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3. Kapitel
ОглавлениеWas Ulrich bislang keinem Menschen verraten hatte: Die ganzen vier Jahre, die er an der Westfront verbrachte, hatte er ein Tagebuch geführt. Allerdings trifft dieser Begriff nicht ganz: Es gab keine durchgehenden, täglichen Eintragungen, das verbot schon die jeweilige militärische Situation – aber in den Zeiten relativer Ruhe an der Front hatte er immer wieder zu dem abgeschabten Heft gegriffen, um nicht nur Geschehnisse, skurrile oder tragische Erlebnisse zu notieren, sondern auch allerlei Reflexionen, Gedanken über Krieg und Frieden, eine gerechtere Ordnung der Gesellschaft, über den Menschen, seine Leidenschaften, Fehler und Irrtümer, seine Wünsche und Fantasien. Das alles fand sich, wild vermischt, nur dem jeweiligen Augenblick geschuldet und seiner Stimmungslage, in diesen Schulheften, die er in versiegelten Päckchen nach und nach heimgeschickt hatte und die nun ungeöffnet in jenem barocken Schrank lagen. Er hatte sie auch nach der Heimkehr nicht angerührt, wusste er doch nicht, wozu sie ihm eigentlich dienen könnten.
Sagten wir, niemand wisse von dieser Marotte des jungen Offiziers? Nein, auch das wäre falsch: Es gab einen, der davon wusste, ja, der ihn mehrfach zum Schreiben ermuntert hatte, auch wenn ihm der Inhalt meist unbekannt blieb: Es war sein direkter Vorgesetzter, Hauptmann Merlin, nur wenig älter als er und einer der wenigen bürgerlichen Kompaniechefs im Heer des Reiches. Mit ihm verband den jungen Ulrich von Pendragon bald eine besondere Freundschaft, und sie beruhte auf dem gemeinsamen Interesse an der Ausdruckskraft der Sprache – nicht gerade verbreitet unter den übrigen Offizieren der Division.
Merlin hatte bereits einige Semester Slawistik studiert, ehe die Mobilmachung ihn vor ganz andere Herausforderungen stellte. Und er war froh, wenigstens einen Gleichgesinnten im Offizierskorps zu finden, in dem er auch sonst als Außenseiter galt: Sein Studienziel, seine bürgerliche Herkunft, und vor allem seine Abstammung trennten ihn von den Kameraden aus den deutschen Adelsfamilien mit ihrem meist generationenlangen Stammbaum.
Er war Sorbe, aufgewachsen als Sohn eines kleinen Industriellen in Bautzen, aber mit einer Mutter, die die alten slawischen Traditionen einschließlich ihrer Muttersprache bewahrte und an den Sohn weitergab, während der Vater alle Hinweise auf die Herkunft lieber verbarg und sich ganz als nationalliberaler deutscher Patriot gab, bis hin zur Änderung des Namens in die unverfängliche, eher deutsch klingende Fassung „Merlin“. Er hatte auch durch seine Beziehungen dafür gesorgt, dass der Sohn das Offizierspatent erhielt, was zwar laut kaiserlichem Erlaß jedem gutbürgerlichen jungen Mann möglich war, doch immer noch selten genug gewünscht und noch seltener zugebilligt wurde.
Bei einem nächtlichen Gespräch nach einem fehlgeschlagenen Sturm auf die feindlichen Linien, der die Kompanie stark dezimiert hatte, entdeckten die beiden eine Art Seelenverwandschaft, denn Ulrich hatte zu Hause in Platikow bislang zwar hier und da ein paar Verse geschrieben oder auch ein kleines Essay verfasst, aber alles wohlverwahrt und gut verschlossen in den Tiefen jenes Schrankes versteckt.
Die Enttäuschung über den gescheiterten Angriff, die Sorge um die Verwundeten, die bittere Notwendigkeit, die Angehörigen der Gefallenen zu benachrichtigen – das alles hatte Merlin seinem jungen Stellvertreter anvertraut und mit Freude bemerkt, dass dieser nicht nur ähnlich dachte, sondern auch manches von seinen Gedanken schriftlich niedergelegt hatte. Fortan war Literatur ein Gesprächsstoff, über den sie sich austauschten, und gelegentlich las der eine dem anderen auch einige eigene Zeilen vor und bat um dessen Urteil.
Merlin hatte nach dem Abschied das lange unterbrochene Studium wieder aufgenommen, und zwar in Berlin, und das war letztlich auch der Grund, warum Ulrich sich für die dortige Universität entschieden hatte. Brieflich waren die beiden stets in Kontakt geblieben, nun könnten sie ihre Gespräche fortsetzen. Und Ulrich von Pendragon wollte sich zwar, wie mit dem Vater vereinbart, an der juristischen Fakultät einschreiben, aber er würde wohl so manche Vorlesung bei den Germanisten besuchen, das war sein fester Vorsatz.
Verwandtschaftliche Beziehungen hatten ihm eine Bleibe bei einer Berliner Zimmerwirtin beschafft, so dass er ohne große Sorgen in die Reichshauptstadt reisen konnte. Den Zugwechsel in Stettin nutzte er, dort das Herzogsschloß zu besichtigen. Auch Pommerns regierende Fürsten waren slawischer Abstammung gewesen, bis der letzte Bogislaw aus dem Geschlecht der Greifen starb. Dort ruht er nun in der Krypta neben seinen Vorfahren – auch wenn seine Erben, die Brandenburger und die Schweden, siebzehn Jahre gebraucht hatten, den aufgebahrten Herzog endlich zu bestatten.
Diese traurige Anekdote erschien Ulrich wie ein Gleichnis: Die europäischen Großmächte jener Zeit zerteilten dieses Land, Deutsche und Schweden tilgten auch die letzte Erinnerung an slawische Herrschaft. Doch was war in Pommern schon slawisch, was deutsch? Wieviele Ehefrauen aus deutschen Fürstenhäusern haben das Wendentum der Greifen fünf Jahrhunderte hindurch verwässert, und wie viele sich so national und deutsch gebärdender Junkerfamilien zählen Wenden zu ihren Vorfahren! Sollte also nicht auch Merlin das Recht haben, beides zu sein, Sorbe und Deutscher?
Der Freund empfing ihn auf dem Stettiner Bahnhof im Norden Berlins und begleitete ihn zu seiner neuen Bleibe. Sie lag günstig, Ulrich konnte die Friedrich-Wilhelm-Universität mit einem kürzeren Fußmarsch erreichen. Vor allem aber logierte er nicht weit entfernt von der kleinen Wohnung, die Merlin gemietet hatte. Es dauerte eine Weile, bis der junge von Pendragon zu einem echten Studenten mutierte. Es galt ja nicht nur, die Jahre des Krieges zu verdrängen, die ihn von den meisten zwar nur unwesentlich jüngeren, aber weitaus unreiferen Kommilitonen trennten; es war diese ungezwungene, von nur wenig Konventionen geprägte Lebensart, die er erst lernen musste.
Und der Freund hielt ihn davon ab, sich vorschnell einer jener Korporationen anzuschließen, denen gerade Studenten aus dem Adel wie selbstverständlich beitraten. Aber es reizte ihn auch nicht, mit einem Säbel auf dem Paukboden herumzufuchteln; er hatte diese Waffe in ganz anderen Zeiten geführt und dem Gegenüber nicht nur lächerliche Schmisse zugefügt. Und dennoch schienen ihm die Burschenschaften ein Hort des Hergebrachten, des von zu Hause Gewohnten zu sein. Nun gut, er könne sich ja immer noch entscheiden, sagte er sich. Vielleicht war es doch sinnvoll, zunächst dieses neue und ungewohnte Leben um ihn herum zu beobachten. Und vorerst war er ja auch nicht auf Protektion angewiesen, mit dem monatlichen Wechsel des Vaters blieb er finanziell unabhängig.
Bei aller Freude über das neugewonnene Wissen blieb Ulrich von Pendragon doch auf seine Weise der pommersche Junker und verabschiedete Offizier. Und so erhielt er am 12. März 1920 Besuch von einem pommerschen Nachbarn, der wie er an der Westfront gekämpft hatte, aber keinen Abschied genommen, sondern sich einem Freikorps angeschlossen hatte und nun südlich von Berlin Dienst tat. Ulrich ließ ihn eintreten und bot ihm ein Glas Wein an, das der andere jedoch ablehnte: „Ich kann zur Zeit keinen Alkohol gebrauchen, lieber Pendragon, die Umstände erfordern äußerste Nüchternheit.“ Und auf einen fragenden Blick hin fuhr er fort, indem er sich vorbeugte und die Stimme senkte: „Es stehen große Veränderungen bevor im Reich. Ich kann Ihnen da keine Einzelheiten verraten, aber wir brauchen alle Patrioten, und vor allem alle Frontoffiziere für unsere Sache.“
„Und um welche Sache handelt es sich?“ fragte Ulrich vorsichtig. „Sie kennen die Bedingungen der Sieger: Die Reichswehr wird praktisch zerschlagen, die Korps sollen aufgelöst werden. Das können wir Offiziere nicht hinnehmen. Aber diese Herren in der Reichregierung sind ja unfähig, den Alliierten die Stirn zu bieten. Heute Nacht werden wir in Berlin einmarschieren, Lüttwitz hat der Regierung ein Ultimatum gestellt und jetzt das Kommando übernommen. Wir sind sicher, dass die Kameraden von der Reichwehr sich uns anschließen werden. Diese unfähige Regierung wird hinweggefegt, ein neuer Reichskanzler steht schon bereit. Jetzt heißt es, zusammenzustehen, Herr Kamerad. Und ich bin sicher, Sie machen da ebenfalls mit.“ Er blickte sein Gegenüber herausfordernd an.
Plötzlich war die politische Gegenwart wieder ganz nahe, die Ulrich von Pendragon so lange aus seinem Leben herausgehalten hatte. Das alles klang einleuchtend, aber es war doch letztlich auch Meuterei. Nur dass diesmal nicht irgendwelche gemeinen Soldaten oder Matrosen sich auflehnten, sondern Offiziere an der Spitze standen. Und immerhin war General von Lüttwitz Oberbefehlshaber der Reichswehr hier in Berlin, ein verdienter Militär von altem, schlesischem Adel.
Doch Ulrich zögerte. Das alles kam zu überraschend, er wusste zu wenig von der politischen Lage, kannte die Forderungen und Ziele der Putschisten nicht – und ein Putsch war es doch allemal, was hier geplant war. Wenn er sich wenigstens erst einmal mit Merlin darüber beraten könnte! Und eines war sicher: Es würde nicht ohne Blutvergießen abgehen, Gustav Noske hatte auf Arbeiter schießen lassen, er würde auch auf rebellierende Truppen schießen – wenn es denn regierungstreue Soldaten geben wird.
Ulrich richtete sich auf und legte seinem Besucher die Hand auf die Schulter. „Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Zieselitz. Aber ich kann nicht in ein paar Stunden zum Kampf antreten, ohne Waffen, ohne Uniform. Ich bin kein wilder Revoluzzer wie diese Spartakus-Leute. Wir sind doch Offiziere, das muß man sehen können. Und was ich dazu brauche, liegt daheim in Platikow.“ Werner von Zieselitz war sichtlich enttäuscht, aber er konnte dem nichts entgegensetzen. Und außerdem drängte die Zeit, er hatte noch einige Besuche vor sich.
Er erhob sich: „Schon gut, Pendragon. Da kann ich eben so schnell auch nichts machen. Aber wir rechnen mit Ihnen, wenn die Sache sich hinziehen sollte.“ Er reichte dem anderen die Hand und griff nach seinem Mantel. „Wünschen Sie uns Glück, Herr Kamerad,“ sagte er zum Abschied. Ulrich blickte ihm nach, wie er die Stiege hinuntereilte. „Jetzt werden schon wieder Deutsche auf Deutsche schießen,“ murmelte er. „Und irgendwann werde ich auch dazwischen sein. Und ich weiß noch nicht einmal, auf welcher Seite.“
Der junge Baron sollte Recht behalten: Es gab Tote in den nächsten Tagen, mehr als genug. Aber dem Putsch war kein Erfolg beschieden. Es waren nicht die Kameraden von der Reichswehr, und es waren auch nicht die streikenden Arbeiter, die ihn zusammenbrechen ließen. Es waren die Beamten, diese unterwürfigen und doch selbstbewussten Männer mit ihren Ärmelschonern, die sich an das oberste Gesetz aller preußischen Beamten hielten: Zu sagen hat allein der Vorgesetzte. Und das war nicht irgend ein Hergelaufener, das war letztlich der Minister. Und der war zwar geflohen, aber er war und blieb der Vorgesetzte, Repräsentant des Staates, dem sie dienten, wie sie bislang dem Kaiser gedient hatten.
So war Ulrich von Pendragon froh, nicht in die Sache verwickelt worden zu sein. Und er zog daraus seine Lehren: Halte dich möglichst aus allem heraus, warte ab, wie sich die Dinge entwickeln. Was du selber denkst, behalte für dich. Dies sind nicht mehr die Zeiten, in denen alles überschaubar ist, seine Ordnung hat und auch behält. Er war in diesen Tagen zum Skeptiker geworden, und das war der erste Schritt zu einem Zyniker. Doch das alles war ihm nicht bewusst.