Читать книгу Dafür und Dagegen - Eckhard Lange - Страница 14
DIE WOHNUNG
ОглавлениеArtur hat den Wagen hinter der nächsten Ecke geparkt. Er möchte nicht, dass die Nachbarn das DDR-Schild entdecken. Noch weiß er nicht, was ihn erwartet, wenn er die väterliche Wohnung betritt. Es hat einige Zeit gedauert, bis er sich in diesem Teil Berlins zurechtgefunden hat, doch nun wird er aussteigen müssen, wird die wenigen Schritte zurückgehen und eine Tür aufsperren müssen. Und auf dem Türschild wird er den Namen von Pendragon finden, den vertrauten, verhaßten Namen, den er schon so lange abgelegt hat und den er doch nie ganz verleugnen kann.
Er greift in die Jackentasche und holt eine Zigarettenpackung hervor, fingert eine dieser weißen Stangen heraus und entzündet sie. Diese Minuten wird er noch im Wagen sitzen bleiben können. Warum habe ich diese Ängste, warum zögere ich alles so hinaus, denkt er. Der Vater ist doch tot, ich werde ihm nicht mehr begegnen. Und ich werde auch keinem anderen Menschen dort begegnen – das Haus ist verschlossen, der Notar hat mir den Schlüssel übergeben.
„Es ist nichts verändert worden, seitdem die Putzfrau Ihren Vater tot aufgefunden hat,“ so hat er eben gesagt. „Außer dem Notarzt und den Rettungssanitätern hat niemand das Haus betreten. Auch ich nicht. Ihr Vater hat mir zwar Vollmacht über den Tod hinaus erteilt, aber Sie sind der Erbe, und ohne Ihre Zustimmung fühlte ich mich nicht berechtigt, in die Wohnung zu gehen. Das Testament liegt vor, und ich denke, er hat es seitdem nicht geändert oder widerrufen, ohne mich zu informieren. Einzig die Vorbereitung der Trauerfeier habe ich nach seinen Wünschen in Angriff genommen, da ich nicht wusste, wie schnell Sie herüberkommen würden. Sie finden das alles in diesem Schriftsatz aufgelistet, und wenn Sie es wünschen, werde ich auch Änderungen veranlassen. Aber das kann noch ein paar Stunden warten, fahren Sie nur erst einmal nach Tempelhof.“
Ja, und nun ist er in Tempelhof, sitzt im Wagen und raucht. Und wartet, bis die Zigarette verglüht ist, bis er keinen Grund mehr hat, der ihn hindern könnte auszusteigen, durch den schmalen Vorgarten zu gehen, die drei Stufen hinaufzusteigen und den Schlüssel in das Schloß zu stecken. Und dann wird er ihm doch begegnen – überall wird er sein, jedes Möbelstück, jedes Bild wird von ihm erzählen, und jener Sessel, in dem er gefunden wurde, wird irgendwo dastehen, vorwurfsvoll, anklagend.
Er war doch dein Vater, wird er sagen, du hättest den ersten Schritt tun müssen, wird er sagen, er hat so lange auf dich gewartet, aber du bist nie gekommen. Ja, auch das wird er sagen. Und ich werde ihm antworten müssen: Ich konnte es nicht, verstehst du? Ich konnte es einfach nicht.
Artur Penn gibt sich einen Ruck, drückt die Zigarette aus, öffnet die Tür, um sie in den Rinnstein zu werfen, und nun kann er nicht mehr zurück. Die Tür ist offen, die Straße wartet, das Haus wartet – der Vater wartet. Er steigt aus, verschließt sorgfältig den Wagen, sucht den Hausschlüssel aus der Jackentasche heraus und geht um die Ecke, Schritt für Schritt bis zum Haus Nummer 18a.
Er stößt die Tür auf und tritt in einen düsteren Flur. Ein Mantel hängt an einer Garderobe, ein breitkrempiger Hut liegt oben auf der Ablage, Winterstiefel stehen seitlich an der Wand. Artur mustert die Türen, die zu beiden Seiten abgehen, dann wendet er sich zur Rechten. Dem äußeren Bild des Hauses nach würde er hier das Wohnzimmer finden – jenen Raum, in dem der Vater gestorben ist. Dort hinein wird er als erstes gehen, er muß die Gespenster vertreiben, die ihn sonst verfolgen würden.
Er öffnet die Tür, der Raum ist groß und hell, viel größer, als er erwartet hat. Auch die Regale sind hell, vollgestopft mit Büchern. Zwei kleine Sessel flankieren ein rundes Tischchen, eine Stehlampe hat sich zwischen sie gedrängt. Auf dem Tisch eine Flasche Rotwein, noch ungeöffnet, daneben ein sauberes Glas. Zur Straßenseite hin ein breites Fenster, ein wenig ausgestellt, wie es in jenen Jahren häufig eingebaut wurde. Auch hier eine Stehlampe, und daneben der breite Polstersessel, mit hoher Rückenlehne, Ohren an den Seiten. Eine Decke liegt daneben auf dem Boden, vermutlich haben die Retter sie zur Seite geworfen, als sie den Toten untersuchten. Die Lampe hat eine Ablage, und dort liegt ein Buch. Artur schrickt zusammen, als er es näher betrachtet: Es ist eines seiner Werke! Darin also hat der Vater gelesen in den letzten Stunden seines Lebens, ausgerechnet darin!
Der Sohn nimmt es in die Hand, es ist eine Erzählung aus den letzten Jahren des Krieges, handelt von einem Sechsjährigen, der von einem pommerschen Schloß aus auf die Flucht geht, begleitet von einem väterlichen Freund, der von sowjetischen Truppen eingeholt wird, zurückkehrt und wieder fort muß, Zuflucht findet in einem mecklenburgischen Dorf, Außenseiter ist und dann doch Freunde gewinnt, als er dort die jungen Pioniere gründet.
Es ist seine Geschichte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten so erlebt, und der Vater hat sie miterlebt. Mit welchen Gefühlen? Mit einem schlechten Gewissen, oder mit einem gewissen Stolz auf diesen Sohn? Artur blickt auf den Sessel, nimmt plötzlich wahr, wie abgeschabt das Polster ist, wie ärmlich das Ganze. Dort hat er gesessen, gerade erst siebzig – oder sind es einundsiebzig Lebensjahre? – und doch alt, nicht mehr gefragt als Literat, als Vordenker.
Dort hat er gesessen und in der Vergangenheit gelesen, der Vergangenheit des eigenen Sohnes, der nun selber zur Elite gezählt wird – drüben, in einer anderen, sozialistischen, fortschrittlichen, zukunftsorientierten Welt. Ob seine letzten Gedanken diesem Sohn galten, ehe er das Buch aus der Hand legte – oder ist es ihm gar vom Schoß gefallen und erst die Retter haben es dort auf der Konsole abgelegt, damit es sie nicht hindere?
Artur Penn tritt ins Zimmer zurück, sein Blick überfliegt die Titel der Bücher, ein buntes Gemisch, er kann keinerlei Ordnung erkennen, aber da sind auch noch zwei weitere Bücher von ihm, irgendwo dazwischen. Eine ganze Wand wird von diesem Regal eingenommen. Artur sucht nach Bildern, aber die hell gestrichenen Wände sind leer. Er geht zurück auf den Hausflur, auf der anderen Seite führt eine Tür in eine Küche, die zweite in ein Bad. Hinter der dritten verbirgt sich die Treppe ins nächste Geschoß. Er steigt hinauf, wieder ein Bad, eine Abstellkammer, zwei Zimmer, offensichtlich für Gäste eingerichtet.
Erst im zweiten Obergeschoß findet Artur das Schlafzimmer des Vaters. Auch hier ein Regal mit Büchern, ein Kleiderschrank, daneben ein breites Bett, und auf dem Nachtschrank endlich das einzige Bild im ganzen Haus: ein schon leicht verblichenes Foto einer jungen Frau mit Bubikopf, in einem Blusenkleid der zwanziger Jahre – seine Mutter. Nie hat er ein Bild der Mutter besessen, obwohl sie doch so oft fotografiert worden ist in jenen Jahren. Stets musste er sich mühsam erinnern an die seltenen Zeiten, die er mit ihr zusammen verbracht hatte.
Artur löst das Bild vorsichtig aus dem Rahmen und legt es in seinen Reisepaß, damit es nicht knickt. Er weiß nicht, was er anfangen wird mit diesem Haus, mit all dem, was darin ist. Hat er überhaupt das Recht, in dieser Bundesrepublik Eigentum zu besitzen? Er wird es klären müssen, irgendwann später. Er weiß auch nicht, ob der Vater noch anderes besitzt hier im Westen, ob er Vermögen hat. Der Notar wird es ihm sicher sagen können. Doch das kann warten.
Aber er hat nun ein Bild von seiner Mutter, und das wird er behalten. Plötzlich erschrickt er: Nach einem Bild des Vaters hat er nicht gesucht, fällt ihm ein. Wie mag er ausgesehen haben in diesen letzten Jahren? Es gab gelegentlich ein Foto in einer westlichen Zeitung, aber das war meist auch schon älter. Vielleicht erscheint ja ein Artikel über ihn anlässlich seines Todes. Er wird darauf achten müssen.
Ulrich von Pendragon war doch einmal ein bekannter Autor. War... So schnell vergeht Ruhm. Es wird mir nicht anders ergehen, denkt Artur. Was bleibt schon auf dieser Welt?
Er geht die Treppen hinunter, wirft noch einen Blick ins Wohnzimmer, dann schließt er die Haustür sorgfältig ab. Vielleicht wird er noch einmal wiederkommen. Vielleicht aber war dies auch ein letzter Abschied. Er will jetzt nicht darüber nachdenken.
Am liebsten wäre er einfach zurückgefahren, über diese merkwürdige Grenze, die seine Leute den antifaschistischen Schutzwall nennen, einfach nach Hause gefahren. In seine Welt, sein Leben. Aber er ist dem Vater noch etwas schuldig. Wenigstens dieses eine: ihn zur letzten Ruhe zu betten, wie man so sagt. Und er wird das auf sich nehmen. Auch wenn er jetzt noch nicht recht weiß, wie das geschehen soll – hier in dieser anderen Welt.