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2. Kapitel
ОглавлениеUlrich von Pendragon war 22 Jahre alt, als er aus diesem unseligen Krieg nach Platikow zurückkehrte. Er hatte ihn bis auf eine kleinere Verwundung, die ihn zwei Zehen am linken Fuß kosteten, körperlich unversehrt überstanden. Aber er war wie manche seiner Kameraden zutiefst verbittert über den Ausgang dieses vierjährigen Ringens, und er lastete ihn nicht der Heeresleitung, sondern den Machenschaften in Berlin an, die in der Ausrufung einer Republik gipfelten. Er empfand es als Schmach, wie ein geschlagener Krieger zurückkehren zu müssen, obwohl er mit seiner Kompanie die Stellung jahrelang gehalten hatte. Dass dies nicht ausreichen konnte für einen Sieg, dass das Land erschöpft war, die Ressourcen aufgebraucht, die Menschen kriegsmüde, diese Erkenntnis verschloß sich seinem Gehirn.
Er kannte die Schrecken des Trommelfeuers, das Stöhnen der Verwundeten, das ganze Leiden der Frontkämpfer; die Nöte einer hungernden Bevölkerung, die Sorgen der Mütter, die die Männer in den Fabriken ersetzen mussten und dennoch ihre Kinder nicht satt bekamen, die Wut der gemeinen Soldaten, die sich als Kanonenfutter für fremde Interessen sahen – das galt ihm nichts. So kehrte er zurück, wie er aufgebrochen war: als Herr auf seinen Gütern, als Angehöriger eines Standes, der ein Recht darauf hatte, dem Land seinen Stempel aufzudrücken.
Was er aber vorfand, war ein Gutsbetrieb, der sich zunehmend verschuldet hatte. Die Privilegien des Kaiserreichs waren nun ebenfalls verschwunden, der wirtschaftliche Konkurrenzkampf jedoch war ungewohnt. Und nach und nach hatten auch die Sozialisten Fuß gefasst bei den Landarbeitern und Deputanten. Nein, es war nicht mehr seine Welt, in der er jetzt notgedrungen leben musste. Und solange der Vater versuchte, das jahrhundertealte Erbe am Leben zu erhalten, war er in Platikow überflüssig. Nur die alten gesellschaftlichen Konventionen zu bedienen, Jagden zu veranstalten, Pferde zu züchten, bei den Soireen auf den umliegenden Gütern plaudernd auszuschauen nach einer standesgemäßen Braut – das alles widerstrebte ihm zutiefst. Und obwohl er alles Revolutionäre zutiefst verabscheute, war er doch selbst zu einem heimlichen Revolutionär geworden, genauso entwurzelt wie die vielen einfachen Soldaten, genauso enttäuscht vom Leben, genauso auf der Suche nach einer neuen Idee.
Ulrich von Pendragon hatte sich in die beiden großen Zimmer zurückgezogen, die am linken Ende des Hauptflügels ihm und seinem jüngeren Bruder als Schlafräume dienten. Der Bruder war zur Zeit auf einem der väterlichen Güter, um den praktischen Teil seiner Ausbildung zu absolvieren. So stand Ulrich allein am Fenster und schaute auf den Park hinaus, in dem die zwei früher mit ein paar Gleichaltrigen aus den höheren Ständen der Stadt Räuber und Gendarm gespielt hatten und in dem er später mit seiner braunen Stute Wilhelmina für die Parforcejagd trainiert hatte.
Die alten Bäume verfärbten ihr Laub wie eh und je, und in die beginnende Dämmerung hinein klang der erste Schrei eines Kauzes, der ihm als Kind oft einen Schrecken eingejagt hatte, weil ihre alte Kinderfrau so unheimliche Geschichten zu erzählen wusste von diesen nächtlichen Jägern. Und doch: Wie wunderbar geborgen hatte er sich damals fühlen können in einer überschaubaren Welt, in der jeder seinen Platz hatte und seine Aufgabe zu erfüllen, und der Vater hatte ihn gelehrt, den eigenen Platz selbstsicher, aber nie hochmütig zu bewahren, weil alle ihre Leute Anteil hatten am Ertrag der Ernte und darum auch Anrecht auf Versorgung und Schutz vor jeglicher Willkür, zu der mancher Verwalter immer noch neigte. Aber auch wenn der Baron seit langem nicht mehr Gerichtsherr war auf seinen Gütern – für Recht zu sorgen war ihm von Gott aufgetragen, und allein Gerechtigkeit erhöht ein Volk, wie geschrieben steht.
Jetzt aber saß der Vater manchen Tag über seinen Büchern, um zu rechnen, jetzt musste er mit Bankiers verhandeln und um Kredite feilschen, damit er die Zeit bis zur nächsten Ernte überbrücken konnte und den Leuten ihren Lohn auszahlen, der nun in vielen Dingen an die Stelle von Naturalien getreten war. Und dann waren da diese selbsternannten Arbeiterführer, die aus Stettin herüberkamen und überall die Leute aufwiegelten mit ihren abstrusen Ideen vom Klassenkampf und einer proletarischen Revolution. Bei den Alten ernteten sie meist nur ungläubiges Kopfschütteln mit ihren Reden, doch die Jungen, die aus dem Krieg Zurückgekehrten waren anfällig geworden für das, was sie Sozialismus nannten.
Ulrich von Pendragon musste lächeln: Es geschahen schon merkwürdige Dinge hier in der tiefsten Provinz. Da war er doch kürzlich in eine solche Versammlung hineingeraten, und etliche jüngere Gutsarbeiter ereiferten sich so sehr, dass sie dem Sohn des Gutsherrn gegenüber nahezu handgreiflich zu werden drohten. Doch dann hatte er sich als Leutnant vorgestellt, und prompt fielen sie zurück in militärischen Gehorsam: Jawoll, Herr Leutnant! Zu Befehl, Herr Leutnant! Das saß ihnen noch in den Knochen nach vier Jahren Krieg. Aber wie lange würde dieses Gefühl noch dauern?
Der junge Baron trat ins Zimmer zurück, sein Blick fiel auf den mächtigen Eichenschrank, der nicht nur die Kleider der beiden Brüder bewahrte, sondern tief genug war, um als Höhle zu dienen bei ihren Spielen. Er öffnete die Tür: Tatsächlich, da waren noch die Einstichlöcher ihrer selbstgebastelten Pfeile, mit denen sie auf eine handgemalte Scheibe an der Innenseite gezielt hatten. Wie oft hatten sie den Türflügel rasch zugeschlagen, wenn einer der Hausdiener ins Zimmer trat oder gar der Vater, um mit unschuldsvollem Gesichtsausdruck nach ihren Schulheften zu greifen.
Der jüngere Bruder war übrigens der geschicktere Schütze, seine Pfeile saßen meist näher an der Mitte. Heute hätte ich wohl mehr Übung, dachte Ulrich. Wie viele Male hatte er in all diesen vier Jahren den Abzug seines Revolvers durchgedrückt, da draußen im Graben, wenn der Feind zum Angriff antrat. Und wie oft mochte er getroffen haben, irgendeinen Franzosen oder Engländer, einen dieser armen Teufel, die für ihr Vaterland ins Feld gezogen waren genau wie er. Dabei hatten sie doch alle ihr Vaterland, Freund wie Feind, fest umgrenzt, unbestritten. Und dann hatte er sich gefragt: Wieso bin ich hier eigentlich in diesem fremden Land? Wem diene ich damit – meinem Kaiser, meinem Volk, meiner Heimat?
Ja, es waren revolutionäre Gedanken, die Ulrich von Pendragon, dieser pommersche Landedelmann, Glied einer uralten Adelsfamilie, auf den Gütern rings um Platikow ansässig seit Jahrhunderten, blaublütig und standesbewußt, plötzlich in den Sinn kamen angesichts des tausendfachen Sterbens um sich herum – Gedanken, die er sich in aller Eile wieder selbst verbot zu denken. Aber die sich nie ganz verdrängen ließen, die ihn umtrieben, belasteten, unsicher machten, und die er so manches Mal nur mit kräftigen Schlucken aus einer gewissen Flasche vertrieben hatte.
Und jetzt, da sein Vaterland diesen Krieg verloren gegeben hatte und alle Ordnung in Frage gestellt war, jetzt, da all dieses Kämpfen und Sterben vergeblich erschien – jetzt stellten sich diese Fragen drängender als je zuvor. Und eines war ihm plötzlich bewusst geworden: Hier in Platikow, in der pommerschen Provinz, würde er niemals eine Antwort finden. Die Kreise, in denen er verkehrte, verkehren musste, wussten sie nicht, weil sie schon die Fragen nicht verstanden. Plötzlich sah Ulrich es klar und deutlich: Er musste fort, dorthin, wo darüber geredet und gestritten wurde.
Der dumpfe Gong schallte durch die Flure, der wie stets zum Abendessen in den Speisesaal rief, wo sich unter den strengen Blicken der Vorfahren, die aus ihren geschnitzten, goldgefassten Rahmen auf die Lebenden herabblickten, die Familie und einige Auserwählte um den mächtigen Eichentisch versammelten, der schon Generationen der Pendragons zu ihren Mahlzeiten gedient hatte. Jeder hatte dort seinen angestammten Platz, und jeder erhielt sein Essen nach festgelegter Rangfolge, wie es die Ordnung gebot.
Geordnet war auch alles andere: Wer zu welcher Zeit das Wort ergreifen durfte, ehe das allgemeine und zwanglose Gespräch freigegeben wurde, wenn der letzte Gang mit einem letzten Trunk beschlossen worden war. Da konnte Ulrich dann endlich aussprechen, was er soeben beschlossen hatte: „Ich werde ein Studium beginnen.“ Erstaunen ringsum, fragende Blicke. „Es scheint mir wichtig, dass jemand in unserer Familie sich zum Juristen ausbilden lässt. Du weißt selbst, Vater, wie schwer es heute geworden ist, einen Betrieb wie den unseren ohne den Rat von Anwälten zu führen. Mein Bruder hat inzwischen beste Kenntnis vom Wirtschaften hier auf den Gütern, er kann das sicherlich weit besser als ich.“
Und als ob er den Einwand des Vaters erspürte, ergänzte Ulrich: „Ich weiß – die Leitung von Platikow steht dem Erstgeborenen zu. Aber was spricht dagegen, den Besitz gemeinsam zu verwalten – der eine mit den Kenntnissen des Juristen, der andere mit dem Wissen um die Landwirtschaft. Du kennst deine Söhne, Vater. Wir streiten uns zwar gelegentlich, aber wir reden miteinander, und wir hören auch aufeinander, wenn es um die besseren Argumente geht. Doch noch bist du hier Herr auf Platikow, und das hoffentlich noch recht lange.“
Der Vater sah ihn aufmerksam an, und er musste sich eingestehen, dass er juristischen Rat schon oft genug hätte gebrauchen können. „Und wohin willst du gehen?“ „Ich sehe da eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Königsberg oder Berlin. Und ich wähle die letztere. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, wird es im Osten Gebietsveränderungen geben. Die Polen werden Zugang zur Ostsee erhalten, das melden alle Gazetten. Dann liegt Königsberg außerhalb des Reiches. Was nützt mir dann eine ehemals ruhmreiche Fakultät! Nein, ich bevorzuge Berlin. Und außerdem: In der Reichshauptstadt wird auch in Zukunft über Deutschland entschieden, hier kann man Verbindungen knüpfen, die auch uns in der Provinz zugute kommen. Und ich will nicht nur studieren. Wie auch immer das Reich aussehen wird, irgendwer muß es regieren.“
Der alte Baron lächelte: „Und das wirst du dann sein? Gut, auch Bismarck hat einmal als Landjunker angefangen. Aber das waren andere Zeiten.“ Ulrich lächelte zurück: „Erst einmal würde es mir reichen, ein Studium erfolgreich abzuschließen. Das ist Ziel genug für die nächste Jahre. – Du bist also einverstanden?“ Der Vater nickte. „Fast alle unserer Vorfahren dienten als Offiziere. Aber werden wir nach diesem Krieg noch eine Wehrmacht haben, noch Offiziere brauchen? Beamte aber brauchen wir immer, und bislang stellte der Adel auch die höchsten Staatsbeamten. Und das sind nun einmal vor allem Juristen. Nein, deine Pläne sind einsehbar. Ich werde dir nicht im Weg stehen.“ Und damit war alles entschieden.