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2. Kapitel: Das Opfer

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Gustav vom Rath, der Vater des Opfers, gehörte einer alten, konservativ denkenden Adelsfamilie an, deren Karriere als Staatsbeamte stets vorgezeichnet war. Am 21. Februar 1879 in Düsseldorf geboren, studierte er später Jura in Heidelberg, Genua und Bonn. Im Jahre 1902 trat er als junger Rechtsanwalt in den Zivildienst ein. Die nächsten Jahre, mit Ausnahme der Militärzeit, arbeitete vom Rath in Danzig und von 1912 an in Köln. 1920 quittierte er den Staatsdienst, ging nach Breslau und übernahm dort die Leitung der familienbezogenen Zuckerfabrik.

Ernst vom Rath, ältester der drei Söhne, wurde am 3. Juni 1909 in Frankfurt am Main geboren. Er besuchte die Mittelschule zunächst in Frankfurt, dann in Breslau, wo er auch 1928 das Abitur ablegte. Anschließend studierte Ernst vom Rath an den Universitäten Bonn, München und Königsberg in der Fachrichtung Rechtswissenschaften. Nach erfolgreich bestandenem Examen war er vorübergehend als Gerichtsreferendar am Stadtgericht Zinter im Umkreis von Königsberg tätig. Sicher beeinflusst durch seinen Onkel Roland Köster, dem damaligen Botschafter der Deutschen Botschaft Paris, entschied sich Ernst vom Rath 1934 für eine diplomatische Laufbahn. Er begann als junger Zivilangestellter im Auswärtigen Dienst, bestand die geforderten Prüfungen und schloss ein sechswöchiges Training ab bei der Deutschen Botschaft Budapest. In Vorbereitung auf den sprachlichen Teil der Prüfung verbringt er den Sommer 1934 in Paris.

Am 13. April 1935 wird der junge Diplomat formell beim Außenministerium eingestellt und zum Attaché ernannt. In dieser Eigenschaft ist für ihn eine reizvolle Aufgabe in der Deutschen Botschaft Paris verbunden. Er wird persönlicher Sekretär seines Onkels, führt die Protokolle, erhält Einsicht in die Außenpolitik des Dritten Reiches. Doch kurz nach dem Tod von Botschafter Roland Köster ruft man ihn am 1. April 1936 zurück nach Berlin. Ernst vom Rath steht vor neuen Prüfungen, auf ihn wartet eine Arbeit im Generalkonsulat Kalkutta, die er noch im gleichen Jahr, im Oktober, annimmt. Der neue Dienstherr heißt Graf von Podewils-Dürnitz. Unter dessen Anleitung hält Ernst vom Rath vor Parteigenossen Vorträge, unter anderen, über den Vierjahresplan, nimmt nebenbei regelmäßig an den Übungsstunden der Sportabteilung teil, bis ihn eine rätselhafte Krankheit wiederholt ans Bett fesselt. Er muss stationär behandelt werden. Gehen wir der Sache näher auf den Grund, denn sie spielt eine entscheidende Rolle beim Fall “Herszel Grynszpan”. Die offizielle Diagnose lief damals auf ein chronisches Magenleiden hinaus, eventuell auch Ruhrverdacht. Eine ärztliche Untersuchung im Berliner Institut für Radiologie schien unumgänglich zu sein. Ernst vom Rath verzichtet schweren Herzens auf seine geruhsame Tätigkeit in Kalkutta und fährt nach Berlin. Später erzählt er, der die mysteriöse Krankheit unbedingt geheim halten will, er hätte an einem leichten Fall von Lungenentzündung gelitten. Deshalb sei er auch nach der Behandlung für vier Monate in einem Sanatorium von St. Blasien gewesen. Als dann seine Gesundheit im Juli 1938 halbwegs wieder hergestellt ist, schickt das Auswärtige Amt ihn erneut nach Paris. Es ist sein dritter Aufenthalt in der französischen Hauptstadt innerhalb von vier Jahren. Man betraut ihn mit dem Empfang jener Besucher, deren Besuchszweck nicht eindeutig zu definieren ist. Was sich hinter dieser Funktion wirklich verbarg, werden wir nie erfahren, denn die Diplomatie ist ein weites Feld, voller Geheimnisse, Diskretionen und mitunter auch Machenschaften. Das soll uns jedoch nicht daran hindern, den Karriereweg Ernst vom Raths weiter zu verfolgen. Am 18. Oktober 1938 würdigt man seine Verdienste mit der Ernennung zum Legationssekretär. Ein durchaus steiler, aber auch verdienter Aufstieg, wie aus den Beurteilungen in den Personalakten hervorgeht. Seine Vorgesetzten beschreiben ihn als einen Mann mit großem Urteilsvermögen, er sei ein energischer Arbeiter, vertrauenswürdig, habe ein freundliches und angenehmes Wesen. Besonderes Lob erntet er für seine Fähigkeit im Umgang mit anderen Leuten, auf die er mit seiner ihm innewohnenden Bescheidenheit zugehe, sowohl im als auch außerhalb des Büros. Seine vornehme Zurückhaltung bei großem Wissen ist eine weitere Tugend, die bei der Beurteilung des Ernst vom Rath ins Feld geführt wird. Alles in allem lernen wir aus den Berichten einen äußerst sympathischen jungen Diplomaten und Menschen kennen. Da stellt sich ja gleich die Frage: Wie konnte eine solch allseits beliebte Person nur Mitglied der “Braunen Horden” werden? Zur Erinnerung: Ernst vom Rath trat am 14. Juli 1932 in die NSDAP ein. Das war noch zu jener Zeit, da er an der Universität Königsberg Jura studierte, während der heißen Phase des frühen Nationalsozialismus, die Zeit der brutalen Einsätze der SA gegen Kommunisten und Sozialdemokraten, gelegentlich auch schon gegen Juden. Und kaum war Hitler an die Macht gekommen, drängte es den zartbesaiteten Adelsspross drei Monate später, Mitglied in der SA zu werden. Ernst vom Rath waren die Methoden der Schläger-Truppe bekannt. Er soll sie als Mittel der Politik abgelehnt haben, wie aus seinem Umfeld verlautete. Bekannte des Diplomaten begründeten diese Haltung mit ethisch-religiösen Prinzipien, die er sich zur Maxime gemacht hätte. In der Tat war er kein ständiger Kirchgänger wie Vater vom Rath, jedoch ein Moralist im christlichen Sinne. Das Außenministerium notierte in ihrer Personalbeschreibung über vom Rath nur Randbemerkungen bezüglich seiner Mitgliedschaft zur Partei. Beamte aus seinem Umfeld bescheinigen ihm Loyalität und Gehorsam gegenüber Hitler und der Nazi-Bewegung. Die Presse macht aus ihm einen “Märtyrer”. Fast alle Fotos, die man anlässlich seines Todes veröffentlichte, zeigen Ernst vom Rath in Zivilkleidung. Nur ein Fotograf des Propaganda-Ministeriums lichtet ihn für eine Broschüre in SA-Uniform ab.Das Foto ist sicher fünf Jahre vor dem Attentat entstanden, gleich nach seiner Aufnahme, denn nach der “Nacht der langen Messer” hat sich wahrscheinlich ein politisches Umdenken in dem sensiblen Diplomaten vollzogen. Er soll zu diesem Zeitpunkt seine jugendlichen Illusionen und die damit verbundene Begeisterung für die “Bewegung” verloren haben. So heißt es in der politischen Beurteilung des Gauleiters Bohle: …..”Während vom Rath in Budapest und Paris als Parteigenosse nur wenig in Erscheinung getreten ist, hat er in Kalkutta…..“

Wie dem auch sei, er bleibt ein Parteimitglied, was natürlich seinem Vorteil diente, aber vielleicht nutzte er auch seine auswärtigen Aufgaben dazu, um sich selbst von den täglichen Aktivitäten der Nazis zu distanzieren. Es kamen Gerüchte über einen vom Nationalsozialismus enttäuschten Ernst vom Rath auf, die in der ausländischen Presse breiten Raum einnahmen. Am 7.Januar 1939 gab Gustav vom Rath hierzu vor dem französischen Untersuchungsausschuss eine ausführliche Erklärung ab. Nach der Versicherung, dass er hier als Zivilkläger gegen Herszel Grynszpan und dessen eventuelle Komplizen auftrete, machte er einige tendenziöse Angaben zu seinem Sohn. Schließlich, in Beantwortung einer Serie von Fragen des Untersuchungsausschusses, nahm der alte vom Rath zu gewissen Berichten in der Presse Stellung.”In der Absicht, die Wahrheit wieder ans Tageslicht zu bringen, die Entstehung irgendwelcher falschen Legenden zu verhindern, versichere ich mit allem Nachdruck, dass mein Sohn ein Mitglied der nationalsozialistischen Bewegung gewesen ist. Er trat bereits 1932 in die Partei ein, das heißt bevor die Partei an die Macht kam. Er war total einverstanden mit der Regierung und war dem Nationalsozialismus voll zugetan. Was mich betrifft: Ich war Regierungsrat seit 1919 und bin jetzt pensioniert. Ich lebe im vollen Einverständnis mit den politischen Ansichten meines Sohnes. Es ist sehr peinlich für mich in gewissen Zeitungen zu lesen, dass mein Sohn Differenzen mit meiner Regierung hatte und dass anlässlich seiner Beerdigung ich einen Streit mit dem Führer gehabt haben soll. Ich erkläre, dies sind alles nur Lügen. Es ist auch ein Gerücht, dass ich in ein KZ gebracht worden bin. Ich denke, meine Anwesenheit in diesem Gerichtssaal, zusammen mit meinem Sohn Guenther, widerlegt diese Lüge ausreichend.”

Ob die demonstrative Loyalitätserklärung des Herrn vom Rath zum Naziregime aus eigenem Bedürfnis geschah? Oder ist sie ihm nachdrücklich von offizieller Seite ans Herz gelegt worden? Eine derart penetrant wirkende Aussage entspricht eigentlich nicht dem Charisma des Gustav vom Rath. Die Familie war viel zu schmerzerfüllt, viel zu rücksichtsvoll und diskret, um ein Statement solcher Art bezüglich des Todes ihres Sohnes abzugeben. Ein bisschen weiß man ja auch von Ernst vom Raths Sympathie für die Juden. Einer seiner früheren Kollegen bezeugte nach dem Krieg, dass vom Rath die Maßnahmen der deutschen Regierung gegen die Juden bedauerte, weil sie seinem humanistischem Geist widersprachen, aber er ist nicht energisch genug dagegen aufgetreten, weil er glaubte, sie seien für das deutsche Nationalwohl anscheinend notwendig. Eine andere Zeugin, Fräulein Ebeling, seinerzeit Dienstmädchen in Paris, sagte aus, Ernst vom Rath habe in ihrer Gegenwart niemals eine Meinung über die Juden fallengelassen. Sie hatte stets den Eindruck, weder er noch seine Eltern seien antisemitisch eingestellt gewesen. Sie fügte hinzu:” Das Privatleben des jungen Mannes ist sehr anständig verlaufen. Er besaß nur fünf persönliche Freunde und generell lebte er sehr zurückgezogen.” Was seinen Charakter betraf, bescheinigte ihm Fräulein Ebeling, es wäre sicherlich schwierig einen freundlicheren und dankbareren Menschen als ihn zu finden. Wir wissen ferner von vom Raths großer Liebe für Frankreich. Anfangs besaß er eine recht dürftige Kenntnis der französischen Sprache, aber dann begann er bei Mademoiselle Taulin Stunden zu nehmen, zuerst während des Sommers 1934. Sie schwärmte regelrecht von dem jungen Mann mit der großen Intelligenz und den perfekten Manieren. “Sein extrem zurückhaltendes und ruhiges Wesen war außergewöhnlich”, sagte sie. “Ich habe bei ihm niemals das leichteste Anzeichen von Gedanken und Ausdrücken beobachtet, welche die Gefühle des Anderen verletzen könnten oder ordinär gewesen wären.” Er kannte französische Familien und wurde gern von ihnen nach Hause eingeladen. Ansonsten war sein gesellschaftliches Leben eher spartanisch ausgerichtet. Der Privatsekretär des Botschafters, Theodor Auer, gehörte zu vom Raths wenigen Freunden. Wie der Botschaftskollege berichtete, gingen sie hauptsächlich wegen der angegriffenen Gesundheit Ernst vom Raths mitunter gemeinsam spazieren. Ebenso erwähnt Auer, dass vom Raths Privatleben ohne “Episoden” verlief, er hätte sich immer sehr moderat ausgedrückt. Wir werden wahrscheinlich nie etwas über die wahren Gefühle des jungen Diplomaten gegenüber dem Naziregime erfahren. Wenn es stimmt, was man von ihm sagt, so hat er eine gehörige Portion Naivität beim damaligen Eintritt in die Partei an den Tag gelegt, die man am besten mit jugendlichem Leichtsinn umschreibt. Der alte vom Rath wurde während des Krieges in den Dienst zurückberufen und erhielt eine Stellung bei der Gestapo, in Eichmanns Ressort. Er war für Ausreisefragen der Juden zuständig. Bekanntlich bemühte er sich dabei, den Opfern der Nazis zu helfen.

Herszel Grynszpan

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