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Von Frau zu Frau

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Frau Schönau biegt mit Herrn Mommsen den Hauptweg ein, der zum Hotel führt. Die beiden gehen schweigend durch die nebelverhangene Anlage. Er fühlt sich geborgen in ihrer Nähe und genießt es, trotz aller momentanen Belastungen, ihr so nahe zu sein. Regine Schönau strahlt einen Charme aus, dem er sich nicht entziehen kann. Sie ist mittelgroß, schlank, hat ihre dunkelblonden Haare mit ein paar hellen Strähnchen durchsetzt, ist dezent geschminkt und „hanseatisch“ gekleidet. Sie trägt ein dunkelblaues Kostüm mit einer weißen Bluse und einem modisch geknoteten Halstuch. Der ebenfalls dunkelblaue, gerade geschnittene Mantel geht knapp über die Knie, der Kragen ist hoch geschlagen. Dazu trägt sie passende Pumps. Jan Mommsen mag diesen Modestil. Er passt hundertprozentig zu ihrer Persönlichkeit, die sich durch Zurückhaltung, Bescheidenheit, Selbstsicherheit und zielgerichtetes Handeln auszeichnet.

Unter ihren Füßen knirscht der Split, mit dem die Wege des Parks bestreut sind.

Plötzlich sagt er:

„Ich heiße übrigens Jan.“

„Ach, lassen Sie uns noch beim ‚Sie‘ bleiben“, antwortet sie. „Wir kennen uns ja kaum.“

Mit dieser Antwort hat er nicht gerechnet.

Er murmelt etwas förmlich:

„Na gut, akzeptiert, Frau Schönau.“

„Eine starke Frau, die weiß, was sie will“, denkt er sich, während sie schweigend weitergehen.

Aus dem Nebel taucht eine Person auf und kommt ihnen näher. Frau Schönau erkennt sie als erste.

„Guten Abend, Frau Rosenberg! Noch etwas Luft schnappen?“, spricht sie die Spaziergängerin an. Die bleibt stehen, sagt aber kein Wort. Auch Frau Schönau und Herr Mommsen bleiben stehen. Sie sehen die Tränen in den Augen der jungen Frau. Frau Schönau geht auf Frau Rosenberg zu und nimmt sie in die Arme. Sie weiß instinktiv, dass das die richtige Geste ist.

„Wollen Sie mit mir sprechen? Was bedrückt Sie?“, fragt sie leise.

„Das…, das…, das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen“, bekommt sie als stockende Antwort. Sie macht eine kaum wahrnehmbare Kopfbewegung in Jan Mommsens Richtung. Frau Schönau versteht sofort, dass es mit ihm zu tun hat, er das aber nicht hören soll.

„Könnten Sie bitte schon voraus gehen. Es gibt da ein Problem, das kann nur unter Frauen gelöst werden.“

„Wenn das so ist, will ich einer Lösung nicht im Wege stehen!“, antwortet er und geht allein zurück zum Hotel.

„So! Nun sind wir allein. Was ist los? Sie können mir vertrauen!“

Frau Schönau legt den Arm um Clara Rosenbergs Schultern und zieht sie zu sich heran. Frau Rosenberg genießt es, wie ein kleines Kind von der Mutter beschützt zu werden. Wie lange hat sie solche Momente vermisst?

Zögernd fängt Frau Rosenberg an zu erzählen. Sie schildert ihre berufliche Situation, die möglichen Auswirkungen einer Kündigung auf ihr Leben, die finanziellen Verpflichtungen, die sie eingegangen ist und ihre Motivation, sich der Gruppe um Frau Koch anzuschließen. Dann kommt sie auf das abendliche Gespräch in der Lounge zu sprechen. Sie legt zwischen den Sätzen lange Pausen ein und überlegt sich jedes Wort. Sie weiß, dass sie in den Augen der Widersacher einen Verrat begeht. Aber ihr moralischer Anspruch an sich selbst lässt ihr keine andere Wahl, als die Wahrheit zu sagen.

„Sie wollen ihn mit dem Hinweis auf seinen gesundheitlichen Zustand aus seiner Funktion drängen. Und wenn das nicht reichen sollte, will man ihm ein amouröses Abenteuer anhängen und ihn desavouieren.“

Frau Schönau schaltet sofort und fragt nach:

„Und Sie sollen der Lockvogel sein, stimmt‘s?“

Frau Rosenberg nickt. Sie schaut beschämt nach unten.

„Ich soll ihn auf mein Zimmer bitten und ihn dann,…. ihn dann in eine verführerische Situation bringen. Wenn er dann mein Zimmer verlässt, stehen einige von Frau Kochs Leuten mit ihren Handykameras vor der Tür und machen Fotos.“

„Und? Werden Sie das Spiel mitmachen?“

Als Antwort erfolgt ein Kopfschütteln. Doch dann beginnt sie wieder zu weinen.

„Sie hat mir gedroht, meinen Vertrag nicht zu verlängern, wenn ich mich weigere.“

„Das ist eine ganz schlimme Nötigung. So ein böses Spiel habe ich selten erlebt. Aber ich habe schon den Anflug einer Idee, wie die Situation ohne Nachteile für Sie bewältigt werden kann. Vertrauen Sie mir bitte. Ich brauche aber noch etwas Zeit zum Überlegen.“

Frau Rosenberg atmet erleichtert auf, umarmt Frau Schönau und bedankt sich bei ihr für die Unterstützung, von der sie noch nicht weiß, wie sie konkret aussehen wird.

Für Regine Schönau ist das, was Clara Rosenberg ihr berichtet hat, Wasser auf die Mühlen. Es bekräftigt das Bild, das sie von Katja Koch hat. Da ihre Kräfte und die ihr zur Verfügung stehende Zeit aber auch nicht grenzenlos sind, muss ihr ein Vorgehen einfallen, das beide Personen, Clara Rosenberg und Jan Mommsen, gleichzeitig in den Lösungsprozess einbezieht. Sie muss zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, das ist für sie klar. Fragt sich nur, wie die Klappe aussehen muss, der das gelingt.

Dann gehen auch sie zurück in das Hotel.

Der Plan

Als die beiden Frauen den Park verlassen und das Hotel in Sichtweite kommt, trennen sie sich auf Vorschlag Regine Schönaus. Frau Rosenberg steuert das Hotel an, während Frau Schönau nach rechts in Richtung Kongresszentrum abbiegt. Aber sie geht nur bis zu ihrem Auto, das sie auf dem Parkplatz abgestellt hat, öffnet es und nimmt aus dem abgeschlossenen Handschuhfach ihre Digitalkamera heraus. Es ist eine kleine, leistungsstarke Kamera, die nun in ihrer Handtasche verschwindet. Dann geht auch sie zum Hotel.

Zuerst schlägt Frau Schönau zielgerichtet den Weg zur Rezeption ein und erkundigt sich nach der Zimmernummer von Frau Rosenberg. Nachdem sie sie erfahren hat, schlendert sie auffallend langsam an der Bar vorbei und sieht die Frauen und Männer, die Mommsen zu Fall bringen wollen. Sie dreht sich und geht zu ihnen hin. Sie merkt, dass die lebhaften Gespräche, in die die Intriganten vertieft sind, abrupt aufhören und man sie nur er-staunt anblickt. Sie genießt die Wirkung, die sie erzielt.

„Na? Am Pläne schmieden für die Zukunft?“, fragt sie scheinheilig.

„Wie kommen Sie denn darauf? Wir lassen den an-strengenden Tag bei einem Glas Sekt ausklingen und schnacken über Gott und die Welt.“

„Gut, dass Gott mit im Spiel ist. Dann kann ja nichts passieren“, erwidert sie mit einer Spur Ironie, die aber von allen wahrgenommen wird.

„Ihnen kann doch die Entwicklung in unserer Abteilung egal sein“, sagt Frau Koch mit einer Eisesstimme. „Sie sind ja in keinster Weise betroffen.“

Wider besseres Wissen und allein aus taktischen Gründen meint Frau Schönau nur:

„Da haben Sie Recht! Ich bin in die Auseinandersetzung nicht involviert. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und eine gute Nacht.“

Sie dreht sich um und verlässt die Lounge Richtung Fahrstuhl. Im Spiegel einer der Flursäulen sieht sie, wie die Zurückgelassenen die Köpfe zusammen stecken und zu tuscheln anfangen.

Mit einem Lächeln drückt sie den Fahrstuhl herbei, steigt ein und fährt in die sechste Etage. Sie klopft an die Tür von Zimmer 621. Frau Rosenberg öffnet ihr. Sie bittet Frau Schönau, doch einzutreten und fragt sie auf dem Weg ins Zimmer, ob sie etwas trinken wolle.

„Gegen ein Glas Wein hätte ich nichts einzuwenden“, antwortet Frau Schönau.

„Weißwein oder Rotwein?“

„Wenn der Weißwein schön kalt ist, nehme ich einen Weißwein!“

„Er kommt direkt aus der Minibar.“

„Trinken Sie auch ein Glas mit?“

„Ich glaube, wenn ich jetzt Alkohol trinke, schlafe ich sofort ein und bekomme nichts mehr mit. Und ich glaube, dass heute Nacht noch einiges passiert, das ich nicht versäumen sollte.“

„Wie kommen Sie denn darauf?“ Frau Schönau macht ein erstauntes Gesicht. Aber sie fügt sofort hinzu:

„Darauf können Sie wetten, dass noch etwas Aufregendes geschieht. Übrigens, ich heiße Regine. Wenn Sie, ich meine, wenn du nichts dagegen hast, sollten wir uns duzen.“

„Nein, ich habe nichts dagegen. Ich heiße Clara. Clara mit C.“

„Das hört man ja beim Sprechen nicht. Prost Clara!“

„Warte mal, bitte!“

Sie nimmt ein Glas, schüttet sich ein wenig Weißwein ein und stößt mit Regine Schönau an.

„Prost. Regine! Auf ein gutes Gelingen deines Plans. Ich bin schon ganz gespannt, wie er aussieht!“

Während Clara Rosenberg im großen Sessel sitzt, hat Regine Schönau auf der Couch Platz genommen. Sie setzt jetzt zur Erläuterung ihres vorläufigen Plans an.

„Ich weiß, dass Frau Koch eine Affäre mit Herrn Siewers hat.“

Frau Rosenberg unterbricht sie sofort:

„Was? Mit dem Siewers? Der grauen Eminenz? Was hat sie denn an dem Paragrafenreiter gefressen? Und woher weißt du das denn?“

„Ganz schön viele Fragen auf einmal, liebe Clara. Vielleicht ist der Paragrafenreiter ein guter Liebhaber? Wer weiß das schon? Ich habe die beiden einmal in der Sauna in flagranti erwischt. Das war auf der Jahrestagung im letzten Jahr. Zum Glück waren sie so beschäftigt, dass sie mich nicht bemerkt haben.“

„Und was hast du vor?“

„Ich will sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Der Siewers hat sich bewusst das Zimmer neben ihr geben lassen. Und ich wette nicht nur, nein, ich weiß, dass er jede Nacht das Nachbarzimmer aufsucht.“

„Von wem weißt du das?“

„Der Zimmerservice hatte sich vorgestern im Zimmer geirrt und bei mir angeklopft. Das Zimmermädchen schob einen Servierwagen mit Häppchen und einer Flasche Champagner in mein Zimmer und meinte dann wörtlich: „Bitte unterschreiben Sie wie immer hier, Frau Koch!“, und hielt mir den Abrechnungsbon hin. Ich klärte sie auf, dass sie hier im Zimmer 436 sei und nicht, wie auf dem Bon steht, im Zimmer 536. Sie entschuldigte sich bei mir für die Verwechslung mit dem Hinweis, dass sie heute in Vertretung für ihren kranken Kollegen Ser-vicedienst habe, bat mich, den Fauxpas nicht der Hotelleitung zu melden und zog mit hochrotem Kopf ab. Auf dem Servierwagen standen zwei Sektgläser. Und sie hat gesagt „Wie immer, Frau Koch!“ Nun kannst du eins und eins zusammen zählen.“

„Und was hat das alles mit mir und Herrn Mommsen zu tun? Ich verstehe das noch nicht.“

„Hör genau zu, Clara! Ich werde um 0.25 Uhr einen Feueralarm auslösen. Um Punkt 0.25 Uhr. Dann wird Siewers aus ihrem Zimmer herausstürzen, und alle auf dem Flur werden das sehen. Ich sorge dafür, dass sich möglichst viele Personen im fünften Stock aufhalten und die Sache mitbekommen.“

„Und was ist mit mir und Herrn Mommsen?“

„Ich werde mit Herrn Mommsen besprechen, dass er dich auf deinem Zimmer aufsuchen soll. Er soll es so auffällig machen, dass das viele Personen aus der Kochgruppe mitbekommen. Sie sollen ganz sicher sein, dass er bei dir ist. Er verlässt dich aber kurz nach Mitternacht. Als Etagenkellner verkleidet wird er einen Servierwagen herausschieben und sein Zimmer aufsuchen. Es liegt in der zweiten Etage und hat die Nummer 223. Den Servierwagen werde ich gleich bestellen. Wenn dann der Feueralarm ausgelöst wird, kommt er aus seinem Zimmer. Auch dort wird er von vielen Leuten gesehen. Du kommst aus deinem Zimmer und mischst dich unter die Leute der sechsten Etage. Alles klar?“

„Alles klar“, antwortet Clara Rosenberg.

Regine Schönau nimmt den Telefonhörer, wählt den Zimmerservice und bestellt für Zimmer 621 eine Flasche italienischen Weißwein, Pinot Grigio, aus dem Friaul, Jahrgang 2008, zwei Gläser und eine Käseplatte. Fünf Minuten später klopft es an der Tür.

Der Dichter an seiner Seite

Jan Mommsen erreicht das Hotel. Die durch Fotozellen gesteuerte Tür öffnet sich, und er betritt die große Empfangshalle. Er würde jetzt gern noch ein Bier trinken, aber aus der Hotelbar klingt lautes Reden und Gelächter. Ihm ist nicht nach Gesellschaft zumute. Jan Mommsen geht an der Bar vorbei, ohne noch einen Blick hinein zu werfen und begibt sich auf sein Zimmer. Dort zieht er sich seinen Mantel aus, legt seinen Schal ab, zieht die Schuhe aus und holt sich aus der Minibar eine Flasche Bier. Er öffnet sie und nimmt einen großen Schluck. Dann lässt er sich in den Sessel fallen und schaltet nur die Stehlampe an. Im Halbdunkel des Zimmers gehen ihm wieder die Gedanken durch den Kopf, die ihn seit Stunden quälen: Warum? Was habe ich denjenigen angetan, die gegen den Antrag, also auch gegen mich gestimmt haben?

Er steht auf und geht zum Nachtschrank, der neben dem Bett steht. Aus seiner kleinen mitgebrachten Sammlung von CD’s sucht Jan Mommsen sich diejenige mit dem Klarinettenkonzert in A- Dur von Wolfgang Amadeus Mozart aus und legt sie in den CD- Player. Er überspringt den ersten Satz, der im Allegro steht und beginnt sofort mit dem Adagio des zweiten Satzes. Die Melodie passt genau zu seiner Stimmung. Es ist, als ob Mozart diesen Satz extra für ihn komponiert hätte. Mit geschlossenen Augen und lässt er sich von der Musik gefangen nehmen. Dann greift er zum vor ihm auf dem Tisch liegenden Buch, das er immer mitnimmt, wenn er für längere Zeit von zuhause fort ist. Es ist das Buch mit den gesammelten Gedichten von Hermann Hesse. Das grüne Buch mit dem Pappeinband weist Spuren vom vielen Auf- und Zuschlagen und vom vielen Blättern auf. Er erinnert sich an die Zeit, als er nach einer schweren Krankheit in einer Klinik lag und seine Frau bat, ihm das Buch mit Hesses Gedichten mitzubringen. Er las damals alle 807 Seiten, das Nachwort eingeschlossen. Viele Gedichte berührten ihn, ihm kamen beim Lesen die Tränen.

Er hat die Seiten mit denjenigen Gedichten, die seinen jeweiligen Seelenzustand am besten widerspiegeln, mit kleinen Papierstreifen gekennzeichnet. Er schlägt das Buch auf der Seite mit dem ersten Lesezeichen auf und liest:

„Kennst du das auch, dass manchesmal

Inmitten einer lauten Lust,

Bei einem Fest, in einem frohen Saal,

Du plötzlich schweigen und hinweggehn musst?

Dann legst du dich aufs Lager ohne Schlaf

Wie einer, den ein plötzlich Herzweh traf;

Lust und Gelächter ist verstiebt wie Rauch,

Du weinst, weinst ohne Halt – Kennst du das auch?“

Oh ja, das kennt Jan Mommsen. Dieses Gefühl der Einsamkeit, trotz der Anwesenheit vieler Menschen, hat er schon oft verspürt. Er hat dann meistens die jeweilige Veranstaltung verlassen und ist ziellos durch die Straßen gelaufen, allein seinen Gedanken nachhängend. Auch sein Gang am heutigen frühen Abend entsprang solch einer Stimmungslage. Er hielt es nicht mehr aus zwischen all den Menschen, dem Angesprochen werden, dem Antworten müssen, dem Im-Mittelpunkt-stehen. Wieso er das nicht kann, ist ihm erst in einer Phase seines Lebens deutlich geworden, als er in einer tiefen Sinnkrise steckte und therapeutische Hilfe in Anspruch nahm. In Einzel- und Gruppengesprächen kam er immer mehr zu der Erkenntnis, dass die Ursachen seines Verhaltens in der Kindheit und Jugend zu suchen sind. Sein Vater verstarb sehr früh, seine Mutter widmete sich intensiv ihrer beruflichen Karriere als Immobilienmaklerin, seine Großeltern waren entweder tot oder lebten weit weg im Süden Deutschlands. Seine Geschwister, er hat eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder, hatten auch keinen Einfluss auf ihn. Er war in vielen Lebenssituationen allein auf sich gestellt. Das gab ihm einerseits das Gefühl eines hohen Maßes an Verantwortung, andererseits auch das der Einsamkeit. Die Einsamkeit überspielte er oft, vielleicht zu oft, mit einer nur scheinbaren Fröhlichkeit. Er gab sich nach außen anders als sein von ihm selbst wahrgenommener Zustand es eigentlich erforderte. Der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Nähe, nach Zärtlichkeit und nach Liebe und der Unfähigkeit, diesen verständlichen Wünschen durch das Setzen eigener Akzente Nachdruck zu verleihen, begleitete ihn während seiner ganzen Kindheit und Jugend. So sonderbar es klingen mag, aber er mochte das Leiden und das Verharren in der Einsamkeit. Aus diesem Gefühl heraus blättert Jan Mommsen in dem Buch und sucht ein weiteres seiner Lieblingsgedichte. Er findet es auf den vorderen Seiten und liest leise:

„Seltsam, im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein,

Kein Baum sieht den andern,

Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,

Als noch mein Leben licht war;

Nun, da der Nebel fällt,

Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,

Der nicht das Dunkel kennt,

Das unentrinnbar und leise

Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Leben ist Einsamsein.

Kein Mensch kennt den andern,

Jeder ist allein.“

Er schließt die Augen und lässt die Worte nachwirken. Er spürt, dass er mit dem Alleinsein seine Schwierigkeiten hat. Er möchte jemanden bei sich haben, der ihn beschützend umarmt und ihm das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit gibt. Er denkt an seine Frau Imke. Sie ist gut 300km entfernt in Hamburg. Imke Mommsen besitzt die Leichtigkeit, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie ist voller Dynamik, unternehmungslustig und grundsätzlich optimistisch. Was ist, wenn ihr Verhalten auch nur eine Maske ist wie so häufig das seine? Wenn sie auch unter den Bedingungen des Zusammenlebens leidet? Wenn für beide das gilt, was Jan Mommsen in der ersten Strophe des Hesse- Gedichts „Das ist mein Leid“ zu erkennen glaubt?

„Das ist mein Leid, das ich in allzuvielen

Bemalten Masken allzugut zu spielen

Und mich und andre allzugut

Zu täuschen lernte.“

Von der CD erklingt zwischenzeitlich das Klavierkonzert Nr. 21 in C- Dur. Es wird von den Berliner Philharmonikern gespielt. Er hört sich die acht Minuten der Aufnahme an, steht danach auf, holt sein Handy vom Schreibtisch, wählt die Hamburger Festnetznummer, wartet darauf, dass seine Frau den Hörer abnimmt. Doch er hört nur das Freizeichen. Sie geht nicht ans Telefon. Wahrscheinlich ist sie mit ihren Kollegen bei irgendeinem Arbeitsessen. Er wählt nun ihre Handynummer. Aber auch dort bekommt er keinen Anschluss. Die Stimme vom Band bittet ihn, nach dem akustischen Signal eine Nachricht zu hinterlassen. Er spricht sie nicht. Seine beiden Kinder will er nicht anrufen. Sein Sohn Helge arbeitet in Südafrika und bereitet sich auf einen beruflichen Wechsel nach China vor. Für Jan Mommsen wäre das auch eine Umkehr der Verhältnisse, wenn er seinen Sohn um einen Rat bitte. Bisher hat er ihm mehr oder weniger wertvolle Ratschläge für dessen Bewältigung privater und beruflicher Probleme gegeben. Und die zwei Jahre jüngere Tochter Britta lebt auf Sardinien und ist im siebten Monat schwanger. Sie ist mit einem Hotelmanager in Olbia verheiratet und erwartet ihr erstes Kind, sein erstes Enkelkind. Mitte Dezember soll es mit der Geburt so weit sein, da will er jetzt nicht durch einen Anruf am späten Abend Aufregung verursachen.

Er zieht sich aus, geht ins Bad und duscht sich ausgiebig. Es klopft an der Tür. Er steigt aus der Dusche und zieht sich schnell den Bademantel über. Dann öffnet er die Tür.

In jenen Nächten

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