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3. Kapitel: Der Tod Ernst vom Raths

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Nach dem der Amtsgehilfe Wilhelm Nagorka seinen Besucher bis zum Büro Ernst vom Raths gebracht hatte, ging er in das Zimmer des Botschafters Graf von Welczeck. Dort angekommen, will er Hilferufe aus dem Arbeitsraum Ernst vom Raths gehört haben, über eine Entfernung von 27 Metern hinweg. “Ich eilte sofort zum Büro und traf unterwegs den verletzten vom Rath. Ich ging ins Büro und verhaftete Grynszpan, der bewegungslos dastand. Die neben dem Büro von Raths liegenden Zimmer waren leer. Dadurch ist es erklärlich, dass die Schüsse nicht gehört wurden. Ich hörte erst die Hilferufe, die Herr vom Rath ausstieß, nach dem er das Büro verlassen hatte und während er im Korridor lief”, gibt Nagorka zu Protokoll. Von einem zweiten Amtsgehilfen, der Nagorka bei der Verhaftung und Übergabe an die französische Polizei zu Hilfe kam, lesen wir nur etwas in der Anklageschrift des Oberreichsanwalts, allerdings ohne Nennung des Namens. Ich zitiere: “Hierauf fasste Nagorka den Angeschuldigten beim Arm und führte ihn zusammen mit einem weiteren Hauswart...vor die Tür des Botschaftsgebäudes, wo er ihn dem dort befindlichen französischen Schutzmann Autret mit der Erklärung übergab, dass der Angeschuldigte soeben auf einen Botschaftssekretär mehrere Schüsse abgegeben habe. Auf dem Wege zur Tür des Botschaftsgebäudes äußerte der Angeschuldigte zweimal: “Dreckiges Schwein”.

Nach eben jener Anklageschrift - und nur darauf können wir uns berufen - sollen sich zwei Beamte der Botschaft um den Getroffenen bemüht haben. Der Legationssekretär Ernst von Achenbach und der Botschaftskanzler Kurt Bräuer. Sie wären nach den Hilferufen Ernst vom Raths aus ihren Zimmern gekommen und hätten dann ihren Kollegen in dessen Dienstraum am Boden liegend vorgefunden. Auf ihre Frage, was denn eigentlich vorgefallen sei, hätte vom Rath geäußert, er wäre vom Angeschuldigten alsbald nach dessen Eintritt in seinen Amtsraum beschossen worden, aus Rache für die nach Polen ausgewiesenen Juden.

Die erste Hilfe ist dann schnell durch von Achenbach und Bräuer organisiert worden. Sie meldeten sofort ein dringendes Gespräch zu einem der Botschaftsärzte, zu Dr. Claas, an. Der Anrufer handelte sofort und veranlasste die Einlieferung des Schwerverletzten in die Universitätsklinik, 166 rue de l` Universite. Prof. Dr. Baumgartner als leitender Chirurg der Deutschen Botschaft wurde zum Krankenbett Ernst vom Raths gerufen. Er blieb gleich dort und übernahm die weitere Behandlung des Patienten. Gleich nach der ersten Untersuchung erwogen die Mediziner, das vermeintliche Opfer eines Anschlags ins Amerikanische Hospital, in der Vorstadt Neuilley gelegen, zu verlegen, doch angesichts der durchrissenen Milz und mehrerer innerer Blutungen musste sofort operiert werden, ohne die Zustimmung vom Raths abzuwarten. Prof. Baumgartner nahm den komplizierten Eingriff vor. Nach der Entfernung der Milz musste die Magenwand genäht und die Blutgerinnsel entfernt werden. Vom Rath erhielt massive Bluttransfusionen unter Oberaufsicht des berühmten Spezialisten Dr. Jube`. Der Spender, Besitzer eines Pariser Restaurants und ein hochdekorierter Kriegsveteran, machte Schlagzeilen. In den letzten acht Jahren hatte Monsieur Thomas mehr als hundert Mal Blut gespendet. Nun tat er es für einen Deutschen, einem Angehörigen der Deutschen Botschaft! Die Presse bejubelte ihn. Sein “Heldentum” nutzte die deutsche Propaganda aus, um daraus angesichts des bevorstehenden Ribbentrop-Besuches ein Symbol der deutsch-französischen Freundschaft abzuleiten. Eine Freundschaft, welche das “Weltjudentum”, gemeint war Herszel Grynszpan, gewaltsam zerstören wollte. So der Tenor in Goebbels Interpretation.

Als die Nachricht von den Schüssen in der Pariser Botschaft den “Führer” erreicht, sendet dieser seinen Begleitarzt Dr. Karl Brandt, und den Direktor der Chirurgischen Klinik München, Dr. Magnus, nach Paris. Die beiden Mediziner sollten nach außen hin das persönliche Interesse Hitlers an dem Fall demonstrieren, hatten aber sicher noch andere Absichten, die nirgendwo in den Akten vermerkt sind. In den frühen Morgenstunden des 8. Novembers trafen sie auf dem Pariser Flughafen Le Bourget ein. Gegen 10.30 Uhr betraten Dr. Brandt und Dr. Magnus die Universitätsklinik, in Begleitung von Botschafter Graf von Welczeck und Botschaftsrat Bräuer. Im ersten Bulletin für die Presse sprach man von einem sehr ernsten Zustand des Legationssekretärs vom Rath, speziell wegen der Verletzungen am Magen. Im weiteren Text hieß es jedoch, die exzellente chirurgische Behandlung durch Prof. Baumgartner ließe hinsichtlich der Besserung des Gesundheitszustandes gedämpften Optimismus aufkommen. Dr. Brandt und Dr. Magnus begaben sich am Abend ein weiteres Mal zum Patienten. Der Zustand Ernst vom Raths hatte sich nicht gebessert. Ganz im Gegenteil. Die Situation schien kritisch zu werden. Größte Sorge bereitete den Ärzten das ständig hohe Fieber. Erste Anzeichen einer akuten Herzschwäche tauchten auf.

Am selben Tag, am 8. November 1938, kam Gustav vom Rath mit seinem Sohn Guenther in der französischen Hauptstadt an. Sie stiegen aus dem Zug Köln-Paris und gingen umgehend in die Universitätsklinik. Der junge Diplomat soll seine Familienmitglieder erkannt haben. Es war ihm aber durch Dr. Magnus und Dr. Brandt streng verboten worden sich mit ihnen zu unterhalten, während man dem Patienten zuvor gestattet hatte, ein paar freundliche Dankesworte für den Blutspender Thomas und die ihn betreuende Krankenschwester zu sagen.

Frau vom Rath kam einen Tag später nach Paris. Gemeinsam mit ihrem Gatten und Sohn Guenther besuchten sie am 9. November gegen 10 Uhr die Klinik d` Al mata. Die Mutter Ernst vom Raths führte einen kleinen Handkoffer bei sich, anscheinend in der Absicht, die Nacht über am Krankenbett ihres Sohnes zu wachen. Ob die Eltern von sich aus eindringlich den Sohn baten lieber zu schweigen, da ihn das Reden eventuell zu sehr anstrengen könnte, lassen wir lieber unkommentiert stehen. Man wird sie darauf eingeschworen haben. Als Prof. Baumgartner nun um 10.30 Uhr die Klinik verließ, wurde er von den lauernden Journalisten befragt wie es um den Gesundheitszustand des deutschen Legationssekretärs bestellt sei. Der Arzt antwortete in knappen Worten: “Ernst vom Rath schwebt weiterhin in Lebensgefahr.” Einer der Presse-Leute bemerkte: ”Wenn man bedenkt, wie jung er noch ist, dann könnte man doch etwas mehr Hoffnung auf seine Genesung setzen, oder?” Prof. Baumgartner zuckte nur mit den Schultern und sagte: “Wenn es nur eine Wunde gäbe, aber es sind deren drei!”

Gegen Mittag betraten Dr. Magnus und Dr. Brandt das Krankenhaus. Beim Verlassen des Gebäudes in der rue Universite berichteten sie den Journalisten nichts Neues. Sie benutzten etwa die gleichen Worte wie zuvor Prof. Baumgartner sie formuliert hatte, und versprachen eine weitere Visite. Daran hielten sie auch fest. Kurz nach 15 Uhr waren sie wieder vor Ort. Ernst vom Rath lag im Koma. Er starb um 16.45 Uhr in Gegenwart seiner Eltern und den zwei deutschen Ärzten.

Das frühe Ansteigen der Temperatur, der Schockzustand des Patienten und der rasche Tod deuteten darauf hin, dass die verletzte Bauchspeicheldrüse die unmittelbare Todesursache gewesen sein dürfte. Um 17.25 Uhr verließen die leidgeprüften Eltern die Klinik. Das von Dr. Magnus und Dr. Brandt unterzeichnete Kommuniqué hatte folgenden Wortlaut:

“Gesandtschaftsrat I.Klasse Parteigenosse vom Rath ist seinen am 7. November erlittenen Schussverletzungen erlegen. Im Laufe des Vormittages tat bei Gesandtschaftsrat I. Klasse vom Rath eine weitere Verschlechterung seines Zustandes ein. Eine nochmalige Blutübertragung hatte nur vorübergehende Wirkung. Der Kreislauf reagierte auf Herzmittel nur ungenügend. Das Wundfieber blieb hoch. Gegen Mittag gab es keine Hoffnung mehr wegen der Magenverletzungen in Verbindung mit dem Milzverlust. Der Kräfteverfall ließ sich nicht aufhalten, so dass um 16.30 Uhr der Tod eintrat. Der französische Chirurg Dr. Baumgartner hat nach kunstgerechter Operation auch die weitere Wundbehandlung selbst sorgfältig durchgeführt. Die Klinik de l`Alma stellte ihre guten Einrichtungen zur Verfügung; das Pflegepersonal hatte sich aufopfernd eingesetzt. Der trotzdem erfolgte Tod des Gesandtschaftsrats I. Klasse vom Rath ist allein durch die Schwere der Schussverletzungen verursacht.

Gez. Dr.Magnus, Gez. Dr.Brandt.”

Die Autopsie der Leiche Ernst vom Raths hat dann der vielbeschäftigte französische Pathologe Dr. Paul im Beisein der vom Führer nach Paris entsandten deutschen Ärzte vorgenommen. Der Arzt leitet seinen Ärztlichen Obduktionsbefund so ein: “Wir haben uns am 7. November in die Universitätsklinik begeben, um einen Bericht von Dr. Baumgärtner über die von ihm am Vormittag durchgeführte Operation zu erbitten. Nach den Informationen, die uns gegeben wurden, ist vom Rath durch zwei Revolverschüsse verletzt worden. Eine Kugel hatte die Region des Brustkorbs getroffen; Vorne, Oben und in der Mitte, und diese Kugel hat sich in der Achselgegend befunden. Das andere Projektil war in die linke Flanke eingedrungen und verursachte eine tiefe Wunde im Unterleib. Nach einem Bauchschnitt stellte man zerfetzte Milz, eine transfixiante Wunde am Magen und eine Verletzung der Bauchspeicheldrüse fest. Dieses Projektil befand sich in der Region des Unterleibs. Der Zustand von Monsieur vom Rath verschlechterte sich. Wegen der Verletzungen und des operativen Eingriffs an der Milz wurde eine längere Betäubung notwendig. Er war außerstande sich dem kürzesten Verhör unterziehen zu lassen. Das chirurgische Personal bat inständig darum, man möge ihm absolute Ruhe gönnen. - Am 8. November waren wir mehrmals bei vom Rath und jedes Mal fanden wir den Kranken in einem fortschreitend alarmierenden Zustand vor. Sehr rasch setzte Fieber ein. Trotz wiederholter Bluttransfusionen blieb Monsieur vom Rath in einer Verfassung, in dem man ihn auf gar keinen Fall einem Verhör unterziehen konnte. Monsieur vom Rath starb am 9. November 1938.”

Auffällig im Text wirkt die zweimalige Betonung der absoluten Ruhe und des Verzichts auf jegliche Befragungen des Opfers. Darauf scheint Dr. Paul eingeschworen zu sein. Aus gutem Grund, wie wir bald erfahren werden.

Mir liegt übrigens der vollständige Obduktionsbefund vor, mit allen Einzelheiten, der Öffnung des Körpers, den Aushöhlungen des Schädels, des Brustkorbs und des Unterleibes, wobei noch festgestellt wurde, dass die Bauchhöhle eine kleine Menge Blut, etwa 60 gr, enthielt. Unter dem Röntgenschirm hatte Dr. Paul in Höhe der Wandung des rechten Brustkorbs, unterhalb der rechten Rippen-Ecke, ein Projektil des Revolvers entdeckt. Auf Höhe der rechten Achselhöhle fand er ebenfalls ein derartiges Geschoss.

Wozu der überaus erfahrene Gerichtsmediziner eigentlich zwei deutsche Assistenten benötigte, darunter den nach dem Krieg wegen seiner Euthanasie-Verbrechen zum Tode verurteilten Dr. Brandt, bleibt rätselhaft. An anderer Stelle werden wir jedoch näher darauf eingehen. Nur soviel: Die Nazis werden gewusst haben, wen sie mit der Identifizierung des Toten betrauen konnten. Dr. Paul galt als “Schnell-Obduzent”, dem mitunter Fehler unterlaufen. Er soll, was kaum vorstellbar ist, jährlich zweitausend bis viertausend Autopsien mit der Routine eines Uhrwerkes aber auch mit der oberflächlichen Sorglosigkeit eines Bonvivants vorgenommen haben, wie ein Biograf über ihn urteilte. Seinem Bericht zufolge bestätigte er, dass Grynszpan aus nächster Nähe fünf Kugeln abfeuerte, von denen nur zwei das Opfer trafen. Unter mysteriösen Umständen also wurde Ernst vom Rath begraben. Keine normale Trauer, eher ein pompöses Schauspiel der Nazi-Propaganda. Ein neuer Märtyrer war geboren. Gerade zur rechten Zeit, da man für das Gedenken an die “Gefallenen vor der Feldherrenhalle” einen neuen Blutzeugen brauchte. So gedachten dann auch in Paris der deutsche Botschafter Graf von Welczeck und Landesgruppenleiter Dr. Ehrich am Spätnachmittag des 9.November 1938 vor versammeltem Dienstpersonal des von “ruchloser jüdischer Hand” hingemordeten Parteigenossen Ernst vom Rath. Dr.Ehrich rief in pathetisch vorgetragenen Worten aus: “Wir haben das Gastrecht nie missbraucht…….nicht wir haben den Boden dieses Landes mit Blut befleckt, sondern die anderen, die uns in den Augen des Gastlandes herabsetzen wollen.“

Graf Welczeck sagte unter anderem: “Jeden von uns hätte die Kugel treffen können, er aber (vom Rath) hat das Opfer auf sich genommen. Wir, die wir im Ausland das Reich vertreten, sind die Soldaten des Führers, die außerhalb der Grenzen für das deutsche Volk und Reich kämpfen.” Dann erhoben sich im prächtig geschmückten Großen Saal der Botschaft alle Teilnehmer der Gedenkfeier von ihren Sitzen und mit dem deutschen Gruß gedachten sie der “ 16 Blutzeugen von der Feldherrenhalle” und des neues “Märtyrers”. Von der Botschaft marschierten die Angehörigen zur Klinik l`Alma, um die sterbliche Hülle des “Blutzeugen” abzuholen. In Empfang genommen wurde ein zugeschraubter Sarg. Mitglieder der Deutschen Kolonie entboten den deutschen Gruß, während die französischen Polizeibeamten salutierend die Hände an ihre Mützen legten. Dem Leichenwagen folgten, so die Presseberichte, Botschafter Graf von Welczeck, Gesandtschaftsrat Dr. Ehrich, ferner Dr. Brandt und Dr. Magnus sowie das Personal der Botschaft und schließlich ein langer Trauerzug der deutschen Volksgenossen. Den Leichnam bekam niemand mehr zu sehen. Der zugeschraubte Sarg wurde in dem zur Kapelle ausgestalteten Saal der Botschaft aufgebahrt. Niemand sollte sehen, wer da nun wirklich drin liegt, selbst die Pressefotografen nicht. Einige enge Mitarbeiter hielten auf jeden Fall Totenwache. Der Führer sandte folgendes Beileidstelegramm: “Herrn und Frau Rath, zur Zeit Paris.- Nehmen Sie zu dem schmerzlichen Verlust, den sie durch den feigen Meuchelmord an ihrem Sohn betroffen hat, meine aufrichtigste Teilnahme entgegen. Adolf Hitler.”

Nach dem das Telegramm verlesen wurde, ergriff Botschafter Graf Welczeck das Wort: “Unsere Empörung über dieses Verbrechen ist grenzenlos. Verachtung mischt sich hinein und Grauen über die Gemeinheit, zu der ein Mensch herabsinken kann. Wir vertrauen der französischen Justiz, dem Gerechtigkeitsempfinden der französischen Volksseele, dass sie für den Mörder unseres Ernst vom Rath die Sühne finden wird, die der Größe des Verbrechens entspricht. Der Dahingegangene aber wird uns unvergesslich vor Augen stehen als ein junger deutscher Mensch, dem es gegeben war, auf dem Felde der Ehre für sein Vaterland zu fallen in einer Zeit, die von keiner Epoche der deutschen Geschichte übertroffen wird...”

Am nächsten Tag fand in der Deutschen Botschaft eine interne Trauerfeier statt, und zwar in Anwesenheit der Eltern vom Raths. Graf Welczeck führte die Mutter zum Katafalk, und dann wiederholte sich die Zeremonie nach nazistisch stereotypen Ritualen, aber das war erst der Auftakt zu drei weiteren Trauerakten. Die Nazis konnten in der Tat gar nicht so viele Leute sterben lassen wie sie trauern wollten. Ein ums andere Mal bemühte man die abgedroschenen Vokabeln vom Blutzeugen, vom “Märtyrer”und “gefallenen Soldaten des Führers”. Nach der internen Trauerfeier folgte eine separate Trauerkundgebung im “Deutschen Haus” in Paris. Der uns schon bekannte Landesgruppenchef der NSDAP, Dr .Ehrich, verkündete dabei stolz, dass der neue Märtyrer der Bewegung in die SA-Standarte “Horst Wessel” eingegangen sei. Peinlich berührt mussten die Eltern des Ernst vom Rath miterleben, wie der Name ihres Sohnes mit dem des schmierigen Zuhälters Horst Wessel, ebenfalls Märtyrer der Bewegung, in einem Atemzug erwähnt wurde.

Für Samstag, den 12. November, dachte sich die Deutsche Botschaft etwas ganz Besonderes aus. An der offiziellen Trauerfeier nahmen, durch irgendwelche Mittelsmänner angeheuert, etliche Mitglieder einer antisemitischen Organisation teil, unter ihnen französische Frontkämpfer. Gemäß der Regie legte ein Angehöriger dieser Gruppierung, ausgerechnet ein Arbeiter, ein schlichtes Veilchensträußchen auf den mit der Hakenkreuzflagge zugedeckten Sarg. Wie auf Stichwort sagte er: “Es gibt nicht nur marxistische Arbeiter”. Die deutsche Presse nahm den Satz dankbar auf. Ferner bot man einen kriegsversehrten Rollstuhlfahrer mit einem Blumenstrauß auf, den er von einer Blumenfrau erhalten haben will, um ihn am Sarg Ernst vom Raths niederzulegen. Das nazistische Schmieren-Theater hatte noch eine rührende Szene im Programm. Eine ganz in Schwarz gekleidete französische Dame, Mutter eines angeblich von Marxisten im Straßenkampf erschlagenen jungen Mannes, kniete vor dem Sarg nieder, betete unter Tränen und küsste die Hakenkreuzfahne am Sarg. Beim Abgang dieser inszenierten Komödie erwies sie “spontan” den deutschen Gruß. Obendrein meldete Oberregierungsrat Faber, Pressebeirat bei der Deutschen Botschaft Paris, seinem Chef Dr. Goebbels nach Berlin: “Durch französische Vertrauensleute haben wir in Paris und in der Provinz 3000 Großplakate anschlagen und 50 000 Handzettel judenfeindlichen Inhalts verteilen lassen.”

Ich habe den Bericht über die Hetzkampagne, die man damals Propaganda nannte, selbst im Bundesarchiv eingesehen. Der Text für jene Handzettel ist erhalten geblieben. Er lautet in deutscher Übersetzung: “ Achtung Franzosen! Frankreich ist nur noch eine Abfallgrube und ein Ghetto! Wir sehen überall auf der Straße nur Gesichter, die unserer Rasse fremd sind. Gehört Frankreich nicht mehr den Franzosen? Ausländer begehen auf unserem Boden die schlimmsten Attentate: Gorguloff ermordete den Präsidenten Doumer. Schwarzbart ermordete den Hetman Petlura. Kalemen ermordete König Alexander von Jugoslawien und Präsident Barthou. Grynszpan ermordet einen bei der Regierung akkreditierten Diplomaten. Werdet ihr weiter zulassen, dass Ausländer und Juden die Skandale der Chronik, der Verhetzung, der Betrügereien, des Bankrotts und der Morde fortsetzen?- Wir wollen nicht mehr, dass Ausländer morden. Es ist genug. Frankreich erwache!”

Nach Deutschland sollte nun auch Frankreich erwachen, wobei der böse Traum darin bestand, dass die aufgelisteten Morde zum Teil auf Bestellung, mit Hilfe von Lockspitzeln, geschehen sind. Diese wurden von der Gestapo dafür bezahlt. Schwarzbart, zum Beispiel, kam schnell wieder auf freien Fuß. Aber das nur nebenbei. Verfolgen wir den weiteren Verlauf des endlosen Trauerspektakels. An jenem Trauerakt für vom Rath am 12. November erschien als Repräsentant der französischen Regierung Minister Bonnet, ein Mann, der aus seiner Sympathie für Nazi-Deutschland keinen Hehl machte. Ministerpräsident Daladier ließ sich hingegen durch seinen Kabinettschef vertreten. Die Trauerrede in der Evangelisch-Lutherischen Kirche für die deutsche Kolonie, in der rue Blanche gelegen, hielten Pastor Dahlgrün und Staatssekretär Freiherr von Weizäcker. Letzterer deutete als Leiter der Trauerdelegation in seinen Worten schon an, dass sich das ohnehin schon maßlose Gehabe in Deutschland noch steigern werde. Er trat vor den Sarg und rief aus: “Tritt an die Fahrt in die Heimat. Ganz Deutschland erwartet dich!” - Doch bevor es soweit war, vergingen noch vier Tage, die man nutzte, um Vorbereitungen für eine gigantische Trauerfeier in der Heimat zu treffen.

Am 16. November, eine halbe Stunde vor Mitternacht, traf der Sarg des Ernst vom Rath, begleitet von einer Staffel motorisierter Pariser Polizei und den Privatwagen der Mitglieder der deutschen Delegation, vor dem Pariser Nordbahnhof ein. Die französische Regierung hatte indes große Mühe aufgewandt, um den teuren Toten würdig in die Heimat zu entlassen. Auf dem Bahnhof hingen schwarze Fahnen. Eine Kompanie Republikanische Garde zu Fuß hielt in Paradeuniform Ehrenwache. Ein Sonderzug wurde eingesetzt. Starke Sicherheitskräfte schützten den mit vielen Kränzen geschmückten Leichenwagen.

Gegen Mitternacht rollte der Zug aus dem Gare du Nord. Um 7 Uhr, “nach der langen Fahrt durch fremdes Land”, erreichte der Sonderzug die Grenzstation Aachen. Zum Empfang auf deutschem Boden standen Vertreter des Auswärtigen Amtes, Abordnungen der NSDAP-Auslandsorganisation sowie anderer NS-Gruppierungen und eine Ehrenkompanie des Heeres bereit. Für das ganze Deutsche Reich war Staatstrauer angeordnet. “Aachens Gauleiter Grohe übernahm feierlich den Sarg Ernst vom Raths. In seiner kurzen Ansprache machte er sich zum Dolmetscher des gesamten deutschen Volkes, als er mit Worten tiefsten Abscheus und der Empörung die schändliche Tat des jüdischen Mörders brandmarkte”, berichtete die einheimische Presse. Und sie zieht weiter vom Leder….”weil Du ein Deutscher warst, wurdest Du ermordet. Mit dem Schuss auf Dich wurde das deutsche Volk getroffen. Aber es irrt sich jenes Verbrechertum. Es kann zwar einen einzelnen Deutschen ermorden, doch das deutsche Volk wird es überwinden. Ernst und verhalten klang das Sieg Heil auf den Führer, für den Ernst vom Rath gefallen sei, während der Gauleiter den Kranz weißer Lilien des Führers am Sarg niederlegte. Dann trugen die Männer des Bahnschutzes den Sarg zum bereitstehenden deutschen Sonderzug, in dem jetzt auch der Vater mit den Brüdern Ernst vom Raths dem gefallenen Märtyrer des Reiches das Ehrengeleit gaben.”

Genug von diesem Gesülze. Der Zug setzt sich in Richtung Düsseldorf in Bewegung. An der Strecke hatte man die deutsche Hitler-Jugend, den Bund deutscher Mädchen und die Schuljugend zusammengetrommelt. Sie sollten Spalier bilden, dem “Märtyrer” mit ernstem Blick und ausgestrecktem Arm ihre Reverenz erweisen. Fahnen und Fackeln, stets willkommene Attribute der Jugend, wurden geschwenkt. An allen Stationen spielten NS-Musikkorps, Kapellen der Feuerwehr und Spielmannszüge der Bergleute das Lied “Vom guten Kameraden.” Selbst auf dem freien Feld längs der Bahnstrecke und an den Bahnübergängen standen tausende Menschen. Eine perfekte Inszenierung. Goebbels Handschrift. In Düsseldorf ohne Beispiel. Was sich hier abspielte, ist kaum zu beschreiben. Zehntausende sollen zum Empfang auf den Bahnhof gekommen sein. Am Bahnsteig, wo der Zug einlief, reckten sich unzählige Arme zum Gruß, ein Ehrensturm des NSKK war angetreten, ein Spielmannszug intonierte wieder den “guten Kameraden”, der Sarg wurde aus dem Zug gehoben und auf den von lodernden Pylonen umrahmten Katafalk getragen. An beiden Längsseiten des Sarges nahmen je vier Angehörige des Auswärtigen Amtes Aufstellung. Am Fußende stand Gauleiter Florian, neben ihm der Vater und die Brüder des Toten. Gauleiter Florian legte dann den großen Kranz des “Führers” nieder. Die Kranzschleife trägt auf rotem Grund in goldener Ausführung das Hoheitszeichen und die Führerstandarte und als einzige Aufschrift: “Adolf Hitler”. In Florians Rede taucht gleich mehrmals der Name Leo Schlageter auf, “dem ersten Soldaten des Dritten Reiches”. Gleich ihm hätte Ernst vom Rath seine Liebe zu Deutschland mit dem Leben bezahlt. Dann erneut Trommelwirbel. Der Sarg wird auf eine Lafette gehoben. Es ertönt das Horst-Wessel-Lied. Der Trauerzug setzt sich in Bewegung. Spielmannszug und Musikzug der SA vorneweg, gefolgt vom Fahnenblock mit Standarten und Fahnen der Gliederungen der NSDAP. Ein Ehrensturm der SA schließt sich an. Dahinter der Spielmannszug und das Musikkorps der Wehrmacht, Ehrenkompanien der SS-Verfügungstruppe. Dann eine Hundertschaft der Polizei, sämtlich unter Gewehr, und einer Ehrenabordnung des Reichsarbeitsdienstes. Nun kommt endlich die Lafette mit dem Sarg. Der Kranz des “Führers” und das Ordenskissen mit Mütze, Armbinde, Ehrendolch und Parteiabzeichen werden zur Schau gestellt. Die schwarz umhüllte Lafette, gezogen von sechs Rappen, begleitet eine Abordnung der Auslandsorganisation der Partei, des Auswärtigen Amtes und des NSKK. Hinter dem Sarg gehen Gauleiter Florian, Gauleiter Terboven, der Vater Ernst vom Raths, Gauleiter Bohle, Staatssekretär von Weizäcker und Botschafter Graf Welczeck.

Kurz vor 11 Uhr erreicht der Trauerzug die Düsseldorfer Rheinhalle, wo Ernst vom Rath aufgebahrt wird. Die Bevölkerung nimmt den ganzen Tag über Abschied vom “Blutzeugen der Bewegung”. Wer nicht erscheint, muss mit Schwierigkeiten rechnen. Die Gestapo ist hellwach. Für den 17. November, um 12 Uhr, ist der feierliche Staatsakt angesetzt. Eingeschaltet sind alle deutschen Sender, was die Leser der “Pommerschen Zeitung” erst im Nachhinein erfahren. Aus jener Quelle stammt der abschließende Bericht über ein Meisterstück Goebbelscher Propaganda:”

Im Rahmen eines feierlichen Aktes nahmen heute Mittag der Führer des Deutschen Reiches und das deutsche Volk Abschied von Ernst vom Rath. Der Strom des Volkes, der gestern bis spät in die Abendstunden an der Aufbahrungsstätte in der Rheinhalle vorbeizog, setzte sich auch heute fort. Ganz Düsseldorf trägt durch den Trauerschmuck ein ernstes, feierliches Gepräge.. Die Arbeit ruht, und zu Hunderttausenden drängt sich die Bevölkerung aus Stadt und Land in den Straßen...Weihevolle Stimmung liegt über der Trauerversammlung in der Rheinhalle. Der gewaltige Kuppelbau ist mit Hakenkreuzfahnen, silbernen Friesen, Lorbeer, Tannengrün und frischen Blumen ausgeschmückt. Zwölf silberne Pylone umrahmen das weite Rund und aus ihrem Schatten werfen Scheinwerfer ihr Licht empor. Von einem Meer von Kränzen und Blumen umgeben steht auf hohem Katafalk der Sarg, welchen Hakenkreuzbanner, Mütze und Degen des Toten zieren. Angehörige des Auswärtigen Amtes, der Auslandsorganisation und des NSKK halten Ehrenwache. Punkt 12 Uhr trifft der Führer an der Rheinhalle ein. In seiner Begleitung finden sich die drei Gauleiter der westdeutschen Grenzaue sowie Reichspressechef Dr. Dietrich, Staatssekretär Hanke sowie Hitlers Adjutanten. Die hier angetretene Ehrenkompanie der Wehrmacht und der Ehrenposten präsentieren. Die Arme der zu vielen Tausenden in weitem Umkreis stehenden Volksgenossen erheben sich zum stummen Gruß”, telegrafiert ein Journalist der “Pommerschen Zeitung” nach Stralsund.

Hitler hält allerdings keine Ansprache. Stumm sitzt er neben von Ribbentrop und der Mutter Ernst vom Raths. Der ehemalige Sekthändler ergreift dann nach verklungener “Eroica” das Wort zur Trauerrede, der wievielten eigentlich? Er sagt: Jetzt kannst Du ruhig schlafen1” Und wieder ertönt das Lied vom "guten Kameraden". SS-Männer tragen den Kranz des “Führers” aus dem Saal. Man marschiert unter Ehrensalven, Trommeln, Kampfansagen, Trompeten, Glockengeläut, Fahnen und Standarten zum Nordfriedhof, wo Ernst vom Rath endlich seine allerletzte Ruhe findet. Dort die gleichen Lieder, die gleichen Fahnen, die gleichen Leute. Nur ein Mann fehlt im Trauerzug zum Friedhof, Adolf Hitler. Er hatte es sehr eilig sich von der Familie vom Rath zu verabschieden. Plagte ihn das schlechte Gewissen?

Herszel Grynszpan

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