diskussion zurück. Wenn sie vorher gewusst hätte, welche Pläne hier geschmiedet werden, hätte sie sich der Gruppe überhaupt nicht angeschlossen. Ihr Motiv, gegen den von Jan Mommsen einge-brachten Antrag zu stimmen, war einzig und allein ihre Angst vor einer möglichen Entlassung. Sie ist die Jüngs-te in ihrer Abteilung und befindet sich seit knapp drei Jahren in einem immer wieder neu befristeten Arbeitsverhältnis. Sie hat Journalistik an der Universität Münster studiert und mit Summa cum laude abgeschlossen. Ihr berufliches Ziel ist die Übernahme eines Auslandbüros von einer der großen Fernsehanstalten, am liebsten in einem der klassischen Mittelmeerländer. Sie steckt ihre ganze Energie in ihr berufliches Weiterkommen und hat sich bisher wenig Zeit für Freundschaften genommen. Ihre Unerfahrenheit im Umgang mit Menschen hat in der Vergangenheit oft dazu geführt, dass sie Verbindungen eingegangen ist, in denen sie ausgenutzt und hintergangen wurde. Die große Liebe ist für sie bisher eine Schimäre, der sie erfolglos hinterherjagt. Clara Rosenberg besitzt auch noch nicht das Selbstbewusstsein, ihre persönlichen Interessen zu formulieren und zum Maßstab ihres Handelns zu machen. Aber sie verabscheut die Hinterfotzigkeit, mit der hier ein Mensch zu Fall gebracht werden soll.

„Und wenn seine Krankheit kein Grund ist, ihn zum Abdanken zu bewegen, dann muss eine moralische Empörung her“, lässt Frau Koch nun die nächste Katze aus dem Sack.

„Wie stellst du dir das denn wieder vor?“ wird sie gefragt.

„Ich denke, Frau Rosenberg könnte die Versuchung sein, der er nicht widerstehen kann.“

Sie wendet sich der jungen Kollegin zu und meint beruhigend:

„Du musst ja nicht gleich mit ihm ins Bett gehen. Es reicht, dass man euch gemeinsam in einer intimen Situation erwischt. Schauspielern wirst du ja können!?“

„Ich weiß nicht, ob ich das kann!“. Frau Rosenberg ist schockiert.

„Nun, wenn du das nicht kannst, wird es schwierig werden, deinen befristeten Vertrag in einen unbefristeten umzuwandeln.“

Knallhart macht sie Frau Rosenberg klar, was sie von ihr erwartet. Die junge Kollegin schluckt, steht auf und verlässt grußlos die Gruppe. Sie nimmt das Treppenhaus, steigt die 144 Stufen hoch bis in die sechste Etage, schließt mit ihrer Karte das Zimmer 621 auf und lässt sich auf das Bett fallen. In ihrem Kopf dreht sich alles. Die Drohung mit der Kündigung des Vertrags war eindeutig. Und wenn Frau Koch so etwas sagt, sollte man es ernst nehmen. Das hat sich in den letzten Wochen immer wieder gezeigt.

Sie denkt an die Konsequenzen, wenn sie sich weigern sollte, den Forderungen nachzukommen. Die finanziellen Verpflichtungen wegen des Kaufs der kleinen Eigentumswohnung fallen ihr sofort ein. Die Bezahlung des gebuchten Sommerurlaubs, den sie sich nach Jahren der Entbehrung endlich gönnen will, steht an. Ibiza war schon immer ihr Traumziel. Das von ihr im Internet ausgesuchte Hotel liegt an einem sehr schönen Strandabschnitt direkt an der Playa d’en Bossa, hat vier Sterne all- inklusive. Für die drei Wochen muss sie mit dem Flug rund 3000,00 € bezahlen. Und sie will sich endlich ein Auto anschaffen, damit sie mobiler wird. Die Fahrten mit der S- Bahn, der U- Bahn, dem Bus und der Straßenbahn sind zeitraubend und nicht immer ein Vergnügen. Wie soll sie das alles schaffen, wenn ihr befristeter Vertrag ausläuft und nicht verlängert oder nicht in einen unbefristeten Vertrag umgewandelt wird?

Angst steigt in ihr auf. Und Wut. Wut auf die Frau, die sie in diese Situation bringt. Doch wie kommt sie ohne Verletzungen mit bleibenden Narben aus dieser verzweifelten Situation wieder heraus? Sie beginnt zu weinen. Sie lässt ihren Gefühlen freien Lauf, die Tränen rollen ihr nur so über das Gesicht. Ihr Schluchzen nimmt ihr den Atem. Die fremde Stadt, das fremde Zimmer, die gefühlte Einsamkeit, die unmissverständlichen Drohungen der Frau Koch verstärken das sie beherrschende Gefühl, allein mit ihren Sorgen in dieser aussichtslosen Lage zu sein. Völlig mutlos nimmt sie ihren Mantel von der Garderobe, setzt sich ihre Mütze auf, geht zum Fahrstuhl, drückt auf „E“, steigt im Erdgeschoss aus und geht ziellos in den Park.

In jenen Nächten

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